Kuhn | Gehwegschäden | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Kuhn Gehwegschäden


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-627-02183-2
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-627-02183-2
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Thomas Frantz ist Schachboxer, Flaneur aus Instinkt, freier Journalist ohne Aufträge. Die Motivation, dem Leben noch eine feste Struktur abzuringen, ist begrenzt. Frantz lässt sich durchs Großstadtleben treiben, von den Kabbalisten zu schlaflosen Swingern, von der Demo der Prekarianer in die Wettbüros Neuköllns und den alten Westen, der wortwörtlich abkackt. Unbarmherzig kommentiert er, was er sieht: das Heer derer, die sich mit Diplom und Aushilfsjobs direkt in die internationalen Märkte hineinträumen und dabei in Streetart, Esoterik und Pecha-Kucha-Nächten einen Rest von Lebenssinn suchen. Er recherchiert die Geschichte der ehemaligen SED-Verwaltungszentrale, zuvor Hauptquartier der Hitlerjugend und davor Kaufhaus jüdischer Geschäftsleute, die von Londoner Heuschrecken mit großzügiger Ignoranz gegenüber den Grausamkeiten der Geschichte in einen Society-Club und Wellnesstempel umgebaut wird. Wie Berlin überhaupt zu einem gewaltigen Spielplatz mutiert ist und sich aufteilt in Zonen von Invitrokindern und verwahrlosten Jugendlichen. Frantz, der notorische Chronist, seziert mit wachsender Wut, was ihn tagtäglich an Lügen umgibt. Als schließlich die bezaubernde junge Doktorandin Sandra durch sein Leben fegt wie der Hurricane Katrina, könnte alles noch einmal anders werden. Mit brillanter fragmentarischer Ästhetik, in scharfsinnigen und grotesken Miniaturen beschreibt Gehwegschäden die schleichende, gewaltige Veränderung einer Gesellschaft, in der gradlinige Lebensgeschichten längst der Vergangenheit angehören. Mit literarischen Vorbildern wie Döblins Berlin Alexanderplatz und Musils Der Mann ohne Eigenschaften nimmt es dieses Buch mit einem Thema auf, das keine klassische Form mehr zulässt, und das evident wird in einer Stadt, in der die auf Gehwegschäden hinweisenden Schilder an jeder Ecke zur Normalität geworden sind: Es wird hier nichts mehr repariert, wir haben uns abgefunden.

Kuhn Gehwegschäden jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1. Der Intellectual Fight Club. Von Jesus hat Thomas Frantz gelernt: Der härteste Schlag ist nicht die Gerade, es ist der Haken »Achtung mal jetzt.« »Kommt mal alle her«, sagt der dicke Daniel. »Stellt euch auf und hört zu. Es gibt neun K.-o.-Schläge. Fangen wir oben an.« Der dicke Daniel grinst. »Der Schlag zur Schläfe«, sagt er. »Erschüttert den gesamten Schädel. Mit dem rechten oder mit dem linken Haken. Ohne Handschuh ausgeführt, ich sage das zur Vorsicht, mit voller Wucht, das heißt Einsatz des Körpergewichts und des Drehmoments aus der Hüfte – kann das tödlich sein. Vorausgesetzt, die Damen und Herren, wir treffen auch genau. Dazu braucht man gar nicht viel Kraft. Masse mal Geschwindigkeit? Na? Noch im Kopf? Friederike?« »Genau. Kraft.« Der dicke Daniel grinst. Jesus schüttelt den Kopf. Nicht das Schach bestimmt das Boxen, das Boxen bestimmt das Schach. Es geht um Kontrolle. Und um nichts anderes geht es hier. Das Adrenalin kontrollieren. Adrenalin schießt in den Kopf. Es sackt beim Boxen in die Beine. Du musst flüchten oder angreifen, auf dem Brett wie im Ring. Der Trick ist: das Adrenalin beim Schach zu kontrollieren. Das ist Schachboxen. »Zweitens. Die Kinnspitze. Die Gerade zum Kinn. Klar. Haben wir reichlich geübt. Der Klassiker unter den K.-o.-Punkten.« Der dicke Daniel nimmt sich Friederike vor. Er demonstriert den Schlag zu ihrer Kinnspitze in Zeitlupe. Jesus verfolgt seine Bewegungen mit skeptisch großen Augen. Es ist dem kleinen Kubaner anzusehen, dass er anderer Meinung ist. In einem Schachbox-Kampf treten zwei Sportler abwechselnd im Schach und im Boxen gegeneinander an, bis durch eine Entscheidung in einer der beiden Disziplinen ein Sieger feststeht. Begonnen wird mit einer Schachrunde. Ein Kampf geht über elf Runden, sechs Runden Schach und fünf Runden Boxen. Eine Schachrunde dauert vier Minuten, die Boxrunde drei Minuten. Zwischen den Runden liegt eine Pause von einer Minute. Der dicke Daniel stellt Friederike zurück in die Reihe. »Drittens: der Kehlkopf. Wenn man da eine draufkriegt, sehr schmerzhaft. Die Luft bleibt weg, der Kehlkopf schwillt an. Zum Kotzen. Das tut tagelang weh, man ist am Husten, am Würgen, kann kaum schlucken. Scheußlich.« Der dicke Daniel macht eine Leichenbittermiene. Jesus will etwas sagen, aber der dicke Daniel würgt ihn mit einer Handbewegung ab. Jesus stellt sich an ein Wandpolster. Er ist beleidigt. Die jeweilige Schachrunde hat keinen Einfluss auf die nächste Boxrunde. Die Boxrunde hat einen sehr direkten Einfluss auf die nächste Schachrunde. Nach drei Minuten im Ring ist der Körper auf achttausend Umdrehungen. Die Muskeln sind derart übersäuert, dass man kaum noch die Arme heben kann. Man nennt diesen Zustand blau. Das Gehirn hat Erschütterungen mit einer Gewalt zwischen 150 und 320 Kilogramm oder einer Geschwindigkeit von 180 bis 340 Stundenkilometern ausgehalten. Das entspricht dem Gewicht eines Ochsen oder einem Tornado der Stufe drei. Gleichzeitig produziert das Nebennierenmark Adrenalin mit dem Ehrgeiz eines Dampfstrahlers, weil es denkt, es wird abgeschlachtet. Es fällt schwer, sich in diesem Zustand auf etwas von der Größe eines Krippenjesus auf einem irritierenden Muster zu konzentrieren. »Viertens: die Halsschlagader. Seht ihr? Hier?« Der dicke Daniel haut sich selbst an den Hals. Jesus beginnt seinen Tanz am Wandpolster mit leichten Schritten. Ein Schachboxkampf endet durch Schachmatt, K.o., Ablauf der Bedenkzeit, Disqualifikation oder Aufgabe. Endet das Schachspiel remis, entscheidet die Punktwertung im Boxen. Endet auch der Boxkampf unentschieden, gewinnt der Kämpfer mit den schwarzen Figuren. Wenn das Schachbrett nach der Boxrunde in den Ring getragen und dort aufgebaut wird, hat man seinen letzten Zug vergessen. Man schnappt nur noch nach Luft. Man hat alles vergessen. Manchmal sogar seinen Namen. Der dicke Daniel drückt sein Kinn auf die Brust und hält dabei seine Hornbrille mit dem Handschuh fest. Jesus kontert abseits mit leichten Schlägen. Jab, Gerade, links, rechts, Aufwärtshaken. »Ra-ra-ra-ra!« »Also. Warum halten wir Boxer den Kopf immer tief? So? Und niemals hoch?« Er klingt wie Donald Duck. »Damit man uns nicht am Kehlkopf oder an der Halsschlagader trifft!« Der dicke Daniel nimmt den Kopf hoch und klingt wieder normal. »Immer darauf achten. Niemals den Kopf hochnehmen, ich weiß, das ist ein natürlicher Reflex, ich will dem Schlag ja ausweichen, von ihm weggehen, aber aufpassen. Immer schön den Kopf runter, bitte, fast bis auf die Brust. Übt das!« »Ra-ra-ra-bamm! Y Bap!« Jesus’ Adern treten auf seinem kahlen Kopf hervor, seine Haut glänzt. Der kleine muskulöse Körper ist zum Platzen gespannt. Seine Bewegungen sind die eines Salsatänzers. Es geht nicht um Fitness. Es geht nicht um einen Body, mit dem man aussieht wie aus der Deodorantwerbung. Ziel des Schachboxens ist nicht das Sixpack auf dem Cover von Men’s Health. Das ist eine Zeitschrift für Idioten, die noch in Ronald Reagans Supi-Yuppie-Zeitalter leben und glauben, durch Schönheit und Fitness Reichtum und Glück zu erlangen. Es geht nicht um Traumfrauen. Es geht nicht um den Mann fürs Leben oder stubenreine Wochenabschnittspartner. »Fünftens: der Schlag zur Herzspitze. Blitzschnell unter der Führungshand des Gegners weggetaucht, und Bamm! So!« Der dicke Daniel taucht blitzschnell unter einer imaginären gegnerischen Führungshand weg und feuert eine Rechte raus. »Darauf lauern so einige. Der Holyfield hat mal so eine kassiert. Die linke Führungshand kommt, man taucht mit dem Kopf seitlich oder darunter weg, so, und platziert die rechte Gerade parallel unter der Führhand des Gegners zur Herzspitze. Idealerweise ist das ein so genannter Mitschlag«, sagt der dicke Daniel. »Das heißt, die Rechte schnellt im selben Moment los wie die Linke des Gegners. Ich hab selbst mal einen K.o. zur Herzspitze bekommen. Da bleibt das Herz für kurze Zeit stehen, es kommt kein Blut mehr im Kopf an, man steht da und weiß gar nicht, wie einem geschieht …« Der dicke Daniel streckt die linke Führungshand vor. Er wendet den Kopf zur Seite, stoppt die Bewegung, verdreht die Augen hinter den Brillenrändern und knickt in den Knien ein. Er verharrt in dieser dümmlichen Position, bis alle außer Jesus gelacht haben. »… bevor man zusammensackt. Das Dumme dabei ist, wenn man Pech hat, kassiert man noch zwei, drei Dinger zum Kopf, bevor’s Richtung Ringboden geht. Gut. Sechs. Der Solarplexus. Klar, kennt ihr alle. Jeder schon mal eine ins Dreieck gekriegt, im Kindergarten, in der Schule, beim Fußballspielen. Das ist hier der rechte oder linke Aufwärtshaken, oder auch ’ne abgetauchte Gerade. Bupp – Luft weg. ’ne ziemliche Zeit. Reicht sogar für eine Ohnmacht.« Es geht um Kontrolle. Das Adrenalin kontrollieren. Das kann sehr hilfreich sein. Wenn schon am Morgen Gewitterstürme von Adrenalin über der Matratze dräuen, ist die Kontrolle des Stresshormons durchaus von Nutzen. Wenn Panik wie ein Psychopath mit laufender Kettensäge hinter der Badezimmertür lauert, ist es gut, die Reduktion von Adrenalin zu üben. Angst, Versagen, Kündigung im Urin? Runterschrauben. Schulden, Dispo, Rechnungen im Spiegel? Runterschrauben. Gänsehaut, Gefäßverengung, Schweißausbruch, Erweiterung der Bronchien am Frühstückstisch? Runterschrauben. Endpleite und Vollstreckung im Kaffeesatz? Herzfrequenz und Blutdruck senken. Langsam atmen. Schachboxen ist eine Philosophie. Nicht im Sinne von Leben. Im Sinne von Überleben. Der dicke Daniel verdreht die Augen und grinst wieder. Wie ein General läuft er in der Boxhalle auf und ab und inspiziert seine Leute. Sie stehen kerzengerade. Jesus hat sich in sein Wandpolster verbissen. Wie ein irrer Derwisch tanzt er davor herum und drischt auf die weiß darauf markierten Trefferflächen ein. »RA-RA-RA-DA-BAB! Eh? RAMMBAMMBA! DABDAB! He!« Daniel wirft einen missbilligenden Blick auf seinen Co-Trainer am Wandpolster. In atemberaubend schneller Folge klatschen die Hände des alten Kubaners auf. Er keucht und schreit. Seine dunklen Augen funkeln. »RA-RA-RAB-DAB-DAB!« »Gut. Sieben? Wer weiß es?« Thomas Frantz meldet sich. »Ja?« Die Leber. »Richtig.« Der dicke Daniel verschränkt die Arme hinter dem Rücken. »Der Leberhaken. Die Spezialität des Gentlemanboxers wie auch unseres Weltmeisters. Auch die kurze Rippe genannt.« »RA-RA-RA-RA-RA-RA …« Jesus schlägt die Nähmaschine: Füße und Hände bewegen sich im selben Staccato, als wolle er gleichzeitig eine Rinderhälfte weich klopfen und eine Treppe hinaufrennen. Der dicke Daniel versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Er schreitet die Reihe der Schachboxer mit vorgebeugtem Oberkörper ab. »Nein, nicht da, Friederike.« »DAB! Y DAB-DAB! YAB!« Der dicke Daniel bleibt stehen und wippt auf den Zehenspitzen. »Die Leber liegt rechts. Also mit der Linken. Du haust einen kurzen Haken mit der Linken. So! Siehst du? Schön trocken. Im Eifer des Gefechts eine ganz fiese Nummer.« Der dicke Daniel wiederholt die Demonstration des Leberhakens. Er tänzelt seiner enormen Masse zum Trotz ausgenommen leichtfüßig einen Halbkreis und jabbt. Selbst Jesus unterbricht für einen Moment seine Schläge und wirft einen anerkennenden Blick auf den ersten...


Helmut Kuhn, geboren 1962, studierte Geschichte und Publizistik in Berlin und Paris. Er arbeitete bei der deutschjüdischen Zeitschrift Aufbau in New York und lebt heute als freier Journalist und Autor in Berlin. Helmut Kuhn schreibt u.a. für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Neue Zürcher Zeitung, Stern, Focus und mare. 2002 erschien sein vielbeachtetes Romandebüt Nordstern. Als Co-Autor verfasste er zusammen mit Murat Kurnaz Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo (2007), über den John Le Carré schrieb: "Der mitfühlendste, ehrlichste und würdevollste Bericht über die Schande Guantanamo, den es je gegeben hat."



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.