E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Lebert Mitternachtsweg
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-455-81244-2
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-455-81244-2
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Benjamin Lebert lebt in Hamburg. Er hat mit zwölf Jahren angefangen zu schreiben. 1999 erschien sein erster Roman Crazy, der in 33 Sprachen übersetzt und von Hans-Christian Schmid fürs Kino verfilmt wurde. Sein zweiter Roman, Der Vogel ist ein Rabe, erschien 2003, danach Kannst du (2006), Flug der Pelikane (2009) und zuletzt Im Winter dein Herz (2012).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Sommer 2006 – Ein Mann erhält Post
Es war ein Morgen im Juli, heiß und blendend mit Staubpartikeln im Wind.
Peter Maydell ging durch die Straßen der Lübecker Innenstadt. Er trug einen Anzug, der – wie er hatte feststellen müssen – für diesen Tag zu warm war. An einem Gurt um seine Schulter hing die mit Papieren prall gefüllte Ledertasche, mit der er in den zurückliegenden Jahren als Redakteur für die schon so oft diesen Weg gegangen war. Sein aufrechter Gang und der federnde Schritt verrieten sein wahres Alter nicht, wohl aber die tiefen Falten und einige Kleinigkeiten, wie der Zipfel seines farblich passenden Einstecktuchs und die goldenen Manschettenknöpfe mit dem grünen Malachit.
Wieder einmal war er in Gedanken bei der Entscheidung, endlich den Schreibtisch in der Redaktion aufzugeben, den er bis jetzt, noch Jahre nach seiner Pensionierung, für zwei Tage in der Woche behalten hatte, um der Zeitung die kleinen Geschichten vom Lande zu liefern, für die er schon in den Jahren seiner festen Anstellung als Redakteur bei den Lesern beliebt gewesen war. »Landeier« hieß die Panorama-Rubrik, die den Leser mit skurrilen Geschichten aus der Provinz versorgte und mit einem Humor, der hier im Norden nicht allzu oft zu finden war, zum Schmunzeln brachte.
Vor dem Überqueren der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment, seine Reaktionen ließen inzwischen zu wünschen übrig. Dann überquerte er die Straße, hielt auf der anderen Straßenseite noch einmal an, um sich eine Welle seines weißgrauen Haares aus dem Gesicht zu streichen, rückte den Gurt seiner Tasche an die richtige Stelle und ging weiter. Er bog in die nächste Straße ein und tauchte in das Spiel aus Schatten und Licht der versetzt stehenden Gebäude in der Morgensonne, das er um diese Jahreszeit besonders schätzte.
Auf dem morgendlichen Weg in die Redaktion war häufig noch nicht abzusehen, wie der Tag am Schreibtisch aussehen würde. Heute allerdings erwarteten ihn zwei Aufgaben, beide wenig dazu angetan, seine gute Laune aufrechtzuerhalten.
Zum einen war da eine Frau, die ihn in der Redaktion besuchen wollte. Sie war die Ehefrau eines ehemaligen Kollegen von der , dessen Stelle vor wenigen Wochen gestrichen worden war. Er hatte den Kollegen, für den die Entlassung aus heiterem Himmel kam, geschätzt und sich zu diesem Gespräch überreden lassen, obwohl er nicht wusste, was sich die Frau davon versprach, und schon gar nicht, was er ihr sagen sollte.
Seine zweite Aufgabe bestand darin, den Artikel über die Treckerparade zu schreiben. Am gestrigen Sonntag waren die Bauern des Umlands mit ihren alten, hergerichteten Traktoren umjubelt durch die Stadt gefahren. Eigentlich eine rührende Sache, diese Parade, fand Maydell, wenn diese Aufgabe nicht schon das sechste Jahr in Folge an ihn gegangen wäre.
Während er im Geiste schon an seinem Schreibtisch saß, überlegte er nun, ob er seinen Bericht mit etwas Positivem oder mit etwas Negativem beginnen sollte. In den letzten Jahren war es ihm immer wichtiger geworden, wie eine Geschichte begann. Das galt für das ganze Leben. Im Anfang fand man den Schlüssel zur Moral einer jeden Geschichte. Nicht an ihrem Ende, wie in den Märchen.
Mit etwas Positivem beginnen hieße in diesem Fall mit dem Eicher-Traktor, der von der Jury zum schönsten Traktor der diesjährigen Parade gewählt worden war. Und das Negative wäre die von fünf umtriebigen Rentnern initiierte Protestaktion, deren Bestreben es in diesem Jahr gewesen war, die Parade aufgrund der Lärmbelästigung in ihrem Wohngebiet zu verhindern.
Er musste daran denken, seine letzten Artikel über die Parade noch einmal zu überfliegen, um sich nicht zu wiederholen.
Und es gab noch etwas, woran er denken musste.
Das Gedicht, das er gestern Abend wieder ausgegraben hatte. Es musste heute vertieft werden, sein besonderes Ritual auf dem Weg zur Arbeit. Vielleicht hatte er sich deshalb über die vielen Jahre seines Lebens einen wachen und erinnerungsfähigen Geist erhalten, denn dieses Ritual hatte er schon lange Zeit, genau genommen so lange er zurückdenken konnte. Eine Woche, ein Gedicht. Das war die Regel.
Maydell liebte die Romantiker. Wenn er eine kurze Zeitreise hätte antreten können, dann wäre seine Wahl auf diese Epoche gefallen, wo die Menschen einen schmerzlich sehnsuchtsvollen Blick in die Weite warfen, die das Leben war, und hofften, sich selbst darin zu erkennen. Obwohl er wusste, dass dieses verklärende Sehnen wenig zu tun hatte mit der Gnadenlosigkeit aller Dinge, gönnte er sich gern diese gedankliche Zuflucht in der Romantik.
Heute war es ein Gedicht aus dieser Zeit, das ihm über die Jahre abhandengekommen war und das er zum letzten Mal gelesen hatte, als er ein junger Mann gewesen war. Plötzlich war es wieder da. Gestern, aus heiterem Himmel.
, es gt die te der,
die len nen schen.
den h’n die ne der …
Als er das Gebäude mit der von wildem Wein überwachsenen Fassade erreichte, dachte er, wie schön es war, dass sich die Redaktion noch immer hier im Herzen der Stadt befand. Und er dachte daran, dass er froh sein konnte, diesen Schreibtisch im dritten Stockwerk am Ende des Flures noch zu haben. Er nahm sich vor, in der Angelegenheit seines entlassenen Kollegen heute mehr Elan zu zeigen. Vielleicht konnte er ja tatsächlich etwas bewirken, ein paar Gespräche führen …
Die junge Frau am Empfang überreichte ihm das längliche Paket, das mit einer Schnur umwickelt war. Als Maydell las, wer es ihm geschickt hatte, lächelte er. Wieder eine Zuschrift von Johannes Kielland. Die Sendungen dieses rätselhaften Mannes waren für ihn immer etwas Besonderes. Und er war auch ein bisschen stolz darauf, dass Kielland gewissermaßen seine persönliche Entdeckung gewesen war.
Angefangen hatte es vor zwei Jahren, als er ihm einen Bericht in die Redaktion geschickt hatte – sieben Seiten lang und auf der Schreibmaschine geschrieben. Zusammen mit einem handschriftlichen Brief und der Frage, ob dieser Bericht nicht eventuell für eine Veröffentlichung in der in Betracht käme.
Maydell hatte nicht vorgehabt, ihn zu lesen. Aber als er einmal beim Schreiben eines eigenen Artikels nicht recht weiterkam, war Johannes Kiellands Text eine willkommene Ablenkung gewesen. Dieser erste von Kielland geschickte Text war ein Tatsachenbericht über ein altes Baumhaus in den Tiefen des Bayerischen Waldes gewesen, in dem in manchen Mondnächten Menschen zusammenkamen, um dort oben, verborgen im Blätterwerk, Rituale durchzuführen, bei denen kleinere Tiere zu Tode kamen. Und er handelte von der Freundschaft dreier Schuljungen, die sich immer zu später Stunde auf die Lauer gelegt und diese Geschehnisse beobachtet hatten.
Maydell hatte – was bei unaufgefordert eingesandten Texten selten vorkam – den Bericht interessiert gelesen und beim damaligen Chefredakteur die Veröffentlichung durchgesetzt. Und seither schickte ihm dieser Kielland in unregelmäßigen Abständen Berichte, manchmal einzelne, manchmal gleich mehrere auf einmal.
Allesamt waren es Texte mit leichtem Gänsehautfaktor, und sie erfreuten sich bei den Lesern wachsender Beliebtheit.
Johannes Kielland schickte die Berichte immer als Postsendung, und obwohl Maydell sie noch mal abtippen musste, um sie bearbeiten zu können, weigerte sich Kielland, das zu ändern, und hatte seine Bitte jedes Mal ohne Begründung abgelehnt, bis Maydell aufgab, danach zu fragen.
Ein einziges Mal hatten sie sich getroffen, an einem Wintertag in einem Café in Hamburg, von dem aus man auf das Wasser der Elbe blicken konnte, auf dem Eisschollen trieben.
Maydell, der nie daran gezweifelt hatte, dass es sich bei Kielland um einen gesetzten Herrn seines eigenen Alters handelte – Typ Oberstudienrat oder zerstreuter Professor –, war nicht wenig überrascht, als ein junger Mann auftauchte, ganz in Schwarz gekleidet, mit langen fettglänzenden Haaren. Er hatte Lidschatten aufgetragen. Die mandelförmigen Augen waren schwarz nachgezogen. Um seinen Hals hingen Bänder mit Ankern und Totenköpfen daran. An den Fingern blitzten schwere Ringe, die Fingernägel waren schwarz lackiert. Um die Hüfte trug er einen silberverzierten Gürtel. Die Gürtelschnalle hatte die Form eines zähnefletschenden Wolfskopfes. Der schwarze Mantel aus Leder, den der junge Mann getragen hatte, reichte bis zu seinen Stiefeln hinab.
Erst an diesem Tag erfuhr er also, dass der Verfasser der ihm zugeschickten Berichte ein 22-jähriger Geschichtsstudent war, der zusammen mit zwei Katzen in Altona wohnte. Ein leidenschaftlicher Sammler von Geschichten über mystische Begebenheiten, der sich gern in antiquarischen Buchhandlungen und in öffentlichen Bibliotheken aufhielt und in seinen schwarzen Kladden alles notierte, was ihm unterkam. Und der ganze Jahrgänge alter Fachzeitschriften aufkaufte, etwa die , ein Blatt für Polizeibeamte.
Sie hatten über eine Stunde gemeinsam in diesem Café gesessen und sich unterhalten. Obwohl Kielland auf Maydell den Eindruck eines Grüblers machte, war der Blick seiner schwarz umränderten Augen wasserklar gewesen. Daran konnte er sich gut erinnern. Und an seine Stimme, die weich klang, was bei einem Mann, der dieses raue Erscheinungsbild für sich gewählt hatte, überraschte. Und natürlich an die vielen Pausen, die entstanden, weil er nicht so recht wusste, was er außerhalb der Artikel mit dem jungen Mann reden...