E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Lausen Die Erinnerung riecht nach gelben Kamelien
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-492-98747-9
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-492-98747-9
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bettina Lausen, geboren 1985, lebt mit ihrer Familie in Haan und hat einen Bachelor in Kulturwissenschaften mit den Schwerpunkten Literatur und Geschichte. Sie hat bereits mehrere Romane veröffentlicht, ihr Herz schlägt dabei für das Historische. Seit 2018 gibt sie Kurse fürs kreative Schreiben und verfasst Artikel für die Fachzeitschrift »Federwelt«. Mittlerweile ist sie auch als Schreibcoach und Lektorin tätig.
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Kapitel 2
Haan, Mai 2009
Die Rede des Priesters rauschte an Carolin vorbei. Sie versuchte, sich auf die Worte zu konzentrieren, dennoch glitt ihr Blick immer wieder zu der alten Dame vier Sitze neben ihr. Sie trug einen knielangen karierten Rock, eine Seidenstrumpfhose und unter der schwarzen Jacke eine weiße Bluse. Ein erwartungsvolles Kribbeln breitete sich in Carolins Körper aus. Die Dame war bestimmt keine Kundin. Nein, eine Kundin hätte sich, wenn sie zu spät gekommen wäre, ganz hinten einen Platz gesucht. Und dann diese Gesichtszüge. Vielleicht war sie mit ihrem Vater verwandt … Oder spielte der unbändige Wunsch nach einer Familie Carolin einen Streich?
Der Priester gab Annika ein Zeichen. Sie ging zu dem Stuhl neben dem Sarg und nahm die Gitarre, die man ihr bereitgestellt hatte. Sie schloss die Augen und begann, »Over the rainbow« zu spielen. Ihre Stimme hallte durch die Kapelle und bescherte Carolin eine Gänsehaut.
Ob ihr Vater diese Stimme auch hören konnte? Sie hatte sich bisher kaum mit dem Tod beschäftigt, hatte keinen Schimmer, wo er jetzt sein könnte. Als Annika eine Oktave höher sang, war es um Carolin geschehen: Ihre Leere platzte in der Melodie des Liedes auf und ließ Tränen über ihre Wangen fließen.
Die alte Dame weinte auch, wischte sich mit einem Taschentuch übers Gesicht. War sie bloß von dem Lied und der Atmosphäre ergriffen, oder trauerte sie um Alfred Franzen?
Der letzte Akkord klang lange in Carolin nach und ließ ein Gefühl von Schwerelosigkeit zurück. Sie hätte ihrer Freundin stundenlang zuhören können, doch Annika legte die Gitarre beiseite und setzte sich wieder auf ihren Platz.
Der Priester sprach ein paar Abschlussworte, redete von der gemeinsamen Zeit mit dem Verstorbenen, von dem Vertrauen auf Gott und davon, in der Trauergemeinde Kraft für die kommende Zeit zu schöpfen.
Dann kamen sechs Männer und trugen den Sarg aus der Kapelle. Carolin schloss sich mit Annika direkt dem Sarg und dem Priester an. Die alte Frau mit dem Rollator folgte ihnen. Der Regen hatte aufgehört, dafür wehte Carolin ein kühler Wind durch die Haare. Sie musste den Blick vom Sarg abwenden, um nicht von ihren Gefühlen überwältigt zu werden. Der Trauerzug passierte auffällig gestaltete Gräber mit Lichtern, Engelfiguren und vielen Blumen, Grabsteine mit Jesus am Kreuz und das Gemeinschaftsgrab der Gemeindepriester. Er bog rechts ab und stoppte vor einem ausgehobenen Grab. Der Priester nahm daneben Aufstellung, breitete die Arme aus und betete.
Carolin sah auf das Loch, in das ihr Vater hinabgelassen wurde. Versinken in der Finsternis. Abschied für immer. Hätte sie gewusst, was passieren würde, hätte sie ihn am Dienstag nicht allein aus dem Haus gehen lassen. Sie wäre mit ihm zum Arzt gefahren, vielleicht wäre er dann noch am Leben. Aber woher hätte sie es wissen sollen? Es hatte beim Frühstück keine Anzeichen für einen Herzinfarkt gegeben.
Annika zog an ihrem Arm und wies auf den Korb mit den Blumen. Carolin nahm eine Rose und trat ans Grab. Welche Worte sollte sie an ihren Vater richten? Ihr Kopf war leer, ihre Gedanken eingehüllt wie von einem Nebelschleier. Es gab so vieles, das sie ihm zu Lebzeiten hätte sagen wollen, doch ihre Gedanken an einen Toten zu richten, kam ihr vergeblich vor.
»Vergib mir, Vater!«, formten ihre Lippen lautlos, ohne zu wissen, was ihr Vater ihr vergeben sollte. Sie machte Platz und stellte sich an den Rand, um die Beileidsbekundungen entgegenzunehmen. Die alte Dame kam auf sie zu und befreite sie aus den Gedanken. Ein Funke Hoffnung glomm in ihr, dass sie selbst nicht die Letzte in ihrer Familie war. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, die Dame zu fragen, wer sie war.
»Woher kennen Sie meinen Vater?«
Das Gesicht der alten Frau erhellte sich. »Sie sind also die Tochter.« Sie tätschelte Carolins Hand. Sie hatte Altersflecken im Gesicht, am Brustbein hatte sich eine Kuhle gebildet, aber die Gesichtszüge ließen vermuten, dass sie eine ansehnliche Frau gewesen war.
»Und wer sind Sie?« Carolin konnte die Ungeduld in ihrer Stimme nicht verbergen.
»Ich, meine Liebe, bin Alfreds Mutter, also Ihre Großmutter.«
Carolin musste lachen und hätte gleichzeitig weinen können, ein allumfassendes Kribbeln erfasste ihren Körper. Sie hatte eine Großmutter. War das zu fassen? Sie griff nach der Hand der alten Frau. »Wieso haben Sie nicht angerufen?«
Die Großmutter lächelte gequält. »Ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen.«
»Ich freue mich so sehr, dass Sie gekommen sind.« Das Gefühl war viel überwältigender, als ihre Worte es ausdrücken konnten. Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet. Wie gern hätte sie diesen Augenblick mit ihrem Vater erlebt. Die Zusammenkunft der Familie, ein Wiedersehen mit seiner Mutter.
»Ach bitte, lassen wir doch das Siezen. Das macht Glauben, wir wären Fremde.«
Carolin nickte. »Gern. Wie heißt du denn?« Das Du wirkte ungewohnt und klang gleichzeitig so verheißungsvoll wie der erste Vogelgesang an einem anbrechenden Sommertag.
Ihre Großmutter machte große Augen. »Das weißt du nicht?«
»Ich wusste bis gerade nicht mal, dass es dich gibt«, gab Carolin mit einem Kloß im Hals zu.
»Oh!« Die alte Frau strich sich über die Stirn. »Ich heiße Frida.«
»Frida«, murmelte Carolin. Ihre Großmutter wirkte, als sei sie eine großmütige, herzliche Frau. Wieso hatte ihr Vater den Kontakt abgebrochen und ihr die Existenz seiner Mutter verschwiegen? Sie fragte sich, welches Geheimnis die Vergangenheit für sie bereithielt.
»Und das ist meine Tochter Ingrid«, sagte ihre Großmutter und legte der blonden Frau die Hand auf die Schulter. Carolin hatte eine Tante.
Sie schwindelte, und ihre Knie zitterten. Der Name war in dem handschriftlichen Brief erwähnt worden. Sie lernte an einem Tag zwei nahe Verwandte kennen. Was würden die nächsten Stunden noch offenbaren?
Ingrid war klein und schlank, wirkte sportlich und durchtrainiert. Auf den ersten Blick sah sie aus wie fünfzig, doch nach den Falten in ihrem Gesicht zu urteilen, war sie sicherlich zehn Jahre älter. Sie hatte die gleichen wachen Augen wie ihr Bruder.
Ihre Tante gab ihr die Hand und lächelte. Die Schneidezähne überlappten etwas. »Freut mich, Carolin.«
Dann traten die beiden zur Seite und machten Platz für die anderen Trauergäste. Frau Gillwaldt kam zu ihr. Carolin presste die Zähne zusammen. Sie wollte Haltung vor den Mitarbeitern bewahren, denen sie bald eine Chefin sein musste.
»Sie schlagen sich tapfer«, sagte die Sekretärin und umfasste ihre Hand.
Carolin nickte und musste sich beherrschen, bei der Berührung nicht zurückzuweichen. Sie wollte kein Mitleid von ihr, musste Stärke zeigen.
Dahinter kam Fritz Lüscher. Die Hose hatte Hochwasser, und die Anzugjacke warf sternenförmige Falten um die Knöpfe. »Frau Franzen.« Er nickte ihr zu und ging weiter. Ihm folgten Lara Priggemeier und fast die gesamte Belegschaft. Carolin schüttelte Hände und bedankte sich.
Es waren auch drei Spielerinnen von ihrer Fußballmannschaft gekommen. Germaine umarmte sie und klopfte ihr auf die Schulter. »Caro, sag Bescheid, wenn wir irgendwas für dich tun können.«
Carolin zwang sich zu einem Lächeln und schüttelte den Kopf. »Im Moment nicht, danke.«
Auch Victoria und Anna waren dabei. »Bist du am Sonntag mit von der Partie?«, fragte Victoria.
Das Freundschaftsspiel. Das hatte Carolin ganz vergessen. »Ich denke nicht.« Vielleicht würde sie am Sonntag anders darüber denken, aber im Moment konnte sie sich nicht vorstellen, auf dem Fußballplatz zu stehen.
»Wir halten für dich die Stellung und werden dir schreiben, wie es ausgegangen ist«, sagte Victoria.
Der Konditor mit der Halbglatze trat zu ihr und bekundete sein Beileid. Sie hatte ihn mal auf einem Tennisturnier gesehen. »Ich hätte nie gedacht, dass Alfred …« Er rang sichtlich nach Worten.
»Ich danke Ihnen, dass Sie so schnell reagiert haben, machen Sie sich keine Vorwürfe.«
Es kamen noch ein paar Kunden und Freunde von ihrem Vater. Gerhard aus dem Tennisklub klagte, dass er Alfred beim Doppel vermissen würde. »Er hatte immer so eine geschickte Rückhand«, sagte er, griff in den Mantel und holte eine Packung Zigaretten heraus.
Annika hakte sich bei Carolin unter. »Es ist Zeit, zum Restaurant zu fahren.«
Carolin nickte. Sie war froh, wenn sie für heute dem Friedhof entfliehen konnte. Außerdem wollte sie noch mehr von ihrer Großmutter erfahren, dafür wäre der Leichenschmaus eine willkommene Gelegenheit. In Absprache mit Frau Gillwaldt hatte sie die Tennisfreunde und zehn Mitarbeiter eingeladen. Die Trauergäste trollten sich Richtung Ausgang.
»Komm!« Carolin löste sich von Annika und ging voran, bis sie ihre Großmutter in Höhe der Kapelle eingeholt hatte.
»Carolin«, sagte ihre Großmutter und lächelte.
»Kommt ihr beide noch mit zum Kaffeetrinken?«
»Wir sind doch nicht eingeplant«, protestierte Ingrid.
»Das ist kein Problem«, widersprach Carolin und blickte ihre Großmutter an. »Ich habe so viele Fragen und hoffe, wir können uns ein bisschen unterhalten.«
»Auch ich würde gern einiges erfahren«, sagte ihre Großmutter. »Wir kommen gern mit.«
Carolin erklärte ihrer Tante den Weg und begleitete ihre Großmutter zum Eingangstor. Ihr Herz klopfte. Als sie heute den Friedhof betreten hatte, hatte sie nicht geglaubt, ihn mit solcher Hoffnung im Herzen verlassen zu können. Die Trauer über ihren Vater war groß, doch in diesem Moment überwog die Freude darüber zu erfahren, wer ihre Familie war und woher sie selbst stammte. Sie stieg ins Auto ein und ließ den Motor an, noch ehe Annika sich angeschnallt...