Lang / Brühl | Frauen in psychischen Krisen helfen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 134 Seiten

Lang / Brühl Frauen in psychischen Krisen helfen

Besonderheiten und Empfehlungen für Therapie und Begleitung
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-043527-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Besonderheiten und Empfehlungen für Therapie und Begleitung

E-Book, Deutsch, 134 Seiten

ISBN: 978-3-17-043527-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Psychische Störungen treten bei Frauen und Männern zwar insgesamt gleich häufig auf, allerdings sind Frauen anderen Risiken, Belastungen und Erkrankungen ausgesetzt. Sie stehen vor großen Herausforderungen, die sie bewältigen müssen. Dazu zählen u. a. Bildungs- und Berufschancen, die schwerer zu realisieren sind, die Rolle als Partnerin und Mutter, die Frauen häufig stärker fordert als Männer, hormonelle Veränderungen durch Schwangerschaft, Geburt oder Menopause und auch das Auftreten von subtiler oder offensichtlicher häuslicher Gewalt. Ausgewiesene Expertinnen geben Ratschläge und Handlungsanweisungen, wie diese speziellen Gegebenheiten in einer Therapie besser berücksichtigt werden können und welche differenziellen Handlungsansätze Frauen in Krisen helfen können.

Prof. Dr. med. Undine Lang leitet die Klinik für Erwachsene und die Privatklinik der Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel (UPK). Sie lehrt dort als Ordinaria für das Fach Psychiatrie und Psychotherapie. Prof. Dr. med. Annette Brühl ist ordentliche Professorin an der Universität Basel und leitet den Schwerpunkt affektive Störungen in der Klinik für Erwachsene der Universitären Kliniken in Basel.
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Weitere Infos & Material


1 Psychische Krisen bei Frauen im Kontext der Mutterschaft


Fabienne Forster

1.1 Geburtenrate: Mutter sein zwischen Realität und Ideal


Obwohl die Geburtenrate in den westlichen Industrieländern seit 1960 stetig sinkt, wird die Mehrheit der Menschen Eltern. Insgesamt geben ca. 90?% der Menschen in Europa an, sich einmal Kinder zu wünschen (BMFSFJ, 2020). Drei von vier Menschen in Europa geben an, Eltern zu sein (Csonka et al., 2017; Eurostat, 2022). Gleichzeitig erkrankt jede zweite Person mindestens einmal im Leben an einer psychischen Erkrankung (GBD, 2019). Pro Jahr ist etwa ein Drittel der Bevölkerung von einer psychischen Störung betroffen (Peter, Tuch & Schuler, 2023). Davon sind auch Eltern betroffen. Studien gehen davon aus, dass etwa jedes dritte minderjährige Kind mit mindestens einem Elternteil zusammenlebt, das psychisch erkrankt ist (Christesen et al., 2022). Davon sind wiederum die meisten Frauen. Das bedeutet, dass die Anzahl Personen, die unter psychischen Krisen im Kontext der Mutterschaft leiden, sehr hoch ist und ein entsprechend hoher Unterstützungsbedarf besteht. Gleichzeitig bedeutet das auch ein großes Fenster der Möglichkeiten. Im Kontext der (gewünschten) Mutterschaft stehen die Chance für positive Veränderungen, die sich auch auf Kind und Partnerschaft auswirken, besonders gut.

Die meisten Menschen möchten einmal im Leben Eltern werden (Csonka et al., 2017). Die Gründe dafür können vielfältig sein, ein tiefer innerer Wunsch oder eine Sehnsucht nach einer eigenen Familie, Glück und Freude oder die Weitergabe eigener Gene und Werte. Für viele Menschen gehört Elternwerden zur Erfüllung eines großen Lebenstraumes, der seit der eigenen Kindheit besteht. Das gilt besonders häufig für Frauen, da ihrer Geschlechtsrolle häufig zugeschrieben wird, dass sie durch die Mutterrolle Erfüllung finden; oder sogar dafür geschaffen sind (Mierau, 2019).

Die Realität widerspricht diesem Ideal allerdings. Keine Mutter ist jederzeit glücklich und komplett erfüllt. Ein Zustand konstanten, kompletten Glücks ist für Menschen nicht realistisch, und entsprechend auch nicht für Mütter. Sorgen, Leiden und Ängste gehören zur menschlichen Existenz dazu. Aufgrund der idealisierten Vorstellung der Mutterschaft leiden viele Mütter unter den (häufig unerwarteten, tabuisierten) Herausforderungen der Mutterschaft (Mierau, 2019). Scham, Schuld und Selbstzweifel sind häufige Folgen. Das erleben im besonderen Maße Frauen, die psychische Störungen im Kontext der Elternschaft entwickeln – und das ist keine Minderheit. Der Übergang zur Elternschaft ist eine Hoch-Risikophase für die Entwicklung psychischer Störungen. Tatsächlich sind psychische Störungen die häufigste Geburtskomplikation (Berger, 2019).

Auch unabhängig von gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenbildern beschreiben viele Menschen den Kinderwunsch als tief in ihnen verankert. Entsprechend verspüren Frauen, die keine Kinder bekommen möchten, häufig gesellschaftlichen Druck (Höglund & Hildingsson, 2023). Manche vermuten sogar, mit ihnen stimme etwas nicht. Dem widerspricht die Forschung. Es finden sich kaum Unterschiede hinsichtlich Gesundheit und Wohlergehen zwischen Menschen mit und ohne Kinderwunsch, wenn dieser auf einer freien Entscheidung basiert (Deaton & Stone, 2014). Menschen, die ungewollt kinderlos sind, entwickeln hingegen häufiger psychische Symptome wie Ängste oder Depressionen (Hudepohl & Smith, 2022).

Erfüllt sich der Wunsch nach einem Kind, folgen aufregende Momente und rasch aufeinander folgende Veränderungen beim Übergang zur Elternschaft und der Phase des Aufwachsens des Kindes. Meistens erfolgen diese auf mehreren Ebenen: individuell, hormonell, körperlich, psychisch, sozial und gesellschaftlich. Entsprechend gibt es auf der Reise von Kinderwunsch und Empfängnis über Schwangerschaft, Geburt bis zum Wochenbett und dem ersten Jahr postpartum immer wieder Potential für psychische Krisen.

1.2 Psychische Störungen im Kontext der Mutterschaft


Psychische Störungen sind die häufigste Geburtskomplikation (Berger, 2019). Schätzungen gehen davon aus, dass 20?% der Frauen in der Peripartalzeit von psychischen Erkrankungen betroffen sind (Schofield et al., 2022). Es sind also mehr Frauen von psychischen als von physischen Komplikationen betroffen. Trotzdem wird in der Geburtshilfe selten über die psychische Gesundheit gesprochen. Psychische Störungen werden nicht gleich behandelt wie physische Erkrankungen. Nicht selten wird der Person eine Mitverantwortung zugeschrieben (du musst einfach positiv denken, du musst dich besser organisieren, du übertreibst, es geht doch allen so, das kommt schon wieder), und im Unterschied zu Menschen mit körperlichen Erkrankungen erhalten psychisch erkrankte weniger Mitgefühl, Unterstützungsangebote durch das Umfeld oder professioneller Hilfe (Lacey et al., 2015; Marshman et al., 2023; Yates & Gatsou, 2021). Stigmata führen dazu, dass psychische Erkrankungen häufig lange unentdeckt und unbehandelt bleiben und halten Frauen davon ab, sich frühzeitig professionelle Hilfe zu suchen (Corrigan & Nieweglowski, 2019; Sweetman et al. 2021). In der Schweiz wird jede sechste Frau nach der Geburt wegen psychischer Probleme behandelt, die Dunkelziffer für Frauen mit psychischen Störungen, die unbehandelt bleiben, ist deutlich höher (Berger, 2019). In der Allgemeinbevölkerung hat aktuell jede vierte Person eine behandlungsbedürftige psychische Störung, nur ein Viertel davon befindet sich in Behandlung (Watzke et al., 2015; Wittchen et al., 2011).

Die Anzahl unbehandelter psychischer Störungen dürfte bei Eltern nicht kleiner sein. Die Elternschaft zeichnet sich durch eine Vielzahl von Faktoren aus, welche die Entwicklung psychischer Störungen begünstigen. Dazu gehören hormonelle Veränderungen, körperliche Beschwerden, eine Zunahme an Stress durch neue Herausforderungen, eine Zunahme der Alltagsaufgaben, Rollenkonflikte, gesellschaftliche Erwartungen und Identitätsfindungsprozesse. Gleichzeitig reduzieren sich verfügbare Bewältigungsressourcen, welche dem durch die Veränderungen erzeugten Stress entgegenwirken könnten. So schlafen Eltern im ersten Jahr nach der Geburt meistens deutlich weniger, haben weniger Freizeit, Urlaub, weniger positive Paarinteraktionen sowie weniger beruflichen oder körperlichen Ausgleich (Forster, 2021). Und elterlicher Stress hängt wiederum mit schlechterem Erziehungsverhallten, mehr negativer Kommunikation und mehr depressiven Symptomen zusammen (Senn et al, 2023).

In allen Lebenssituationen, in denen Risikofaktoren zu- und Schutzfaktoren abnehmen, steigt das Risiko für psychische Erkrankungen. Das gilt auch für den Eintritt ins Berufsleben und die Pensionierung. Allerdings kommen beim Übergang zur Elternschaft besonders viele Herausforderungen zusammen, die mit gleichzeitig hohen (unrealistischen) gesellschaftlichen Erwartungen und unzureichender institutioneller Unterstützung verbunden sind. Entsprechend ist es nachvollziehbar, dass psychische Erkrankungen in der Peripartalzeit besonders häufig auftreten (Berger, 2019). Die häufigsten psychischen Erkrankungen in der Peripartalzeit sind Angststörungen und affektive Störungen, wie depressive Episoden oder bipolare Störungen. Darüber hinaus können sich vorbestehende Erkrankungen wie zum Beispiel eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder eine Persönlichkeitsstörung akzentuieren.

Es ist bekannt, dass psychische Erkrankungen bei Eltern weitreichende negative Effekte für die Betroffenen und ihr Umfeld haben. Im Durchschnitt erleben Kinder von betroffenen Eltern weniger Feinfühligkeit, eine weniger stabile Bindung zu den Eltern, mehr Konflikte und häufigere Trennungen (Iwanski et al., 2023; Dyba et al., 2017). Bei Eltern mit depressiven Erkrankungen erleben Kinder in den ersten Monaten weniger positive Interaktionen mit der Mutter. Sie erhalten weniger Feedback oder positive Verstärkung durch die Mutter und entwickeln in der Folge häufig Regulationsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten (Tainaka et al., 2022). Langzeitstudien zeigen 25 Jahre nach der Geburt Unterschiede zwischen Kindern, deren Mütter psychisch erkrankt versus gesund waren (McLaughlin et al., 2012). Erstere haben im Durchschnitt schlechtere Karrierechancen und eine schlechtere eigene psychische und physische Gesundheit (Pierce et al., 2020). Solche Unterschiede lassen sich teilweise durch eine genetische Vorbelastung erklären, aber auch durch Unterschiede, die bereits während der Schwangerschaft auftreten. So wirken sich psychische Erkrankungen während der Schwangerschaft auf das Stressregulationssystem des Ungeborenen aus (Khoury et al., 2023; Sethna et al., 2021). Auch besteht bei psychischen Störungen während der Schwangerschaft ein erhöhtes Risiko für körperliche Komplikationen wie Präeklampsie, Frühgeburten und traumatisch erlebte Geburten (Mulder et al. 2002; Runkle et al. 2023). Psychische Erkrankungen in der Peripartalzeit haben auch negative Effekte für die Betroffenen, i.?e. ein höheres Risiko für körperliche Erkrankungen, soziale Konflikte,...


Prof. Dr. med. Undine Lang leitet die Klinik für Erwachsene und die Privatklinik der Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel (UPK). Sie lehrt dort als Ordinaria für das Fach Psychiatrie und Psychotherapie.
Prof. Dr. med. Annette Brühl ist ordentliche Professorin an der Universität Basel und leitet den Schwerpunkt affektive Störungen in der Klinik für Erwachsene der Universitären Kliniken in Basel.



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