E-Book, Deutsch, 215 Seiten
Lecoq Balzac und ich
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7518-8032-9
Verlag: Friedenauer Presse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie man sein Leben meistert, indem man grandios scheitert
E-Book, Deutsch, 215 Seiten
ISBN: 978-3-7518-8032-9
Verlag: Friedenauer Presse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schon in jungen Jahren sehnte sich Titiou Lecoq nach einer Zeit, in der Schriftsteller noch Superstars waren. An einem emotionalen Tiefpunkt angelangt, hört sie im Radio von dem Balzac-Haus in Passy und beschließt kurzerhand, sich auf die Spuren ihrer literarischen Jugendliebe zu begeben. Doch das Haus ist überraschend leer, die Einsamkeit des legendären Autors spürbar. Statt einen Psychologen aufzusuchen, entscheidet sich Lecoq, eine Biografie Balzacs zu schreiben und der Frage nachzugehen, warum der große Schriftsteller sich in dieser kleinen Wohnung verkrochen hat und die Besucher dort heute nur noch eine hässliche Vase vorfinden. Sie entlarvt den Mythos des Literaturgenies und zeigt uns einen Mann, der schrieb, um zu Geld und Ruhm zu gelangen, der sich nach Liebe sehnte, aber sein Glück nur erträumen konnte, der seine unvorteilhaften Körperproportionen durch extravagante Kleidung zu kaschieren suchte, der ein Faible für Luxus hatte und dafür ein finanzielles Fiasko nach dem anderen in Kauf nahm. Kurzum: einen Mann aus Fleisch und Blut. Mit schwungvoller Feder fegt Titiou Lecoq in Balzac und ich den Staub von dem literarischen Denkmal Balzac und führt uns seine ungeheuerliche Modernität vor Augen: sein Engagement für die Frauen, seinen Unternehmergeist, seine Verirrungen in einem System, in dem Geld eine notwendige Voraussetzung für Glück zu sein scheint.
Titiou (Audrey) Lecoq, 1980 geboren, studierte u. A. Semiotik und arbeitete als Nachtwächterin, Empfangsdame, Sekretärin, Erzieherin, bei einer Bank und beim Arbeitsamt, bevor sie sich dem Journalismus zuwandte. Heute schreibt sie als freie Autorin für verschiedene Magazine und hat einen vielbesuchten Blog. Sie veröffentlichte vielbeachtete Romane, Essays und Sachbücher, auf Deutsch bislang erschienen: Die Theorie vom Marmeladenbrot (Ullstein).
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VORWORT
Ich hatte soeben einen Essay über Frauen und Hausarbeit abgeschlossen.1 Ich fühlte mich ausgebrannt und untätig, hing den ganzen Tag lang in meinem schmuddeligen Schlafanzug herum und überlegte, was ich tun könnte. Als ich eines Morgens gerade mal wieder faul auf der Couch lag, hörte ich, wie im Radio das Balzac-Haus in Passy erwähnt wurde. Ich war wie elektrisiert. Balzac war die große Liebe meiner Jugend. Ich war mit seinen Figuren aufgewachsen und mit der Sehnsucht nach einer Zeit, in der Autoren noch Superstars waren. Und wenn ich einfach hinfahren würde? In der Metro dachte ich, wie grotesk das Ganze doch war. Fast wäre ich wieder umgekehrt. Was sollte ich völlig allein dort? Meine Langeweile überlisten, meine Trübsal vertreiben? Trotz allem gelangte ich bis zur Rue Raynouard, die sich dadurch auszeichnet, egal von wo aus man startet, genau am entgegengesetzten Ende von Paris zu liegen. Vor dem Museum zögerte ich wieder. Der Eintritt war frei. Ich ging hinein. Es war düster. Keine Besucher weit und breit. Ich streifte durch die ersten beiden Räume, in denen es nicht viel zu sehen gab. Ein paar posthume Porträts, die Balzacs Schaffenskraft inszenierten – Untätigkeit schien er offensichtlich nicht zu kennen. Die Gemälde hingen an Wänden, die in einem Lila gestrichen waren, das an einen Einrichtungskatalog aus den Nullerjahren erinnerte. Das Ganze hatte nichts von einem Wohnhaus, alles wirkte unpersönlich. Ich versuchte mir einzureden, dass ich diesen Augenblick genoss, aber in Wirklichkeit war ich ziemlich enttäuscht. Doch dann betrat ich den hintersten und kleinsten Raum, das Arbeitszimmer des Schriftstellers, das sich noch fast in seinem ursprünglichen Zustand befand. Die Wände waren mit rotem Stoff bespannt, urplötzlich fühlte ich mich ins 19. Jahrhundert katapultiert. Zu sehen waren Balzacs Schreibtisch, sein Sessel, seine Büste sowie ein von ihm erstandener Kamin. In einer Vitrine wurde neben seinem mit Türkisen besetzten Spazierstock auch eine scheußliche Vase präsentiert. Ein Hinweisschild gab folgende Auskunft dazu: Vase, Geschenk der Gräfin Ida de Bocarmé »Sie hat mir aus Böhmen ein Glas (…) bringen lassen, auf dem ›Divo Balzac‹ steht, nebst einer mich bekrönenden Muse und einer weiteren, die auf einen Folianten ›Menschliche Komödie‹ schreibt! Der Gipfel der Geschmacklosigkeit.« Zu den wenigen Objekten, die hier zu sehen waren, zählte also diese Vase, die selbst Balzac abscheulich gefunden hatte. Darüber musste ich lachen und fühlte mich sofort besser. Ich betrachtete den Raum im Ganzen, alles schien mir friedlich und unvergänglich. Draußen riss eine Wolke auf, plötzlich strahlte die Sonne durch die kleinen Fensterscheiben. Ein Strahl fiel schräg auf das Intarsienparkett, und etwas berührte mich zutiefst: Balzac war hier gewesen, in diesem Raum, er hatte seine Nächte hier verbracht, zurückgezogen, allein mit seinen Papieren und Hunderten von Figuren im Kopf, und jetzt war er tot. Sein Tod erschien mir auf einmal als das Schrecklichste auf der ganzen Welt. Ich dachte an sein Leben, von dem ich wusste, dass es nicht sonderlich glücklich gewesen war. Über Balzac gibt es Aussprüche, denen man nicht entkommt: Ein »Schreibwütiger« sei er gewesen, mit einer »herkulischen Arbeitskraft«, »ein Prometheus, der achtzehn Stunden täglich an seinen Schreibtisch gekettet ist und nur pausiert, um sich mit Kaffee zuzudröhnen« – und damals handelte es sich nicht um verdünnten Instantkaffee. Er schrieb nachts, um nicht von den Geräuschen der Welt oder den Gerichtsvollziehern gestört zu werden. Dieser Arbeitsrhythmus sowie die Anzahl seiner Werke, insgesamt über neunzig Romane und Erzählungen, erklären, weshalb, wenn es um Balzac geht, gern ein beliebiger Begriff aus dem Wortfeld der Stärke mit dem Namen eines Halbgottes kombiniert wird und der Eindruck entsteht, er hätte im Wald von Saint-Cloud eigenhändig Bäume gefällt, um daraus Papier herzustellen. Der Mythos von der Balzac’schen Kraft geht auf den Tag seiner Beerdigung zurück, als Victor Hugo im Regen vor seinem Sarg stand und »den gewaltigen, unermüdlichen Arbeiter«2 rühmte, der sich radikal der modernen Gesellschaft verschrieb, der herausriss, grub, sezierte, prüfte und sondierte. Diese Überbewertung der körperlichen Kraft zur Darstellung einer Tätigkeit – dem Schreiben –, die im Wesentlichen darin besteht, in einem Sessel zu sitzen, trug maßgeblich zum Mythos des großen Mannes bei. Worüber weniger gesprochen wurde, sei es bei seiner Beerdigung, sei es im Französischunterricht, ist die Tatsache, dass Balzac nicht nur das Denkmal der französischen Literatur, das monströse, Lammkeulen und Kaffeekannen verschlingende Genie war, sondern auch jemand, dem praktisch alles misslang. Es gibt einen intimen, menschlichen und erschöpften Balzac, der als größter Pechvogel der Literaturgeschichte gelten könnte und den ich weitaus anrührender und interessanter finde als die Figur des Halbgottes. Wie sollte man ihn nicht ins Herz schließen, ihn, der mit allen möglichen Mitteln nach Reichtum gestrebt und sich als König des Reinfalls erwiesen hat? In der Literatur wird nicht gerne über Geld gesprochen, geschweige denn ein bedeutender Autor als jemand präsentiert, der sich bereichern will. Balzac jedoch verfolgte drei Ziele im Leben: Er wollte bekannt, geliebt und reich werden. In seiner Korrespondenz wimmelt es von Überlegungen dieser Art: »Werden meine beiden einzigen und unermesslichen Wünsche, berühmt zu sein und geliebt zu werden, je in Erfüllung gehen?«3 Die Kunst um der Kunst willen interessierte ihn nicht. Erfolg war für ihn kein Ideal des verabscheuenswürdigen Bürgers. Er wollte berühmt sein und am Arm einer schönen Frau durch die modischen Salons stolzieren, bevor er in die teuerste und vornehmste Kutsche von Paris stieg. Es sollte ihm ungleich leichter fallen, berühmt zu werden als reich. Honoré de Balzac hat sich daran aufgerieben, jenes mythische Stadium zu erreichen, in dem man leben kann, ohne rechnen zu müssen. Er hat alles versucht und ist in allem gescheitert. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist Balzacs Geschichte die eines Mannes, der Geld verdienen wollte und sein Leben lang keines hatte. Die Einsamkeit, die sein Arbeitszimmer noch immer ausstrahlte, erschütterte mich. Ich sah den erwachsenen Mann vor mir, der andere Leben erfunden hatte, um die eigenen Enttäuschungen zu kompensieren. Da betrat eine Frau den Raum. Ich tat so, als betrachtete ich ein Bildnis von Ewelina Hanska, bis die ungebetene Besucherin mich wieder in Ruhe ließ. Sie hatte mich in meiner Rührung gestört. Als ich herauskam, kaufte ich sofort diverse Biografien. Dann nahm ich mir Balzacs Korrespondenz vor. Er ließ mich nicht mehr los. Was hatte er falsch gemacht, um sein Glück zu verpassen? Hatte er sein Leben zu Recht oder zu Unrecht so geführt, wie er es geführt hatte? Nächtelang saß ich in meinem Arbeitszimmer und las Beschreibungen seines Mobiliars. Ich begann im Internet zu recherchieren, wo seine Lieblingsobjekte gelandet sein könnten. Ich vertiefte mich in die Archive der Bibliothèque nationale de France, in die digitalen Ausgaben der Auktionskataloge. Ich stöberte ein Buch aus dem Jahr 1938 auf, in dem Balzacs jährliche Kostenaufstellungen verzeichnet waren, und verschlang es wie einen Krimi. Sobald ich meinen Schreibtisch verließ, hatte ich den Eindruck, dass mich alles im Leben ständig auf Balzac zurückwarf. Ich sah Lila, seine Lieblingsfarbe, schon dachte ich an ihn. Es war Pfirsichzeit, er liebte Pfirsiche. Ich setzte mir in den Kopf, vor jedem seiner Wohnhäuser, selbst vor den inzwischen zerstörten, ein Foto von mir zu machen. Ich hatte das Gefühl, in eine Spirale gezogen zu werden, die sich mit rasender Geschwindigkeit drehte, aber nirgendwohin führte. Nach ein paar Wochen dieser Art musste ich einsehen, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder trieb ich einen guten Psychologen auf, der meine obsessive Störung behandeln könnte, oder ich schrieb eine Biografie über Balzac. Eine Biografie, die erklärte, weshalb er sich am anderen Ende von Paris in dieser kleinen Wohnung verschanzt hatte und weshalb die heutigen Besucher dort nur noch eine abgrundhässliche Vase vorfanden. Ein Text, der im Gegensatz zu Ratgebern à la Elegant wie eine Pariserin erklärte, wie man mit Balzac sein Leben in den Sand setzen konnte. Sein Beispiel lädt dazu ein, die hochtrabenden, in den sozialen Netzwerken kursierenden Zitate über Scheitern und Erfolg zu relativieren, die Behauptungen von Churchill (»Erfolg heißt einmal mehr aufstehen als hinfallen«), Einstein (»Sie scheitern nie, bis Sie aufhören zu versuchen«), Lao Tse (»Scheitern ist die Grundlage des...