E-Book, Deutsch, 172 Seiten
Laufenberg Goethe und Tschechow – Kühler Kopf und warmes Herz
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-947373-86-4
Verlag: Dittrich Verlag ein Imprint der Velbrück GmbH Bücher und Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Zwei Erzählungen
E-Book, Deutsch, 172 Seiten
ISBN: 978-3-947373-86-4
Verlag: Dittrich Verlag ein Imprint der Velbrück GmbH Bücher und Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Walter Laufenberg, Dr. phil., Schriftsteller und Blogger (www.netzine.de), ehemaliger Redakteur und Reporter beim WDR und ZDF sowie Dokumentarfilmer und Mitautor der Kulturzeitschrift »TransAtlantik«, hat sich mit zahlreichen literarischen Buchveröffentlichungen einen Namen gemacht, vor allem mit Zeitromanen, historischen Romanen, Biografien und Reportagen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Goethe versus Vulpius, Vulpius,
Vulpius und Vulpius S. 7
Tschechow zu Gast beim Doppelmörder S. 99
Nachwort S. 167
Literatur S. 168
Tschechow zu Gast beim Doppelmörder
Auf den ersten Blick ein Verrückter. Ja, und einem Mann von gerade 30 Jahren, der als Tuberkulose-Kranker so eigensinnig ist, freiwillig die unglaubliche Tortur des Sträflingsweges von Moskau auf die Insel der zur Zwangsarbeit Verbannten, Sachalin im äußersten Osten Sibiriens, auf sich zu nehmen, das heißt drei Monate einer 10.000 Kilometer-Strapaze, und dann drei weitere Monate in intensivem Kontakt mit den dort hausenden Verbrechern zu leben, einem solchen Menschen ist halt nicht zu helfen.
Oder kann ich dem Mann, der ja schon ein renommierter Schreiber ist, vielleicht mit konsequentem Einsatz der in seinem Metier gebräuchlichen Bordwerkzeuge helfen, nämlich mit den Hilfsverben und . Also mit dem wirklich letzten Aufgebot an Verständnis für ihn, das ich aktivieren kann. Weiß ich doch, was er nicht wissen konnte, nämlich dass er das Sein schon mit 44 Jahren beendet haben werde.
Einen Rettungsversuch ist der Mann allemal wert. Sein Kalender hatte den Januar des Jahres 1860 angezeigt. Dass er Ende des Monats schon dreißig werde, hatte er dem Schicksal als eine Gemeinheit vorgeworfen. Dabei war im Vorjahr sein älterer Bruder Nikolaj an Tuberkulose gestorben, mit 31 Jahren. Und die Anzeichen dieser Krankheit, gegen die es noch keine Arznei gab, hatte er schon seit einigen Jahren auch an sich selbst festgestellt. Sogar eindeutig medizinisch von ihm selbst diagnostiziert, immerhin war er seit sechs Jahren approbierter Arzt.
Doch die Medizinerei in Moskau hatte ihm mehr Verdruss als Genuss gebracht. Verständlich, wer wird schon Tag für Tag von morgens bis abends nur von Krankheiten hören wollen, wenn er selbst krank ist. Dazu das verwöhnte und hochnäsige Großstadtpublikum, das Wunder erwartete statt sich an ärztliche Ratschläge zu einer vernünftigeren Lebensweise zu halten. Und Wunder zu bewirken hatte er nicht gelernt, stattdessen die Humanmedizin, mit mäßigem Interesse und entsprechend mäßigem, jedoch für die Zulassung als Arzt ausreichendem Kenntnisstand. Aber wer war man schon als ein Arzt, dessen Vater ein kleiner Krämer vom Land war, der Bankrott gemacht hatte und bloß auf der Flucht vor dem Schuldturm nach Moskau gekommen war. In der Moskauer Gesellschaft hatte doch nur gegolten, wer von Adel war oder Offizier oder Geistlicher, ein hoher Beamter oder wenigstens ein stinkreicher Kaufmann.
Mehr Freude als die Medizin hatten dem jungen Arzt die zahlreichen literarischen Beiträge gemacht, die er in einigen Sammelwerken, in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichen konnte. Außerdem hatte er mit der Novelle »Die Steppe«, einer spannenden Geschichte über das unerlöste Leben, und mit dem frühen Drama »Ivanow« nicht nur große Publikumserfolge eingefahren. Seine literarischen Arbeiten hatten ihm so viel an Honoraren eingebracht, dass er damit sogar seine Eltern hatte unterstützen können. Deshalb hatte er es sich erlauben können, meistens auf die Entgelte für seine ärztlichen Leistungen zu verzichten, waren seine Patienten doch in der Regel arm oder völlig mittellos. Ein Entgegenkommen, das sich allerdings als die sicherste Methode erwiesen hatte, den Ansturm von immer mehr Habenichtsen auf sich zu lenken; hat doch jeder sein Wehwehchen, wenn er einen Arzt vor sich sieht. Immerhin, all die Blicke voller Dankbarkeit. Zum Glück hatte noch niemand darüber aufgeklärt, dass Dank nur Falschgeld ist.
Er hatte sich als Arzt nicht so einfach verstecken können, wie er als Autor in Deckung geblieben war. Hatte er sich doch den Spaß erlaubt, viele seiner Veröffentlichungen unter kuriosen Pseudonymen laufen zu lassen. Und wie sie gelaufen waren. Aber so schön ausgedacht eine Geschichte gewesen war, sie war doch immer nur ein Beitrag gewesen. Zu was denn? Zum Leben? Oder wenigstens zum besseren Verständnis des Lebens? Oder bloß zum Geldverdienen? Oder zum Erwerb literarischen Ruhmes? Er hatte sich nicht die Zeit genommen, sich darüber klar zu werden. Bei ihm hatte es nur immer das Schreiben, Schreiben, Schreiben gegeben. Was alle Fragen offengelassen hatte. Die Hauptsache ist, man schreibt, hatte er sich gesagt, wenn er die Augen zugemacht hatte, und man sammelt damit Erfolge. Bis er doch nicht mehr um die Frage herumkam: Aber wozu die ganze Schreiberei, verdammt noch mal? Was man schreibt, ist doch so austauschbar wie das Geld, das man dafür kriegt. Und das ist blamabel.
Deshalb hatte Tschechow eines Tages beschlossen: Ich werde jetzt schreiben, was nicht gefällt und kein Geld einbringt. Das passende Thema hatte er nicht suchen müssen. Es hatte in der Luft gelegen. Die Frage, wie geht unsere Obrigkeit mit den Bürgern um, die das Gesetz gebrochen haben, sie hatte die Literaten beschäftigt, seitdem Fjodor Dostojewski sie mit den 1860–1862 erschienenen »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« ins allgemeine Bewusstsein gebracht hatte. Darin hatte der renommierte Erzähler die Katorga beschrieben, die neben der Todesstrafe härteste Strafe in Russland, die Hölle auf Erden. Das war das Zauberwort gewesen, das die Intelligenz fasziniert hatte: Katorga. War sie wirklich weniger hart als die Hinrichtung? Oder im Gegenteil noch viel schlimmer?
Dostojewski hatte keine Geschichten erfinden müssen. Er hatte seine Erfahrungen. Mehr als vier Jahre lang, von 1849 bis 1853, hatte er in Sibirien als Zwangsarbeiter schuften müssen, wegen missliebiger politischer Äußerungen zur Katorga verurteilt. Er hatte es gewagt, gegen Autokratie und Leibeigenschaft anzuschreiben. Dafür hatte er sogar die barbarische Tortur einer Scheinhinrichtung erdulden müssen. Seine »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« hatten die Leute aufgewühlt und beunruhigt. Genau wie die ausführlichen Berichte über Aufsehen erregende Verbrechen, die so häufig in den Zeitungen zu lesen waren und die man so gern las. Aufregend auch die Abtransporte von Menschen in schweren Ketten in Richtung Sibirien, die man da und dort gesehen hatte, mit der Hand vor dem Mund.
Von seinem jüngeren Bruder Michail, der Jura studierte, hatte Anton Pawlowitsch Tschechow sich bereits mit Fachliteratur über das russische Strafrecht und Gefängniswesen versorgen lassen. Er hatte zu diesem Thema auch Berichte von Medizinern sowie diverse Reiseberichte gefunden. Und je mehr er darüber gelesen hatte, umso mehr war ihm der Umgang des Staates mit seinen nicht rechtstreuen Bürgern fragwürdig geworden. Damit hatte er sein Thema gefunden.
Hinzu war gekommen: Schon als Junge hatte Anton verstanden, dass man alles anders machen müsste als die anderen um einen herum, wenn man nicht genau so ein elendes Leben durchmachen wollte wie diese. Also keine jähzornigen, tyrannischen und immer unbedachten Reaktionen, wie sie bei seinem Vater üblich waren. Und nicht diese wilden Besäufnisse, in die seine beiden älteren Brüder, der ebenfalls Geschichten schreibende Alexander und der Maler Nikolaj, sich immer wieder hineinfallen ließen. Womit sie sich unübersehbar aller Chancen auf ein besseres Leben beraubten.
Gut eine Woche vor seinem dreißigsten Geburtstag hatte Tschechow in Petersburg, damals Russlands Hauptstadt, dem Chef der Hauptgefängnisverwaltung des Russischen Reichs persönlich ein schriftliches Gesuch um die Erlaubnis zum Besuch der Strafkolonie auf der Sträflingsinsel Sachalin überreicht. Der hohe Herr, Michail Galkin-Wraskij war sein Name, hatte ihn sogar überraschend freundlich empfangen. Und hatte sich zu einem Gespräch beim Tee über die geplante und die günstigste Reiseroute des jungen Autors herabgelassen. Hatte man doch viele Schwierigkeiten zu überwinden bei dem Versuch, Russland in West-Ost-Richtung zu durchqueren, um in den äußersten Osten Sibiriens und bis auf die vorgelagerte Pazifik-Insel Sachalin zu gelangen. Denn die großen, schiffbaren Flüsse, sonst die idealen Verkehrswege, flossen vor allem in Süd-Nord-Richtung. Ohnehin reiste man in Russland, wenn man es sich leisten konnte zu verreisen, nach Süden, aber doch nicht nach Osten. Schon der Gedanke an Sibirien ließ einen anständigen Menschen drei Kreuze schlagen.
Die übliche rüde Art, die nach Sibirien verbannten Straftäter bestimmte Strecken mit Lastkähnen auf großen Flüssen und ihren Nebenflüssen sowie mit primitiven Pferdefuhrwerken auf schlechten Wegen zu transportieren, sie im Übrigen zu langen Fußmärschen zu zwingen, um sie nach etlichen Monaten mehr tot als lebendig an ihrem Haftort ankommen zu lassen, diese qualvolle Reiseart hätte der Gefängnischef dem Besucher gern erspart. Der war ja kein Sträfling und als Autor kein Unbekannter mehr. Doch sehe er außer am Anfang der Tour im gesamten östlichen Teil des russischen Reichs, also jenseits des Ural und überall in Sibirien, wie er mehrfach betonte, keine bequemeren Alternativen zu den üblichen Gefangenentransporten. Weil die Transsibirische Eisenbahn, seit Jahrzehnten in der Planung, doch erst im nächsten Jahr den ersten Spatenstich erleben werde. Doch auf die Fertigstellung der Bahnlinie zu warten, lehnte der Sachalin-Interessent Tschechow entschieden ab, und das mit dem Argument, so viel...