E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Leciejewski Am Meer ist es schön
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8437-3533-9
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Ein emotionaler Roman über eine Freundschaft unter Verschickungskindern
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-8437-3533-9
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Barbara Leciejewski wollte schon als Kind Schriftstellerin werden, strebte jedoch zunächst einen »richtigen« Beruf an und zog fürs Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft nach München. Nach verschiedenen Jobs am Theater und einer Magisterarbeit über Kriminalromane arbeitete Barbara Leciejewski als Synchroncutterin. Die Liebe zum Schreiben ließ sie allerdings nie los, inzwischen ist sie Bestsellerautorin und glücklich in ihrem Traumberuf.
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1969
Es war Frühling, aber schon im Mai war es so warm, dass alle sagten: »Was für ein herrlicher Sommer!«
Es hätte ein schönes Jahr werden können, das Jahr 1969. Das Jahr der Mondlandung. Familie Lach hatte einen Schwarz-Weiß-Fernseher bekommen. Glücklich saßen sie vor dem neuen Gerät. Mit seinen Bildern in sämtlichen Grauschattierungen zwischen Schwarz und Weiß holte es sie in eine bunte Welt, bunter als ihre eigene. Nach dem Bad am Samstagabend durfte die achtjährige Susanne aufbleiben und mit der ganzen Familie Peter Alexander schauen. Mit Oma Ilse, Papa Roman, Mama Luise, der fünfzehnjährigen Schwester Edith und dem zwölfjährigen Bruder Wolfgang. In ihrem weichen Frotteeschlafanzug mit den bunten Fischen saß sie zwischen Mama und Oma auf der Couch.
Edith trug eine groß gemusterte Bluse in verschiedenen Rottönen, dazu ein Haarband in einem fröhlich-sonnigen Orange. Sie war sehr hübsch, aber manchmal fragte sich Susanne ernsthaft, ob ihre große Schwester vielleicht farbenblind war.
Wolfgang knibbelte wie so oft, wenn er in Gedanken ganz woanders war, an seiner Nagelhaut herum. Er träumte davon, dass eines Tages jemand vom 1. FCK bei einem Spiel seiner C-Jugend-Mannschaft auf der Seite stehen und ihn entdecken würde. Über dem Fußball vergaß er oft seine Schularbeiten, aber die Eltern waren stolz auf ihn. Ein begabter Fußballer in der Familie, einer, den man im Ort kannte und auch im Nachbarort und sogar darüber hinaus, weil er es war, der bei den Spielen die Tore schoss. Und die Noten waren ja noch in Ordnung.
Susanne, das Nesthäkchen, die kleine Nachzüglerin, meist Susi genannt, fühlte sich selbst sehr viel weniger hübsch oder begabt. Sie hatte ein liebes Gesicht mit leuchtend blauen Augen darin, umrahmt von hellblondem, halblangem Haar, doch sie lispelte gehörig, und das machte sie so schüchtern, dass sie unter fremden Leuten kaum ein Wort herausbrachte.
Manchmal äfften ihre Geschwister sie nach und fanden das lustig. Sie meinten es nicht böse, kniffen ihr hinterher liebevoll in die Wange oder legten ihr den Arm um die Schulter, aber natürlich trug es nicht gerade dazu bei, dass die kleine Schwester selbstbewusster wurde.
Kurz vor der Einschulung waren die Kinder von einem Amtsarzt untersucht worden. Susi hatte sich fürchterlich geniert, weil sie sich bis auf die Unterhose ausziehen und mit sämtlichen künftigen Abc-Schützen und deren Müttern in einem Raum warten musste, bis sie einzeln nach nebenan gerufen wurden. Dort wurde sie vermessen und gewogen und kritisch beäugt. Sie sei zu dünn, fand der Arzt, der selbst ein bisschen zu dick war, und viel zu schüchtern. Ob sie denn schon die Schulreife besäße, zweifelte er. Ja, doch, meinte ihre Mutter und verwies stolz auf einen Test, bei dem ihre Susi ein beeindruckendes Ergebnis erzielt hatte, überdurchschnittlich, besser als alle anderen Schulanfänger. Stolz streichelte sie ihrem kleinen Mädchen über das Haar, und Susi freute sich, doch der Arzt schien unzufrieden und äußerte nur ein grimmiges »Hm!«. Allem Anschein nach maß er diesem Test nicht sehr viel Bedeutung bei.
»Isst sie genug?«, fragte er skeptisch.
»O ja, sie isst gern und eigentlich alles«, sagte die Mutter. »Sie ist nicht mäkelig.«
»Hm!«
Susi stand da, in ihrer Unterhose. Sie hätte gern ihren Pulli wieder übergestreift und ihre Socken, der Fußboden war kalt.
»Ich will sie mir in ein, zwei Jahren noch einmal ansehen.« Mit dieser Anordnung schloss der Arzt die Untersuchung ab.
Zwei Jahre waren nun vergangen. Viel hatte sich nicht geändert. Susi war noch immer dünn, noch immer schüchtern und die Beste in ihrer Schulklasse. Bei der neuerlichen Untersuchung auf dem Gesundheitsamt fiel jener Satz, der ihr ganzes weiteres Leben bestimmen würde.
»Wir sollten das Kind zur Kur schicken.«
Die Mutter richtete es dem Vater aus. Der machte ein besorgtes Gesicht und fragte, was das denn kosten würde, eine Kur konnten sie sich niemals leisten. Doch die Mutter, die mit der gleichen besorgten Miene dem Arzt dieselbe Frage gestellt hatte, konnte ihn beruhigen. Es kostete sie gar nichts, wurde alles von der Krankenkasse übernommen. »Na ja, dann«, meinte der Vater erleichtert, und die Mutter blickte strahlend auf das Kind herab. »Freust du dich?« Susi nickte pflichtschuldig, obwohl sie nicht wusste, ob und worüber sie sich freuen sollte. Was war das: eine Kur? Und warum sollte sie da hin? Und so weit weg von zu Hause. Und ganz allein. Aber anscheinend war es etwas Gutes. Vielleicht würde sie dort auch endlich aufhören zu lispeln. Da musste es doch einen Trick geben. Sie hatte zwar längst alle Zähne, aber das S kam noch immer butterweich über ihre Lippen und weigerte sich zu zischen, wie es sich gehörte.
Anfang Juni war es so weit. An einem Montag würde Susi zur Kur reisen. Und am Samstagabend davor schaute sie mit ihrer Familie die Peter-Alexander-Show.
Als das Fernsehballett tanzte, kam Rhythmus in den Körper von Luise Lach, kaum erkennbar, aber Susi saß so dicht bei ihr, dass sie spürte, wie ihr Rumpf plötzlich ganz weich und biegsam wurde, nicht mehr steif wie sonst immer. Als ob sich die Mutter von irgendetwas löste, das sie sonst fest und gerade hielt. Es war schön. Oma Ilse auf der anderen Seite kreuzte die Arme vor der Brust, beugte sich ein wenig vor und warf Luise einen strengen Blick zu. Die Großmutter wirkte immer ein wenig mürrisch, deshalb war kaum zu erkennen, ob sie tatsächlich verstimmt war, doch die gekreuzten Arme deuteten darauf hin, dass sie es nicht guthieß, auf der Couch zu tanzen, wenn auch nur auf diese kaum wahrnehmbare Weise. Die sanften Bewegungen in Luises Körper erstarben, wie ertappt strebte er zurück in seine aufrechte Haltung.
Viele Jahre später wunderte sich Susanne darüber, wie genau sie sich an all das noch erinnern konnte, schließlich war sie damals erst acht Jahre alt, und im Rückblick schien es ihr manchmal, als hätte es überhaupt keine Kindheit gegeben. Nur die Zeit zwischen Anfang Juni und Ende Juli 1969 war eine Ausnahme. Davor und danach existierte so gut wie nichts, alles verschwand im Schatten dieser acht Wochen.
Die Mutter strich ihrer Jüngsten sanft über den Kopf und flüsterte lächelnd in ihr Ohr: »Freust du dich auf Montag?« Susi nickte brav. Sie war ein braves Kind, und doch wagte sie die eine Frage zu stellen, die sie umtrieb: »Aber was ist, wenn es mir dort nicht gefällt?«
»Oh, aber es wird dir sicher gefallen, mein Schatz. Stell dir vor, das Kinderkurheim liegt ganz nah am Meer. Und dann sind da ganz viele andere Kinder in deinem Alter. Ihr könnt den lieben langen Tag spielen. Du wirst so viel Spaß haben, glaub mir.«
»Ja, aber wenn es mir trotzdem nicht gefällt? Oder wenn ich ganz großes Heimweh habe. Was mache ich denn dann?«
Luise ging vor ihrem kleinen Mädchen in die Hocke. »Hast du davor Angst, Susannchen?«
Susi nickte heftiger als zuvor.
Ihre Mutter schloss sie in die Arme. »Aber das musst du doch nicht. Wenn es dir gar nicht gefällt und dein Heimweh so groß ist, dass dir dein Herz viel zu weh tut, dann schreibst du uns, und dann holen wir dich.«
»Versprochen?«
»Versprochen!«
»Ich schreibe euch ganz oft.«
»Ja, das machst du, mein kleines Susannchen.«
Das Kind schmiegte sich an seine Mutter und war ein wenig getröstet, und fast, ja fast freute sich Susi auf die Zeit am Meer. Sie würde so viel zu erzählen haben, wenn sie nach Hause kam, und vielleicht war sie dann auch nicht mehr so ein halbes Hemd, wie der Amtsarzt sie genannt hatte. Halbes Hemd! Sie hätte über diesen komischen Ausdruck sicher lachen müssen, hätte der Doktor sie dabei nicht so grimmig angeschaut. Möglich, dass sie ein wenig dünner war als andere Kinder, aber sie war stark, sie schlug Edith im Armdrücken und half im Garten schon beim Umgraben. Da brauchte man Kraft, wenn man den Spaten in den Boden rammen und dann mitsamt der Erde herausziehen und umdrehen wollte. Wolfgang hatte sogar ihre Muskeln am Oberarm geprüft und anerkennend den Mund verzogen. Susi war stark, sie hatte Kraft und Muskeln, und wäre sie weniger schüchtern gewesen, hätte sie das dem Amtsarzt gesagt, aber das Wort Muskeln hatte ein ganz blödes S in der Mitte. Susi stellte sich seine hervorquellenden Augen vor, wenn er das gehört hätte. Er hätte ihr wahrscheinlich mit seinen wulstigen Fingern in den Mund gefasst und gefragt: »Wieso lispelt dieses Kind denn, wenn es schon alle Zähne hat?« Und ihre Eltern hätten es ihm nicht erklären können. Da galt sie lieber als halbes Hemd.
Am Montag, ganz früh, ging es nach Kaiserslautern zum Zug.
Kaiserslautern, das war für Susi die große Welt. Eine richtige Stadt mit riesigen Kaufhäusern. Dort hatten sie auch das schöne Kleid für Tante Hettys Hochzeit gekauft. Sonst musste Susi immer die alten Kleider ihrer Schwester auftragen, aber dieses eine Mal hatte sie ein eigenes, neues bekommen. Und hinterher hatte sie im Restaurant im obersten Stockwerk mit den Eltern zu Mittag gegessen. Sogar einen Eisbecher...




