Grundlagen - Standards - Trends
E-Book, Deutsch, 636 Seiten, E-Book
Reihe: Haufe Fachbuch
ISBN: 978-3-648-15881-4
Verlag: Haufe
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Inhalte:
- Gesundheitswissenschaftlichen Grundlagen: Gesundheit, Krankheit, Arbeitsfähigkeit, Gesundheitsverhalten und -kompetenz; Verständnis BGM
- Strukturaufbau: BGM-Prozess, Bedarfsbestimmung, Institutionen und Akteure, Organisationsstruktur und -kultur
- Prozesse: Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung sowie der Personal- und Organisationsentwicklung
- Ergebnisse: Evaluation, Assessments, Verfahren und Methoden der Datenerhebung
- Zukunftsthemen: Agilität, New Work, Homeoffice, Arbeit 4.0, Wertehaltung, Generationsmanagement und Resilienz
Digitale Extras:
- Befragungen
- Checklisten
- Handlungsempfehlungen
- Best Practice-Beispiele
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
1 Theoretische Rahmenkonzepte im Kontext Gesundheit und Krankheit
Anja Liebrich In diesem Kapitel geht es um das Verständnis der für dieses Buch zentralen Begriffe Gesundheit, Krankheit und Arbeitsfähigkeit. Ein kurzer Einblick in die Konzepte der Salutogenese und des finnischen Arbeitsfähigkeitskonzeptes verdeutlichen die Kerngedanken eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements. 1.1 Vorbemerkung
kein einheitliches Begriffsverständnis Im Mittelpunkt des Betrieblichen Gesundheitsmanagements steht die Unterstützung und systematische Förderung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Diese sollen so lange und gesund wie möglich, bestenfalls mit Freude und Motivation die Tätigkeiten, die ihre Arbeit mit sich bringt, ausführen können. Dies scheint unumstritten. Allerdings existiert bis heute keine allgemein verbindliche Definition des Begriffs »Gesundheit« und so zeigt es sich, dass das Verständnis von »Gesundheit«, »Krankheit« und »Arbeitsfähigkeit« recht unterschiedlich sein kann. Vor allem in der Praxis sind diese Begriffe nicht klar umrissen. Häufig werden Fehlzeiten als Indikator für fehlende Gesundheit interpretiert und als Kennzahl zur Steuerung genutzt. Weitere Ansatzpunkte und hilfreiche Steuerungsgrößen, vor allem im Hinblick auf ein positives Verständnis des Begriffs Gesundheit, sind wenig verbreitet und bleiben eher diffus. Dies führt zu unterschiedlichen Interpretationen, aus denen unterschiedliche Ansatzpunkte, Prozesse und Interventionen im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements resultieren. Die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Konzeptionen lässt es jedoch zu, grundlegende Aspekte herauszuarbeiten, die die Basis für das aktuelle Verständnis von »Gesundheit« und »Krankheit« bilden (vgl. hierzu auch Ulich & Wülser, 2018, S. 33). Diese werden im Folgenden näher betrachtet. 1.2 Gesundheit und Krankheit – ein kurzer Blick auf sich wandelnde Konzepte
Gesundheitskonzeptionen unterliegen normativen Vorstellungen Der im Mittelpunkt dieses Bandes stehenden Begriffe der Gesundheit – und damit auch des scheinbaren Gegenpols »Krankheit« – ist vielschichtig. Auch wenn beides meist als »zum Leben dazugehörend« verstanden wird, zeigen sich Unterschiede im Verständnis. Dies drückt sich in Meinungen und Überzeugungen darüber aus, was nun genau »gesund bzw. krank sein« bedeutet, wann es möglich ist, tägliche Dinge zu verrichten, wann man arbeitsfähig ist und wann das Bett gehütet werden muss. Es sind die Ergebnisse von gesellschaftlichen Diskursen, medizinischem Wissen, politischen Positionen, sozialen Strukturen und ökonomischen Bedingungen, die sich in diesen normativen Vorstellungen manifestieren, die sie prägen und beeinflussen (Klotter, 1999). Um die unterschiedlichen Sichtweisen und Ansatzpunkte im betrieblichen Geschehen besser zu verstehen, ist ein kurzer Blick in unterschiedliche Ansätze der Gesundheitskonzeption hilfreich. Denn aus den unterschiedlichen Blickrichtungen von Gesundheit und Krankheit resultieren unterschiedliche Ansatzpunkte für Prävention und Gesundheitsförderung in der Praxis (Klotter, 1999). Diese wiederum führen zu unterschiedlichen Herangehensweisen und Implementierungen von Betrieblichen Gesundheitsmanagementsystemen und stellen Wissenschaft und Praxis vor verschiedene Herausforderungen. objektive und subjektive Gesundheitskonzepte Bei der Diskussion um die individuelle Verfasstheit stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien entschieden wird, wie es um den aktuellen Gesundheitszustand bestellt ist. Zum einen sind dies objektive Kriterien wie Mess- und Untersuchungswerte oder die Anzahl bekannter Diagnosen. Zum anderen wirken sich auch individuelle Überzeugungen und persönliche Sichtweisen, sogenannte »subjektive Theorien« oder »Laienkonzepte«, auf den Umgang mit der eigenen Verfasstheit aus. Sie beeinflussen die Entscheidungen, ob zur Arbeit gegangen wird oder ein Arztbesuch nötig ist, ob der Kurs zur Wirbelsäulengymnastik regelmäßig besucht oder die Hebehilfen verwendet werden. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Berücksichtigung dieser individuellen Laienkonzepte vor allem im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements von großer Bedeutung ist. Denn es zeigen sich positive Effekte auf die Umsetzung und Akzeptanz, wenn Angebote und Maßnahmen auf Überzeugungen und die Lebensumstände von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausgerichtet sind (Greiner, 1998). Neuere Gesundheitsmodelle beziehen objektive und subjektive Indikatoren (Ulich & Wülser, 1999) ein, um durch diese Kombination die Vorteile beider Sichtweisen zu nutzen. Dieser Gedanke findet sich auch im Konzept des subjektiven Wohlbefindens bzw. »Well-Beeings«, das immer mehr Berücksichtigung erfährt – auch in der betrieblichen Praxis. Die Weltgesundheitsorganisation stellte ihn bereits 1946 ins Zentrum ihrer Gesundheitskonzeption: »Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen« (WHO, 1946, S. 1). Diese weit verbreitete und häufig zitierte Definition wird nicht unkritisch und zweitweise auch als utopisch angesehen, trotzdem verdeutlicht sie einen der wichtigsten Ansatzpunkte betrieblicher Arbeit. Denn sie schließt die Lebensqualität in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht mit ein. Wie bedeutend diese Dimensionen sind, zeigt sich beispielsweise bei der Betrachtung unterschiedlicher Krankheitsbilder. Personen mit neurologischen Krankheitsbildern berichten nur in geringem Ausmaß über Schmerzen, sind aber sozial und psychisch in hohem Maße beeinträchtigt. Personen mit einer psychischen Erkrankung können starke Einschränkungen bei Vitalität und psychischer Funktionalität zeigen, aber in guter körperlicher Verfassung sein (Güthlin et al. 2020). biopsychosoziale Modell im Mittelpunkt Um das Ausmaß von gesundheitlichen Einschränkungen möglichst exakt zu erfassen, entwickelte die WHO die »Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit« (ICF) (DIMDI, 2005). Auch hier dient als Grundlage das biopsychosoziale Modell. Demgemäß ist jedes Gesundheitsproblem die Folge einer Wechselwirkung psychischer, physischer und sozialer Komponenten (vgl. Abb. 1). Abb. 1: Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF (in Anlehnung an DIMDI, 2005. S. 23) Die gesundheitliche Verfasstheit eines Menschen wird als eine Wechselwirkung zwischen Gesundheit und Kontextfaktoren verstanden. Kontextfaktoren beachten Vor allem in Bezug auf das Betriebliche Gesundheitsmanagement ist die Betrachtung der Kontextfaktoren wichtig, denn sie umfassen den gesamten Lebenshintergrund von Menschen und somit auch die Auswirkungen der Arbeitssituation auf die Gesundheit. Die Gestaltung der Verhältnisse, also von menschen- und gesundheitsgerechten Arbeitsbedingungen, ist dabei genauso von Bedeutung wie die Unterstützung der Verhaltensweisen einzelner Personen durch die Betriebliche Gesundheitsförderung. Gesundheit »geschieht nicht einfach so«. Sie wird positiv wie negativ beeinflusst. Gestaltung von Lebens- und Arbeitssituationen ist bedeutend Dem Aufbau und der Aufrechterhaltung der Gesundheit sowie der Gestaltung der Lebens- und Arbeitsumstände, die einen großen Einfluss besitzen, kommt eine aktive Rolle zu. Dies betont u. a. auch die sogenannte »Ottawa-Charta« (WHO, 1986). In ihr wird die zentrale Bedeutung der Gesundheitsförderung formuliert. Mit einem systematischen und ganzheitlichen Betrieblichen Gesundheitsmanagement wird diese Rolle in Unternehmen und Behörden wahrgenommen. 1.3 Das Konzept der Salutogenese
Großen Einfluss auf die aktuelle Gesundheitsforschung und -praxis besitzt nach wie vor das Salutogenesekonzept von Aaron Antonovsky (1979). In dessen Mittelpunkt steht die Frage nach der Entstehung von Gesundheit und damit nach Einflussfaktoren und Prozessen, die sie positiv beeinflussen, erhalten und fördern. Um das neue an dieser Sichtweise zu verdeutlichen, prägte Antonovsky einen neuen Begriff, der dem der Pathogenese, die die Entstehung von Krankheit fokussiert, entgegensteht: die Salutogenese – ein Kompositum, das aus Genesis (griechisch für Ursprung) und Saluto (lateinisch für Gesundheit) konzipiert ist (Antonovsky,1979). Gesundheits-Krankheits-Kontinuum Grundlage ist ein Verständnis der Gesundheit, das die Vorstellung in sich birgt, dass sich jede Person zu einem gegebenen Zeitpunkt auf einer bestimmten Position in einem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum befindet (Antonovsky, 1996). In jedem Menschen...