E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Laurain Die Melodie meines Lebens
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-455-17126-6
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-455-17126-6
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Brief, der mit 33 Jahren Verspätung sein Ziel erreicht, stellt Alains ruhiges Leben auf den Kopf. Er ist Arzt und hat die fünfzig überschritten, seine Frau betrügt ihn, die Kinder sind längst aus dem Haus – trotzdem ist er eigentlich ganz zufrieden. Doch eines Morgens liegt in der Post ein Plattenvertrag für Alains Band The Hologrammes – von 1983. Alain wird zurückgeworfen in eine Zeit, als er und seine Band um ein Haar berühmt geworden wären, als noch alles möglich schien. Er macht sich auf die Suche nach den anderen Bandmitgliedern – und findet einen erfolgreichen, aber verbitterten Künstler, dessen Freundin Alain ein vieldeutiges Lächeln schenkt, einen Präsidentschaftskandidaten und einen populistischen Politiker. Nur die Sängerin, die schöne Bérangère, in die Alain heimlich verliebt war, scheint zunächst verschwunden … Humorvoll und mit feinem Gespür für Nostalgie erzählt Antoine Laurain von vergessenen Lieben, verlorenen Freundschaften und verpassten Chancen – die plötzlich neues Glück versprechen.
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
Motto
Ein Brief
Rückenschmerzen
Sweet 80s
Echt motiviert
Blaue Worte
Der Mann mit dem Lächeln einer Katze
Blanche
675 × 564
Verjüngung
Véronique
Thyristor und Triac
Verlorene Zeiten
Bubble
Agitprop
Im Land des Lächelns
Roosevelt gegen Ludwig XV.
Eine schöne Russin
Der Kommandant
Potaufeu
Im Train Bleu
Bérangère
Umkehren
Der Mann, der Schlagzeug spielen wollte
Ivana
Das Relais de la Clef
Im Train Bleu (2)
Aurore
675 × 564 = 380700
Zénith und Semtex
Ein dreibeiniger Hund
Die Ratten
Bubbles Ruhm
In der Rue de Moscou
Ein Brief (2)
Epilog
Über Antoine Laurain
Impressum
Ein Brief
Der stellvertretende Filialleiter, ein kleiner müder Mann mit einem dünnen graumelierten Schnurrbart, hatte ihm in einem winzigen, fensterlosen Büro mit kanariengelber Tür einen Stuhl angeboten. Als Alains Blick auf das schön gerahmte Plakat fiel, entfuhr ihm erneut ein nervöses Lachen, das dieses Mal sogar noch heftiger ausfiel und von dem unangenehmen Gedanken begleitet war, dass Gott, wenn er existierte, einen ziemlich zweifelhaften Sinn für Humor hatte. Auf dem Plakat war eine Gruppe fröhlicher Postboten und -botinnen zu sehen, die siegessicher ihre hochgestreckten Daumen in die Kamera hielten. Darüber stand in gelben Buchstaben: Was auch immer die Zukunft für Sie bereithält, die Post bringt es Ihnen. Alain gluckste erneut. »Finden Sie den Slogan wirklich passend?« »Sparen Sie sich Ihre Scherze, Monsieur«, antwortete der Beamte. »Scherze?«, fragte Alain und deutete auf den Brief. »Dreißig Jahre Verspätung. Haben Sie dafür eine Erklärung?« »Nicht in diesem Ton, Monsieur«, entgegnete der Mann mit monotoner Stimme. Alain schaute ihn schweigend an. Der Schnurrbärtige hielt seinem Blick einen Moment lang stand, dann griff er langsam zu einem blauen Ordner, den er feierlich aufschlug, bevor er seinen Zeigefinger anleckte und in aller Ruhe die Seiten umblätterte. »Wie war noch Ihr Name?«, murmelte er, ohne Alain anzusehen. »Massoulier«, antwortete Alain. »Doktor Alain Massoulier, Rue de Moscou 38, Paris, 8. Arrondissement«, las der Beamte vor. »Sie haben sicher festgestellt, dass unsere Filiale modernisiert wird?« »Die Ergebnisse scheinen geradezu bahnbrechend zu sein«, entgegnete Alain. Der Schnurrbärtige runzelte die Stirn, aber Alain noch einmal zurechtzuweisen, wagte er dann doch nicht. »Bei uns wird modernisiert, und daher wurden die Holzregale von 1954, als das Gebäude errichtet wurde, abgebaut. Die Arbeiter haben vier Briefe gefunden, die unter besagte Regale gerutscht waren. Der älteste ist von … 1963«, ergänzte er mit einem Blick auf seine Akte. »Außerdem haben wir eine Postkarte von 1978, einen Brief von 1983 – den an Sie adressierten – und einen letzten von 2002. Wir haben entschieden, die Postsendungen im Rahmen unserer Möglichkeiten den Empfängern zuzustellen, sofern diese noch leben und ihre Adressen leicht herauszufinden sind. Voilà«, sagte er und klappte seinen Ordner zu. »Kein Wort der Entschuldigung?«, fragte Alain. Der Mann starrte ihn an. »Wenn Sie es wünschen, können wir Ihnen ein standardisiertes Entschuldigungsschreiben zusenden. Ist das wirklich nötig?«, antwortete er nach einer Pause. Alain betrachtete ihn, dann fiel sein Blick auf den Schreibtisch, wo ein schwerer, gusseiserner Briefbeschwerer mit dem Logo der französischen Post stand. Kurz sah er sich danach greifen und damit mehrmals auf den Schnurrbärtigen einschlagen. »Nur um sicherzugehen«, setzte der Mann erneut an, »ist dieser Brief von juristischer Natur, sodass die verspätete Zustellung zu rechtlichen Schritten gegen die Post führen könnte, geht es etwa um eine Erbschaft, Aktiengeschäfte …?« »Nein, nichts dergleichen«, unterbrach ihn Alain schroff. Der Schnurrbärtige reichte ihm ein Formular zum Unterschreiben, das Alain nicht einmal durchlas. Er verließ das Gebäude und kam an einem großen Baucontainer vorbei. Bauarbeiter warfen Bretter aus massiver Eiche und Metallstangen hinein, während sie in einer Sprache diskutierten, die er als Serbisch zu identifizieren glaubte. Im Schaufenster einer Apotheke sah Alain einen Spiegel und begutachtete sich darin. Graue Haare und eine randlose Brille, die seinem Optiker zufolge »jünger machte«. Einen alternden Arzt zeigte sein Spiegelbild, einen alternden Arzt, wie es Tausende in diesem Land gab. Ein Arzt, wie sein Vater es gewesen war. Der Brief war am Morgen mit der Post gekommen, maschinengetippt und mit türkisfarbener Tinte unterschrieben. Oben links war das Logo der legendären Plattenfirma zu sehen, über dem Namen ein Halbkreis, der eine Vinylplatte in Form einer – je nach Sichtweise – auf- oder untergehenden Sonne darstellte. Das Papier war an den Rändern gelb geworden. Alain hatte den Text dreimal gelesen, bevor er sich den Umschlag vornahm; dort stand tatsächlich sein Vor- und Nachname, auch seine Adresse. Alles stimmte, außer dem Datum. 12. September 1983. So stand es auf der Briefmarke mit der Marianne, die seit langem nicht mehr im Umlauf war. Der Stempel war halb verwischt, trotzdem war deutlich zu lesen: Paris – 12/09/83. Alain musste ein hysterisches Lachen unterdrücken. Dann schüttelte er den Kopf, ohne dass das ungläubige Lächeln aus seinem Gesicht gewichen wäre. Dreiunddreißig Jahre, dieser Brief hatte ganze dreiunddreißig Jahre gebraucht, um drei Pariser Arrondissements zu durchqueren. Die Tagespost – eine Stromrechnung, eine Ausgabe des Figaro, eine des Observateur, Werbesendungen, eine für ein Handy, die zweite von einer Reiseagentur, die dritte von einer Versicherungsgesellschaft – war gerade von Madame Da Silva, der Concierge, gebracht worden. Alain wollte schon aufstehen und die Tür aufreißen, um Madame Da Silva hinterherzurufen, woher dieser Brief käme. Aber sie war sicher schon wieder in ihrer Loge, und was sollte sie schon darüber wissen – sie hatte den Brief mit der Post hochgebracht, die der Briefträger bei ihr abgegeben hatte. Paris, 12. September 1983 Liebe Hologrammes, mit großem Interesse haben wir Ihr Demotape mit fünf Stücken, das Sie uns Anfang des Sommers haben zukommen lassen, angehört. Ihre Arbeit ist präzise und sehr professionell. Auch wenn Ihnen noch viel Arbeit bevorsteht, besitzen Sie bereits einen ganz eigenen Sound. Das Stück We are made the same stuff dreams are made of hat uns am stärksten beeindruckt. Sie beherrschen die Codes der New und der Cold Wave, denen Sie einen ganz eigenen rockigen Klang verleihen. Setzen Sie sich gerne mit uns in Verbindung, um einen Termin zu vereinbaren. Mit herzlichen Grüßen Claude Kalan Künstlerischer Leiter Der Ton des Briefes war zugleich persönlich und etwas aufgesetzt. Alain fielen die Begriffe »präzise« und »sehr professionell« auf, sowie die etwas schwerfällige Wiederholung des Wortes »Arbeit«. Was folgte, war ermutigend, ja noch mehr: Es war eine Bestätigung. Ja, Sie haben recht, dachte Alain, das Stück We are made the same stuff dreams are made of war das beste, ein Schmuckstück, ein Hit mit Bérengères sanft säuselnder Stimme. Alain schloss die Augen und sah ihr Gesicht gestochen scharf vor sich; ihre großen Augen mit dem stets leicht beunruhigten Blick, ihren kurzen Haarschopf, die Strähne, die ihr in die Stirn fiel; er sah, wie sie ans Mikro trat, es mit beiden Händen umfasste und es bis zum Ende des Liedes nicht mehr losließ. Sie hatte die Augen geschlossen, und eine sanfte, ein wenig raue Stimme drang aus dem Mund des neunzehnjährigen Mädchens. Alain öffnete die Augen. Ein »Termin« – wie oft hatten sie alle fünf dieses kleine Wort wiederholt, das der Welt der Geschäftsleute entstammte. Wie oft hatten sie auf einen solchen Termin bei einer Plattenfirma gehofft: in unserem Büro, Montag um elf. Wir haben einen Termin mit Polydor. Zu diesem »Termin« war es nie gekommen. Die Hologrammes hatten sich aufgelöst. Dieser Ausdruck entsprach übrigens nicht ganz der Wahrheit: Das Leben hatte die Band einfach auseinandergetrieben. Wegen der ausbleibenden Antwort einer Plattenfirma, aus Enttäuschung oder Überdruss war jeder schließlich seiner Wege gegangen. Véronique, in einen Morgenmantel aus blauer Seide gekleidet, hatte verschlafen die Tür zur Küche aufgestoßen. Alain sah zu ihr auf und hielt ihr den Brief hin. Mit einem Gähnen überflog sie ihn. »Das muss ein Irrtum sein«, sagte sie. »Natürlich nicht«, entgegnete Alain und reichte ihr den Umschlag. »Alain Massoulier, das bin ich.« »Ich verstehe nicht«, sagte Véronique kopfschüttelnd und bedeutete ihm damit, dass komplizierte Rätsel so kurz nach dem Aufwachen nicht ihre Sache waren. »Das Datum, schau auf das Datum.« »1983«, las sie laut. »Die Hologrammes, das war meine Band, meine Rockband, auch wenn wir keinen Rock gespielt haben, sondern New Wave, Cold Wave, um genauer zu sein, so wie es hier steht«, erklärte er und deutete auf die besagte Stelle im Schreiben. Véronique sah ihren Mann stumm und mit müden Augen an. »Dieser Brief hat dreiunddreißig Jahre für drei Arrondissements gebraucht.« »Bist du sicher?«, murmelte sie und drehte den Umschlag um. »Hast du eine andere Erklärung?« »Da muss man bei der Post nachfragen«, schlussfolgerte Véronique, während sie sich setzte. »Ganz genau. Stell dir vor, das lasse ich mir nicht nehmen«, entgegnete Alain. Dann stand er auf und setzte die Nespresso-Maschine in Gang. »Mach mir auch einen«, bat Véronique unter erneutem Gähnen. Alain dachte, dass seine Frau mit den Schlaftabletten wirklich einen Gang runterschalten sollte; sie allmorgendlich mit diesem zerknautschten Spitzmausgesicht zu sehen, war ein recht trauriges Spektakel, ganz abgesehen davon, dass sie sich danach...