Lange | Magermilch und lange Strümpfe | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 218 Seiten

Lange Magermilch und lange Strümpfe


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8412-0534-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 218 Seiten

ISBN: 978-3-8412-0534-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Bestseller eines großen Kabarettisten.

Bernd-Lutz Lange erzählt von einer kargen, dennoch unbeschwerten Kindheit nach dem Krieg und in der jungen DDR. Fruchtschnee und Affenfett, Brausepulver und Muggefugg, Wattfraß und Kartoffelkäfer feiern in diesen Erinnerungen ihre fröhlichen Urständ.

Ein heiteres Zeitdokument: Wie der Autor selbst, so steckte auch die Republik in den Kinderschuhen, und nicht alle Gehversuche endeten glücklich. 



Bernd-Lutz Lange, geboren 1944 in Ebersbach/Sachsen, wuchs in Zwickau auf. Nach einer Gärtner- und Buchhändlerlehre studierte er an der Fachschule für Buchhändler in Leipzig. 1966 war er Gründungsmitglied des Kabaretts »academixer«, von 1988 bis 2004 trat er im Duo mit Gunter Böhnke auf, bis 2014 mit der Sängerin und Kabarettistin Katrin Weber. 2014 erhielt Bernd-Lutz Lange das Bundesverdienstkreuz. Seit 2019 ist er Ehrenbürger der Stadt Zwickau. Von Bernd-Lutz Lange liegen inzwischen zahlreiche Bücher vor. Im Aufbau Verlag sind »Dämmerschoppen«, »Magermilch und lange Strümpfe«, »Mauer, Jeans und Prager Frühling«, »Ratloser Übergang«, »Das Leben ist ein Purzelbaum«, »Davidstern und Weihnachtsbaum«, »Nischd wie hin. Unsere sächsischen Lieblingsorte« (zusammen mit Tom Pauls), »Das gabs früher nicht. Ein Auslaufmodell zieht Bilanz«, »David gegen Goliath. Erinnerungen an die Friedliche Revolution«, das er zusammen mit seinem Sohn Sascha Lange schrieb, und »Freie Spitzen. Politische Witze und Erinnerungen aus den Jahren des Ostblocks« sowie zahlreiche Hörbücher lieferbar.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Das Haus


Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, ist ein typischer Gründerzeitbau mit reich verzierten Erkern und Neorenaissance-Giebeln. Natursteinornamente schmückten die Fassade – bärtige und geflügelte Köpfe, Delphine und neobarocke Blumenranken.

Fast alle Häuser in unserem Viertel stammen aus jener Zeit. Es gibt in der Zwickauer Nordvorstadt architektonische Prunkstücke des Jugendstils und auch einige hochnoble Villen, die an italienische Palazzi erinnern. Ich lernte in der Schule nichts über Kunstgeschichte, aber wir wurden unauffällig ästhetisch geprägt, durch Formen und Materialien an diesen Gebäuden. Das war schon ein anderer Start ins Leben als das Aufwachsen in einer Plattensiedlung, wo jeder von jedem Fenster auf das gleiche Haus sieht. Während in der Leipziger Straße prächtige Gebäude standen, die das aufstrebende Bürgertum hatte errichten lassen, lagen in deren Schatten, in der dahinter verlaufenden Max-Pechstein-Straße, noch kleine, geduckte, einstöckige Häuschen mit dunklen oder roten Ziegeldächern. Sie verbreiteten eine nahezu dörfliche Atmosphäre.

Mein Großvater kaufte das vierstöckige Haus, in dem ich aufgewachsen bin, im Jahre 1909. Woher er das Geld hatte, ist mir ein Rätsel, denn in jenem Jahr wurde gerade sein sechstes Kind geboren. Aber man lebte damals bekanntermaßen sehr spartanisch. Später mußte er für das Haus Hypotheken aufnehmen, die ihn ein Leben lang belasteten.

Im Erdgeschoß eröffnete Opa Curt Albin Ehrler das Bier- und Speiselokal »Fürst Bismarck«. Neben dem Gastraum gab es ein Jagd-, Vereins- und Frühstückszimmer. Meine Mutter erzählte mir, daß im Lokal viele Studenten der in der Nähe befindlichen Ingenieurschule verkehrt wären. Auch schlagende Verbindungen ließen ihr »Silencium« und entsprechenden Gesang ertönen. Ich spielte als Kind mit dreifarbigen langen Schärpen, die sich die schmissigen Typen diagonal über die Schulter und ihren manchmal schon stark ausgeprägten Bauch schlangen. Eines Tages entdeckte ich mit meinem Freund beim Stöbern auf dem Boden sogar zwei Degen mit schwarz-weiß-rot gewölbtem Handschutz. Das war natürlich für uns abenteuerlustige Burschen genau das richtige. Wir fühlten uns als mutige Husaren und fochten den Gang entlang. Dabei störten uns als Junge Pioniere die kaiserlichen Farben gar nicht.

Die längsseitige Front des Hauses lag zur Leipziger Straße hin, der Ausfallstraße nach Norden; den Hausflur betrat man durch die Hölderlinstraße. Er war wahnsinnig hoch und der Boden teilweise mit Mosaikornamenten ausgelegt – das hatte schon etwas Griechisch-Römisches. Auch die Haustür war überdimensional. Erstaunlicherweise konnten aber sogar wir Kinder sie leicht öffnen. Die hohe Haustür spielte eine Rolle in einem kindlichen Alptraum, den ich haargenau mehrmals träumte und deshalb in Erinnerung behalten habe: Mir träumte, es klingelte. Ich lief zur Wohnungstür, aber niemand stand davor. Darum ging ich mit dem Haustürschlüssel vom ersten Stock nach unten. Es war Abend. Als ich die Tür öffnete, stand vor mir auf der unbeleuchteten Straße – der Teufel!

Vermutlich war er über das von mir so geliebte Kasperletheater in meine Träume und dadurch an die Haustür der Hölderlinstraße geraten. Ich drehte mich um und wollte losrennen, doch da passierte es: Ich kam kaum vom Fleck, war wie gelähmt, die Beine schienen bis obenhin mit Blei ausgegossen. Im Zeitlupentempo durchmaß ich den palastartigen Hausflur. Ein schrecklicher Traum, der aber jedes Mal gut endete: Der Teufel hat mich nie gekriegt! Immer, wenn er mich fast erreicht hatte, war der Traum aus, und der Beelzebub hatte das Nachsehen! Deshalb hat er es irgendwann aufgegeben, mich in meinen Träumen heimzusuchen.

Wenn wir im Sommer aus der glühenden Hitze kamen, spürten wir den Boden des Hausflurs fast schmerzhaft kalt an unseren nackten Fußsohlen und hielten uns dort nicht lange auf.

Am Ende des Flurs führte eine ebenso hohe Tür wie jene zur Straße in den Hof. Das war ein besonders trauriger Ort: kein Rasen, keine Blumenrabatten, keine Bäume und Sträucher, die gesamte Fläche war mit Steinen gepflastert. Nicht ein Grashalm war zu sehen, nur triste, dunkelgraue Mauern. Eine Mauer war besonders hoch, darauf blickten wir von unserer Küche. Ein Onkel von mir hatte das Geviert treffend charakterisiert: »Unser Hof ist zwar nicht schön, aber hoch!«

Nur eine bestimmte Zeit gab es einmal einen Baum in der Hölderlinstraße 14. Wieso nun doch? Ganz einfach: Das war jene Zeit, als im Haus ein Jakob Baum wohnte, ein deutscher Jude. Und keiner weiß mehr, woher er kam, wohin er ging oder wohin man ihn brachte …

Vom Hausflur führten ein paar Stufen zu einer Windfangtür. Wir nannten sie, wie wir es irgendwann aufgeschnappt hatten, »Winnfangtür« – was etwas chinesisch klang. Welcher Sachse spricht schon solch »d« am Ende eines Wortes hörbar aus! Ging man durch die Windfangtür, künstlerisch mit Bleiglas verschönt, lag rechts der Hintereingang der Gaststätte, den verschiedene Leute aus verschiedenen Gründen gern benutzten. Schließlich konnten sie damit ihren Gaststättenbesuch tarnen! Sie traten nicht, für alle sichtbar, an der belebten Ecke aus der Kneipentür, sondern aus der Haustür in der Hölderlinstraße und hätten genauso gut vom Zahnarzt Dr. Reinhardt oder vom Schneidermeister Schmalfuß kommen können!

Unvergeßlich ist mir das Geräusch, wenn die Brauerei Bier anlieferte. In den frühen fünfziger Jahren hielt tatsächlich noch ein Pferdegespann vor dem Haus. Die Pferde bekamen Hafersäcke umgebunden und mümmelten vor sich hin, schüttelten unwillig den Kopf, wenn sie das Heu nicht richtig zu fassen bekamen oder sich ein Halm zwischen ihren großen Pferdezähnen verklemmt hatte. Ich selbst hatte mit Pferden nicht viel im Sinn, weil mich ein Hochzeitskutschpferd vor unserer Kirche in den Oberarm gezwackt hatte.

Das, was die Pferde nach ihrer Verdauung dampfend auf die Straße fallen ließen, sammelten eifrig alle Besitzer von Kleingärten, denn sie sahen schon vor ihrem geistigen Auge, wie durch diesen natürlichen Dünger die Erdbeeren zu stattlicher Größe heranwüchsen. Ich kannte Kinder, die sich schrecklich schämten, wenn sie im Auftrag ihrer Eltern mit Kehrschaufel und Besen diesen »Färdeäbbln« hinterherjagen mußten.

Der Bierkutscher warf vor unserem Haus einen geflochtenen Hanfsack auf den Bürgersteig, und darauf polterten die schweren Bierfässer, die sein Mitfahrer zum Kellerfenster rollte. Im Rahmen waren zwei Holzstangen verankert. Der Wirt nahm das Faß vom Keller aus in Empfang, rollte es die Schräge herunter und stellte es mit einem Plumps auf den Boden. Die Geräusche dieser drei Anlieferungsetappen begleiteten mich durch die Kinderjahre.

Doch zurück zur Windfangtür, die ihre Arbeit wirklich ordentlich verrichtete. Hatte man sie hinter sich gelassen, ging es links in den Keller – für uns Kinder eine Mischung aus Unheimlichem, Angst und Abenteuer. Mein erster Blick in unserem Keller galt immer der Rattenfalle: Ich war froh, wenn ich darin keinen leblosen Nager erblickte.

Es gab ständig Ratten in unserem Keller, und ich polterte immer erst einmal mit der Schüssel an die Wand, wenn ich Kartoffeln holen sollte, um die huschenden langschwänzigen Tiere zu vertreiben. Mein Vater war ewig auf der Jagd nach ihnen, schließlich nagten sie an unseren Einkellerungskartoffeln, die im Herbst in Säcken angeliefert, im Hof ausgeschüttet und »gelesen« wurden. Das Wort schien mir in dem Zusammenhang sehr eigenartig, denn schließlich suchten wir sie nicht nach Schriftzeichen ab. »Kartoffeln lesen« bedeutete, die »Madschgardoffeln« auszusortieren und in den bereitstehenden Futterkübel zu werfen. Die »Guten« polterten in eine hölzerne Horde, die unten eine futterkrippenartige Öffnung besaß. Bei der Entnahme rutschten immer wieder Kartoffeln nach.

Wenn das Frühjahr nahte, war das auch im Keller zu spüren. Draußen schlugen die Bäume und unten im finsteren Loch die Kartoffeln aus. Da mußte beizeiten »Keimstop« gestreut werden, um nicht nur runzlige »Ärdäbbl« zu haben.

Unter dem Kellerfenster zur Straße lag der Kohlenhaufen. Die Hausbewohner standen immer dabei, wenn die Kohlentrimmer die Säcke durchs Fenster kippten, damit die Kerle nicht mogelten. Aber wenn sie wollten, mogelten sie doch und schütteten auf dem Wagen etwas mehr Dreck in den Sack. Wir merkten das dann gegen Ende des Winters. Vor den Kellerfenstern hingen dicke, schwarze Spinnwebgardinen.

Von draußen drangen die Geräusche der Straße herein, unverständliche Wortfetzen von den Vorübergehenden, von denen nur Hosenbeine, Rock- und Kleidersäume zu sehen waren.

Mein Vater versuchte so recht und schlecht, im Auftrag der Erbengemeinschaft, unser Haus in Schuß zu halten. Es war unmöglich. Die Mietsummen stammten aus den zwanziger Jahren – Pfennigbeträge im Verhältnis zu den Kosten. Jeder Nagel wurde von meinem Vater auf einem Ziegelstein wieder »gradegeglobbd«. Der Nachkriegsmangel war gravierend. Von der Nachkriegszeit entfernten wir uns zwar in der DDR mit den Jahren, vom Mangel nie!

Die desolaten Dachrinnen drohten das Haus zu ersäufen. Der arme Staat versuchte mit Ersatz- oder Kunststoffen die Löcher zu stopfen, die fehlendes Buntmetall erzeugte. Ein neues Wunderwort hieß beispielsweise Vinidur. Als der Winter kam, und das Wasser in den Abfallrohren fror, krachten sie in Vini-Dur und -Moll auseinander!

Einige Menschen aus unserem Haus sind mir besonders in Erinnerung geblieben: Im zweiten Stock wohnte die freundliche Frau Müller mit ihrer Mutter und drei Söhnen. Bewundernswert schaffte sie es, die drei Jungs,...



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