E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Langer They Are Everywhere
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7641-9365-2
Verlag: Ueberreuter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-7641-9365-2
Verlag: Ueberreuter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andreas Langer ist gelernter Journalist und arbeitete anderthalb Jahrzehnte lang als Lokalredakteur und Werbetexter. Mittlerweile begleitet er vormittags Schwabens ländliche Entwicklung in Wort und Bild, während er sich nachmittags, abends oder auch nachts Geschichten ausdenkt und von fantastischen Welten erzählt. Gemeinsam mit seiner Frau, drei Kindern und zwei dreifarbigen Katzen lebt er in einer kleinen Stadt am Westrand Bayerns. Für sein Kinderbuch »Schneekinder« wurde Andreas Langer mit dem Kranichsteiner Kinder- und Jugendliteraturstipendium ausgezeichnet.
Autoren/Hrsg.
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Home, sweet home
Hannah
Eigentlich mochte ich Überraschungen. Genau wie Gespräche und … Jungs. Doch wann immer zwei oder drei dieser Dinge zusammenkamen, war ich heillos überfordert.
Jedenfalls im sogenannten echten Leben. Im Metaverse war alles leichter. Dort merkte niemand, wie ich vor Aufregung rot wurde. Niemand sah die Schweißflecken unter meinen Achseln oder die kleinen Härchen, die meine Arme bevölkerten. Im Metaverse hatten alle mein virtuelles Ich vor sich und das war 24/7 selbstsicher und cool.
Doch blöderweise war mein virtuelles Ich im Augenblick offline und mein reales Alter Ego nicht in der Lage, Schweißflecken, rote Wangen und körperliche Makel geheim zu halten. Was umso fataler war, da ich mich auf einem Flughafenparkplatz in Columbus befand, wo ich die Tür eines Autos geöffnet hatte, in dem entgegen meiner Erwartung jemand saß. Ein Junge, das auch noch, und da er wach war und mich ansah, musste ich annehmen, dass er jeden Moment etwas sagen würde.
»Hey.« Da war es.
»Hey«, entgegnete ich und zwang mich, nicht auf meine Sneakers, sondern in seine Richtung zu schauen. Er war Afroamerikaner und sah schlank, aber sportlich aus, soweit ich das bei seiner weit geschnittenen Kleidung – Jeans und T-Shirt – auf die Schnelle beurteilen konnte. Seine Haare waren kraus und ziemlich kurz, sein Gesichtsausdruck ernst. Er lächelte nicht, weder mit dem Mund noch mit seinen großen braunen Augen.
»Ich bin Jarrett. Bist du das Mädchen aus Deutschland?«
Jarrett sprach schnell und nicht gerade deutlich, aber ich verstand ihn trotzdem. Im Metaverse unterhielt ich mich andauernd auf Englisch und mittlerweile fielen mir für viele Dinge erst englische Worte ein, ehe ich auf halbwegs passende deutsche kam. Deep eyes war das Erste, was mir zu Jarretts Augen in den Sinn kam, denn ich verlor mich beinahe in ihnen, so hypnotisch und gleichzeitig melancholisch war ihr Ausdruck.
Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich nicht auf Jarretts Frage geantwortet hatte und ihn regelrecht anstarrte. Ich nickte kurz (Wahnsinnsantwort, Hannah!), zerrte die Reisetasche von der Schulter und hielt sie beim Einsteigen wie ein Schutzschild vor mich. Am liebsten hätte ich sie auch noch wie einen Raumteiler hochkant gestellt, doch dann legte ich sie nur zwischen uns und zog die Autotür zu. Jarrett sah noch immer zu mir her, vermutlich weil er darauf wartete, dass auch ich mich vorstellte.
»Ich bin Hannah«, sagte ich und sprach meinen Namen englisch aus, während meine Gesichtsfarbe wahrscheinlich zu Stoppschildrot wechselte. Ich rang mir ein kurzes, peinliches Lächeln mit geschlossenem Mund ab, drehte mich weg und griff nach dem Anschnallgurt. Ich zog nur langsam daran, um den Moment hinauszuzögern, in dem ich ihn einrasten lassen und mich wieder in Jarretts Richtung drehen musste. Denn wenn auch das erledigt war, was dann?
Ein Teil von mir brannte darauf, zu erfahren, wer Jarrett war und woher er wusste, dass ich aus Deutschland kam. Aber ein anderer Teil von mir schmetterte diese Neugier nieder.
Pff, was soll schon dahinterstecken? Jarrett ist eben mit deiner amerikanischen Gastfamilie verwandt oder bekannt. Und nachdem er in Columbus Freunde getroffen oder irgendetwas erledigt hat, lassen ihn die Giddeys nun in ihrem selbstfahrenden Elektro-SUV mitfahren. Wahrscheinlich spontan, weshalb Jarrett von dir wusste, aber du nicht von ihm. Und das ist auch schon alles, mehr ist da nicht. Schnall dich an und danach widmest du dich am besten deiner Smartwatch. Stoppschildrot muss nicht das Ende sein, da geht noch mehr auf der Gesichtsfarbenskala, und das weißt du!
Wusste ich, leider. Rot war sozusagen meine Farbe und deshalb wollte ich meiner inneren Stimme gerade gehorchen, als ich die deutlich angenehmere Stimme des Bordcomputers vernahm.
»Vielen Dank fürs Anschnallen. Ich bringe Sie nun an das definierte Ziel«, verkündete die KI in akzentfreiem Englisch. »Die geschätzte Fahrzeit beträgt eine Stunde und 23 Minuten.« Kaum hörbar schaltete sich der Elektromotor ein und der SUV der Giddeys setzte zurück, um auszuparken. »Ihr Ziel liegt in Vinton County. Mit einer Bevölkerung von 12000 Menschen ist Vinton County das am dünnsten besiedelte County des Bundesstaats Ohio, in dem etwa elf Millionen Menschen leben. Mehr als ein Viertel davon hat deutschstämmige Vorfahren.«
So wie Lauren Giddey, dachte ich. Wenn mein Vater sich nicht vertat, war meine Familie über fünf oder sechs Ecken mit Lauren verwandt. Dass ich im selbstfahrenden SUV der Giddeys saß, lediglich durch meine Reisetasche von einem amerikanischen Jungen getrennt, lag jedoch nur zum Teil an meinem Familienstammbaum. Vor allem lag es an meinen Eltern, die in mir so etwas wie einen Zombie sahen. Was sie mir als Amerikaurlaub verkauften, war im Grunde nichts anderes als eine Entziehungskur.
Aber nicht mit mir. Durch die Kunstfasern der Reisetasche ertastete ich die Rettung meiner Ferien. Ich hatte meine Eltern ausgetrickst und mir im Duty-free-Shop am Flughafen dieselbe Virtual-Reality-Brille gekauft, die mein Vater daheim aus meiner Reisetasche geholt hatte. Wahrscheinlich würde ich die Brille nur heimlich benutzen können, aber immerhin. Das Metaverse würde mich nicht ganz verlieren.
»Möchten Sie mehr über Ohio erfahren?«, fragte die weibliche Stimme aus dem Lautsprecher.
Ich spürte Jarretts Blick. Ich schluckte, dann bejahte ich leise, obwohl ich an Fakten über Ohio so wenig Interesse hatte wie an einem Podcast über Ahnenforschung. Der SUV fuhr vom Parkplatz auf eine mehrspurige Straße und die KI erzählte von Ohios Geschichte, die mir zum einen Ohr hinein und zum anderen hinausging. Doch solange der Bordcomputer redete, musste ich nicht mit Jarrett reden.
Sein Blick ging über die Reisetasche (gelegt, nicht gestellt) zu meiner Hand. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich die Finger zur Faust geballt hatte und mit dem Daumen Kreise auf das Gelenk meines Zeigefingers malte: eine Marotte von mir, die ich nicht ablegen konnte und die sich immer dann zeigte, wenn ich keinen VR-Controller in der Hand hielt oder nervös war. Und Gott, ich war nervös!
Beschämt steckte ich die Hand unter die Reisetasche und machte unsichtbar für Jarrett mit meinen Daumenkreisen weiter.
»Ohio ist Teil des sogenannten Corn Belts des mittleren amerikanischen Westens, in dem lange Zeit hauptsächlich Mais angebaut wurde. Mittlerweile ist die landwirtschaftliche Produktion deutlich diversifizierter«, belehrte mich die KI und ein Blick durch die getönte Fensterscheibe des SUV zeigte, dass die landwirtschaftliche Produktion auch in den Großstädten angekommen war. Der Flughafen lag etwas außerhalb von Columbus, aber überall am Horizont schraubten sich Farmscraper in den dunstigen Mittagshimmel – vertikale Farmen, in denen auf unzähligen Etagen Gemüse für die Stadtbevölkerung angebaut wurde.
Da ich meinen Eltern noch eine Nachricht schreiben musste, aktivierte ich meine Smartwatch. Die Hologrammanzeige ploppte auf und auf meinem Unterarm erschien die Projektion einer Tastatur. Meine Finger flogen über die optischen Tasten, die auf meine blasse Haut und die dunklen Härchen projiziert waren. Wenn es nach meinen Eltern ging, sollte mir dieser zwangsverordnete USA-Urlaub helfen, allein in der Realität zurechtzukommen und selbstständiger zu werden. Es passte nur nicht so recht dazu, dass ich meinen Eltern Nachrichten schreiben sollte, sobald ich sicher gelandet war (was ich getan hatte), sobald ich im Auto saß (was ich in diesem Augenblick erledigte) und dann noch einmal, wenn ich bei den Giddeys angekommen war. Eine Stunde und 16 Minuten veranschlagte der Bordcomputer noch dafür und es sah ganz danach aus, als würden es 76 Minuten des Schweigens werden, denn Jarrett hatte sich abgewandt und sah, mit Kopfhörern über den Ohren, aus dem getönten Fenster.
Ich war erleichtert und gleichzeitig enttäuscht. Ich hatte vermeiden wollen, dass Jarrett noch einmal das Gespräch mit mir suchte, insgeheim jedoch hatte ich mir genau das gewünscht. Da war etwas in seinem Blick gewesen, das mich fasziniert hatte. Und davon abgesehen – wäre es nicht nett gewesen, zur Abwechslung mal im realen Leben ein paar Worte mit einem Jungen zu wechseln? Nett und obendrein gut fürs Ego? Wenn ich ehrlich war: ja, und zwar so was von ja. Aber natürlich war es nicht dazu gekommen, denn ich hatte wieder einmal sensationell versagt.
Mit einem Tastendruck deaktivierte ich die Smartwatch und sofort verschwanden die Hologrammanzeige und die auf meinen Unterarm projizierte Tastatur. Ich öffnete den Reißverschluss der Reisetasche, steckte die Hand hinein und strich über das Gehäuse meiner neuen Brille. Es verlangte mich danach, sie herauszuholen, aufzusetzen und ins Metaverse zu fliehen. Aber ich hatte den nur spärlich geladenen Akku noch vor dem Abflug in die Knie gezwungen und alles, was ich jetzt noch tun konnte, war, die Finger um den Controller zu schließen und den Daumen über die kreisrunde Taste kreisen zu lassen. Es bewirkte nichts, jetzt, da die Brille ausgeschaltet war, aber zumindest beruhigte es mich.
Ein Gähnen stemmte mir den Mund auf. Achteinhalb Stunden war ich nach New York geflogen, wo ich am Flughafen vergeblich nach einer freien Steckdose zum Aufladen der Brille gesucht hatte, ehe ich abermals in einen...