E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: E-Book-Edition ITALIEN
Lakhous Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8031-4145-3
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: E-Book-Edition ITALIEN
ISBN: 978-3-8031-4145-3
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mord an der Piazza Vittorio! Ein Verbrechen soll aufgeklärt werden, aber vor allem entfaltet sich zwischen den Marktständen und in den Treppenhäusern der Palazzi ein vielstimmiges Portrait des römischen Lebens: Im Aufzug eines Wohnhauses an der Piazza Vittorio in Rom wird ein junger Italiener mit dem Spitznamen Il Gladiatore, den alle Hausbewohner unsympathisch fanden, tot aufgefunden. Amedeo (eigentlich Ahmed), den alle für einen Italiener halten und sympathisch finden, wird offiziell verdächtigt, der Mörder zu sein, weil er seither verschwunden ist. Nun darf jeder Hausbewohner "die Wahrheit" aus seiner Sicht erzählen: ein Koch aus dem Iran, eine neapolitanische Hausmeisterin, ein holländischer Filmstudent, eine peruanische Altenpflegerin. Sogar der abwesende Amedeo kommt zu Wort und kommentiert die Weltsicht seiner Mitbewohner - das Ganze gerät unversehens zur commedia all'italiana! Ein Buch über Rom, über die italienische Gesellschaft, ihre Bürokratie und ihren Erfindungsreichtum, über kulturelle Vorurteile, Missverständnisse und Freundschaften. Geschrieben von einem jungen Autor, der den Leser mit ironisch-leichtem Ton in den Bann zieht.
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Erster Wolfsgesang
Mittwoch, 5. März, 22.45 Uhr Heute Morgen rief mich Signor Benardi, der Eigentümer des Restaurants »Capri« an der Piazza Navona, an, wo Parviz als Hilfskoch arbeitet. Er sagte, dass Parviz nicht das tue, was man von ihm verlange, weil er kein Italienisch verstehe und nicht zwischen Topf und Pfanne, Zucchini und Karotten, Basilikum und Petersilie unterscheiden könne. Nach langem Lamentieren bot er Parviz an, er solle sich überlegen, ob er gehen oder Teller waschen wolle. Er wählte Letzteres. Dienstag, 19. März, 23.49 Uhr Signor Benardi rief nochmals an, um mir zu sagen, dass er Parviz leider entlassen musste, weil er während der Arbeit seinen Mund nicht vom Hals der Weinflasche bekäme. Er habe ihn mehrfach zurechtgewiesen, damit aber keinerlei Erfolg gehabt. Armer Parviz. Er ist davon überzeugt, dass die vielen Entlassungen seiner Abneigung gegen Pizza geschuldet seien und nicht seinem dürftigen Italienisch oder der Tatsache, dass er während der Arbeit trinkt. Das Problem ist jetzt, dass Parviz arbeitslos ist, dass also seine Traurigkeit noch größer wird und er dann das Doppelte trinkt. Wenn ich morgen auf dem Nachhauseweg über die Piazza Santa Maria Maggiore gehe, werde ich ihn wie üblich weinend und trinkend am Brunnen vorfinden. Da braucht es dann wieder ein persisches Abendessen, um ihn aus seinem Trübsinn zu reißen. Ich darf nicht vergessen, Stefania zu bitten, morgen Abend ein paar Freunde zum Essen einzuladen, damit Parviz seine Lieblingsgerichte kochen kann. Samstag, 24. Juni, 23.57 Uhr Ich bin dicker geworden. Sieht so aus, als habe Parviz Recht, wenn er sagt: »Du bist ein ganz spezieller Drogenabhängiger, deine Droge heißt Pizza!« Mir ist meine ungeheure Lust auf Pizza erst neulich bewusst geworden. Pizza ist zweifelsohne mein Lieblingsessen, da gibt’s kein Vertun. Sie ist mir quasi ins Blut übergegangen, und so bin ich von Pizza betrunken und nicht vom Wein. Binnen kurzem werde ich gänzlich zu Teig und dann selbst eine Pizza werden. Donnerstag, 3. November, 22.15 Uhr Parviz irrt nicht, wenn er sagt, dass jeder einen Ort hat, an dem er zur Ruhe kommt. Man muss ihn nur in der Küche sehen. Er ähnelt einem König in seinem Reich, weil er innerhalb weniger Sekunden seine Ruhe und Gelassenheit wiederfindet. Dann ist mir, als sähe ich Shahrayar vor mir, den Sultan aus Tausendundeine Nacht, glücklich und zufrieden, weil er einer Erzählung von Sheherazade gelauscht hat. Das Badezimmer ist der einzige Platz, der uns vollkommenen Frieden und kostbare Momente des Alleinseins beschert. Nicht umsonst wird es bei uns Ruheraum genannt. In diesem kleinen Bad finde ich meinen Frieden. Das ist mein Nest. Und diese weiße Schüssel, auf der ich mich niederlasse, um mich zu erleichtern, ist mein Thron. Samstag, 3. Juli, 23.04 Uhr Ich habe des Öfteren versucht, Parviz davon zu überzeugen, dass er die Geheimnisse der italienischen Küche erkunden soll, aber er hat das abgelehnt. Diese Frage öffnet das Feld für so viele neue Probleme, die weit über den Bereich der Gastronomie hinausreichen. Ich glaube, dass Parviz fürchtet, die iranische Küche zu vergessen, wenn er sich der italienischen widmet. Das ist die einzige Erklärung für seinen Pizzahass im Speziellen und seinen Hass auf Teigwaren im Allgemeinen. Auch ein arabisches Sprichwort besagt ja, dass zwei scharfe Schwerter nicht in eine Scheide gehen. Parviz ist wohl davon überzeugt, dass es unmöglich sei, beide friedlich nebeneinander existieren zu lassen. Für ihn ist die iranische Küche mit ihren Gewürzen und Kräutern das, was von seinem früheren Leben geblieben ist. Besser gesagt, ist sie ihm alles in einem: sein früheres Leben, sein Heimweh und der Geruch seiner Lieben. Diese Küche ist das Band, das ihn mit Shiraz verbindet, das er nie wirklich verlassen hat. Parviz ist schon komisch: Eigentlich lebt er nicht in Rom, sondern in Shiraz. Warum also drängen wir ihn, die italienische Sprache und italienisch kochen zu lernen? Sprechen die Leute in Shiraz vielleicht italienisch? Isst man in Shiraz vielleicht Pizza, Spaghetti, Fettuccine, Lasagne, Ravioli, Tortellini und Auberginenauflauf? Auuuuuuuuu … Freitag, 14. April, 23.36 Uhr Heute habe ich geweint! Ich traute meinen Augen kaum, und die Tränen flossen, ohne dass ich es bemerkt hätte. Ich war nicht darauf gefasst, Parviz in diesem Zustand vorzufinden. Am Telefon war die Sozialarbeiterin nicht ins Detail gegangen. Sie hatte mir nur gesagt: »Parviz geht es schlecht. Kommen Sie, bevor es zu spät ist.« Ich dachte so bei mir, dass er womöglich mehr als sonst getrunken hatte. Ich fuhr in das Flüchtlingsheim und drängte mich zwischen die Polizisten und Krankenpfleger. Als ich ihn mit dem zugenähten Mund sah, spürte ich ein schreckliches Beben in jedem Teil meines Körpers. Ich war unfähig zu sprechen, nahm seine Hand und umarmte ihn fest. Oh, mein Gott! Wo kommt nur all die Traurigkeit her! Und was bedeutet es zu schweigen? Soll man überhaupt reden? Gibt es Möglichkeiten, die Wahrheit zu sagen, ohne die Lippen zu bewegen? Sie haben Parviz gesagt, dass die Geschichte, die er über seine Flucht aus dem Iran erzählt hatte, erfunden sei, dass es sich bei ihm um keine politische Angelegenheit handele, sondern eher um sein Küchenlatein. Darum beschieden sie ihm: »Deinem Gesuch wurde nicht stattgegeben.« Sie haben ihm nicht geglaubt, dass er aus Shiraz geflohen ist, nachdem die Revolutionswächter regierungskritische Flugblätter der Volksmudschaheddin in seinem Restaurant gefunden hatten. Es stimmt schon, dass Parviz kein militanter Politaktivist ist und keinerlei Kontakt zu entsprechenden Gruppierungen hat. Aber sein Leben war in Gefahr. Er floh in einer trostlosen Nacht, ohne seine Kleinen und seine Frau zum Abschied küssen zu können. Und die Zeit reichte auch nicht mehr, seinem geliebten Shiraz Lebewohl zu sagen. Aus diesem Elendsquartier, in dem es so stinkt, dass es einem den Atem raubt, schreie ich meine Fragen heraus: Wer ist im Besitz der Wahrheit? Und überhaupt: Was ist denn Wahrheit? Sagt man Wahrheit mit Worten? Parviz hat seine Wahrheit mit zugenähtem Mund gesagt, er hat durch sein Schweigen gesprochen! Heute ist meine Abneigung gegen die Wahrheit gewachsen. Und meine Liebe zum Wolfsgeheul wurde größer. Von diesem kleinen Loch aus wird mein Heulen für den Rest der Nacht zu hören sein, und mir ist klar, dass keiner zuhören wird. Diesem kleinen Aufnahmegerät vertraue ich mein anhaltendes Geheul an. Es abzuhören wird mich trösten. Auuuuuuu … Montag, 5. August, 22.49 Uhr Waffenstillstand zwischen Parviz und der Polizei! Die Streitereien wegen der Tauben auf der Piazza Santa Maria Maggiore haben sich ganz schön hingezogen. Leicht war es nicht, ihn dazu zu bewegen, seine Tauben nicht mehr zu füttern. Parviz liebt die Tauben, weil er glaubt, dass eines Tages eine Taube auf seiner Schulter landen und ihm einen Brief von seiner Frau und den Kindern bringen wird. Er wartet umso mehr auf die verheißene Botschaft, seit er die Geschichte über das Wunder gehört hat, das im Jahr 356 bei Santa Maria Maggiore geschehen ist, als es nämlich im August schneite. Während Parviz also auf all das wartet, hat die Stadt beschlossen, die Zahl der Tauben auf den großen Plätzen einzudämmen – mit der Begründung, dass es zu viele seien und sie auf die Bürger kacken würden, vor allem auf die Touristen. So beschloss man, das Füttern der Tauben auf öffentlichen Plätzen zu verbieten. Die Stadt ging sogar noch weiter und bietet jetzt kostenloses Vogelfutter an, das mit empfängnisverhütender Chemie versetzt ist. Kommissar Bettarini schlug ich vor, Parviz mit der Aufgabe zu betrauen, die Tauben mit dem städtischen Vogelfutter zu füttern. Nach langem Zögern war die Polizei einverstanden. Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten, auch Parviz davon zu überzeugen, aber selbstverständlich sagte ich ihm nichts über die Beschaffenheit des städtischen Futters. Manchmal ist es besser, die Wahrheit einfach zu ignorieren. So bin ich zum Beispiel auch damit einverstanden, wenn Ärzte ihren Patienten die wahre Natur ihrer Krankheit verschweigen. Von wieviel Dummheit muss ein Arzt getrieben sein, der seinem Patienten sagt, »du wirst in zwei Monaten sterben«? Seelische Krüppel sind das! Sollen sie die Leute doch noch zwei Monate ohne die Bürde ihres Todesdatums leben lassen! Was ist denn die Wahrheit – ein Mittel gegen unsere Leiden oder ein Gift, das langsam tötet? Die Antwort finde ich vielleicht, wenn ich mit den Wölfen heule. Auuuuuuuuuu … Samstag, 25. Februar, 23.07 Uhr Es ist mir nicht gelungen, Parviz davon zu überzeugen, dass Johan Van Marten kein Spion ist, sondern ein holländischer Student der...