E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Leduc Thérèse und Isabelle
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8412-2693-8
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-8412-2693-8
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Was für ein Temperament, was für ein Stil!« Simone de Beauvoir.
Die Liebesgeschichte von Thérèse und Isabelle galt im Frankreich der sechziger Jahre als skandalös und wurde nur zensiert veröffentlicht. Erst kürzlich ist die Originalfassung erschienen, die jetzt auf Deutsch vorliegt: Ein katholisches Internat, zwei Schülerinnen, die sich jede Nacht heimlich besuchen und mit ihren jungen Körpern auf Entdeckungsreise gehen. In einem mutigen, lyrischen, kraftvollen Ton schreibt Violette Leduc von der erotischen Mädchenliebe wie es keine Autorin vor und nach ihr vermocht hat. Zu ihren größten Bewunderinnen gehörte Simone de Beauvoir, mit der sie eine enge Freundschaft verband. Leducs Erzählung ist ein einziger Rausch, ein radikales Eintauchen in den Moment der Lust.
Violette Leduc (1907-1972) wurde in Arras geboren. Sie war Sekretärin in einem Verlag, bevor sie anfing zu schreiben. Ihre Autobiographie (»La bâtarde», 1964) mit einem Vorwort von Simone de Beauvoir machte sie berühmt. Jean Genet, Nathalie Sarraute and Albert Camus verehrten sie. Leduc selbst litt ein Leben lang an ihrer 'illegitimen' Herkunft: Der Vater aus wohlhabender Familie erkannte sie nie an, zur verbitterten Mutter pflegte sie eine heftige Hassliebe. Die eigenen Kämpfe um Glück und Liebe waren stets Anlass zum Schreiben. Ihr Leben wurde 2013 von Martin Provost verfilmt.
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Die Woche begann am Sonntagabend im Schuhputzraum. Wir polierten unsere Schuhe, die am Morgen in der heimischen Küche oder auch im Garten sauber gebürstet worden waren. Wir kamen aus der Stadt, hungrig waren wir nicht. Wir mieden den Speisesaal bis zum Montagmorgen, drehten stattdessen ein paar Runden im Hof und gingen in Zweierreihen in den Schuhputzraum, begleitet von dem gelangweilten Feldwebel. Es roch wie in einer Schusterei, doch glich der Raum sonst keineswegs den kleinen Werkbuden, in denen Nagel, Leiste und Hammer uns wieder Lust machten, den Fuß vor die Tür zu setzen. Wir polierten in einer Kapelle der Monotonie, fensterlos und schlecht beleuchtet, in der wir an den Abenden vor Schulbeginn mit unseren Hausschuhen auf dem Schoß vor uns hin träumten. Der tugendhafte Wachsgeruch, der in einer Drogerie belebend wirkt, bedrückte uns hier. Unbeholfen, lustlos schwenkten wir unsere Lappen. Wir hatten unsere Ungezwungenheit verloren. Die neue Aufseherin, die wie wir auf der Bank saß, las und ließ sich von der Erzählung aus der Schule aus der Stadt führen, während wir im Schummerlicht mit dem Tuch über das Leder strichen. Wir waren an jenem Abend zehn Einrückende, blass in diesem Wartezimmerlicht, zehn Einrückende, die nicht miteinander sprachen, zehn Schmollende, die sich ähnelten, sich aus dem Weg gingen.
Meine Zukunft ähnelt der ihren nicht. Ich habe keine Zukunft am Mädcheninternat. Meine Mutter sagte, wenn du mir zu sehr fehlst, nehme ich dich wieder zu mir. Für die anderen Schülerinnen ist das Internat kein Schiff. Mutter kann mich jeden Moment wieder zu sich nehmen. Ich bin eine Reisende. Sie kann mich schon am ersten Schultag abholen, schon heute Abend. Dreißig Tage. Dreißig Tage bin ich schon an Bord. Ich will hier leben, will hier meine Schuhe polieren. Marthe wird man nicht abholen … Julienne wird man nicht abholen … Isabelle wird man nicht abholen … Sie sehen ihre Zukunft klar vor sich, obwohl ich jede Wette eingehen würde, dass Isabelle, wenn sie auf ihre Schuhe spuckt, auf die Schule spuckt. Mein Wachs wäre weniger fest, wenn ich spucken würde wie sie. Es wäre leichter zu verstreichen. Sie hat Glück. Ihre Eltern sind Lehrer. Wer sollte sie schon von der Schule nehmen? Sie spuckt. Vielleicht ist sie wütend, die beste Schülerin des Internats … Ich spucke wie sie, ich befeuchte mein Wachs, doch wo werde ich in einem Monat sein? Ich bin eine schlechte Schülerin, die schlechteste im großen Schlafsaal. Das macht mir nichts aus. Ich hasse die Direktorin, spuck, Mädchen, spuck auf dein Wachs, ich hasse Nähen, Gymnastik, Chemie, ich hasse alles und meide meine Kameradinnen. Es ist traurig, aber ich will trotzdem nicht von hier weg. Meine Mutter hat geheiratet, meine Mutter hat mich betrogen.
Die Bürste fiel mir vom Schoß. Während ich noch grübelte, gab Isabelle meiner Glanzbürste einen Tritt.
»Meine Bürste, meine Bürste!«
Isabelle senkte den Blick, Isabelle spuckte fester auf das Boxcalf. Die Bürste rutschte zwischen die Füße der Aufseherin. Diesen Tritt wirst du mir bezahlen. Ich hob die Bürste auf, drückte Isabelles Gesicht nach hinten, fuhr mit den Fingern hinein, drückte mein Tuch voller Wachs, Staub und roter Creme in ihre Augen, ihren Mund, sah ihre milchweiße Haut im Ausschnitt ihrer Uniform, nahm meine Hand aus ihrem Gesicht, kehrte zu meinem Platz zurück. Wütend und wortlos säuberte sich Isabelle ihre Augen und Lippen, spuckte ein sechstes Mal auf ihren Schuh, zog die Schultern hoch, die Aufseherin klappte ihr Buch zu, klatschte in die Hände, das Licht zuckte zusammen. Isabelle fing wieder an, das Leder zu polieren.
Wir warteten auf sie. Sie schlug die Beine übereinander, rubbelte. »Wir müssen gehen«, sagte die neue Aufseherin schüchtern zu ihr. Wir waren mit klappernden Absätzen in den Schuhputzraum gekommen und schlichen in den schwarzen Hausschuhen falscher Waisen wieder hinaus. Der Filztreter, enger Verwandter der Espadrille, schluckt alles, was er streift: Stein, Holz, Erde. Auf Engelssohlen verließen wir den Raum, während uns der Seelenschmerz in die Füße sank. Wie jeden Sonntag gingen wir in Begleitung des Feldwebels in den Schlafsaal hoch, auf dem Weg stieg uns der Rosenduft des Reinigungsmittels in die Nase. Isabelle hatte uns auf der Treppe eingeholt.
Ich hasse sie, ich will sie hassen. Es wäre eine Erleichterung, sie noch mehr zu hassen. Morgen wird sie im Speisesaal wieder an meinem Tisch sitzen. Als Tischoberhaupt. Isabelle ist an meinem Tisch das Oberhaupt. Und ich kann den Tisch nicht wechseln. Ihr kleines schiefes Lächeln, wenn ich zu spät komme. Das habe ich ihr aus dem Gesicht gewischt. Diese angeborene Chuzpe, die werde ich ihr auch noch austreiben. Wenn es sein muss, werde ich zur Direktorin gehen, aber den Tisch im Speisesaal werde ich wechseln.
Wir traten in den Schlafsaal, wo der stumpfe Glanz des Linoleums eine Verheißung auf die Einsamkeit des Ganges um Mitternacht war. Wir hoben den Perkalvorhang und standen in unserem Schlafzimmer ohne Mauern, ohne Schloss. Isabelle schob nach allen anderen die Vorhangringe über die Stange, die Wache drehte ihre Runde. Wir öffneten unsere Koffer, nahmen unsere Wäsche heraus, legten sie in das Fach in unserem Schrank, behielten die Laken für unser schmales Bett zurück, warfen den Schlüssel in den Koffer und klappten ihn für acht Tage zu, verstauten auch ihn im Schrank, bezogen unser Bett. Die ins Licht der Stadt getauchten Gegenstände gehörten uns nicht. Wir legten unsere Uniform ab, hängten sie für den Spaziergang am Donnerstag auf einen Bügel, falteten unsere Unterwäsche, legten sie auf den Stuhl, nahmen unseren Morgenmantel vom Haken.
Isabelle verlässt mit ihrem Krug den Schlafsaal.
Ich lausche, wie die Troddel ihres Gürtels über das Linoleum streicht. Höre das Trommeln ihrer Finger auf der Emaille. Ihre Schlafnische an meiner. Es geschieht genau vor mir: ihr Kommen und Gehen. Hast du wieder geklimpert? Hast du schön geklimpert? Das fragt sie mich, wenn ich zu spät in den Speisesaal komme. Ich werde ihr das spöttische Lächeln aus dem Gesicht wischen. Ich habe nicht geklimpert. Ich habe Chopins verminderte Arpeggios geübt. Sie verspottet mich, weil ich mich im Musiksaal einschließe. Sie behauptet, ich mache Krach, sie behauptet, mich noch im Studiersaal hören zu können. Es stimmt: Ich übe, und es kommt nur Krach heraus. Wieder sie, immer sie, immer nur sie auf dem Treppenabsatz. Sie steht vor mir. Wenn ich gewusst hätte, dass sie Wasser vom Hahn holt, hätte ich mich langsamer ausgekleidet. Verschwinde ich? Komme ich wieder, wenn sie weg ist? Nein, ich bleibe. Ich habe keine Angst vor ihr – ich hasse sie. Sie steht mit dem Rücken zu mir. So etwas Abgebrühtes. Sie weiß, dass jemand hinter ihr steht, aber sie hat es nicht eilig. Als wollte sie mich ärgern – wenn sie wüsste, dass ich es bin. Aber sie weiß es nicht. Sie will nicht einmal wissen, wer hinter ihr steht. Wenn ich geahnt hätte, dass sie so trödeln würde, wäre ich nicht gekommen. Ich habe gedacht, sie sei weit weg, doch da ist sie, direkt vor mir. Ihr Krug fast voll. Endlich. Ihr langes offenes Haar kenne ich, ihr langes offenes Haar ist nichts Neues, sie führt es oft auf dem Gang spazieren. Entschuldigung. Sie hat Entschuldigung gesagt. Während ich an ihr Haar dachte, hat sie damit mein Gesicht berührt. Das übersteigt meine Phantasie. Sie hat ihr Haar zurückgeworfen und es mir ins Gesicht geschleudert. Ihr volles Haar auf meinen Lippen. Sie wusste nicht, dass ich hinter ihr stand und hat mir ihr Haar ins Gesicht geworfen! Sie wusste nicht, dass ich hinter ihr stand und hat sich bei mir entschuldigt. Nicht zu glauben. Sie sagt nicht: Ich halte dich auf, ich bin zu langsam, der Hahn funktioniert nicht. Sie wirft mir ihr Haar ins Gesicht und entschuldigt sich dabei. Es kommt weniger Wasser. Sie hat am Hahn gedreht. Ich werde nicht mit dir sprechen, es kommt kaum Wasser, aber kein Wort wirst du von mir hören. Du ignorierst mich, ich ignoriere dich. Warum willst du, dass ich warte? Ist es das, was du willst? Ich werde nichts sagen. Wenn du Zeit hast, habe ich auch Zeit.
Die Aufseherin im Gang rief nach uns, als würden wir zwei unter einer Decke stecken. Isabelle verließ den Raum.
Ich hörte, wie sie log und der neuen Aufseherin erklärte, es sei kein Wasser aus dem Hahn gekommen.
Die Aufseherin unterhielt sich mit ihr durch den Perkalvorhang: »Sie sind achtzehn? Wir sind fast gleich alt«, sagte die Aufseherin. Sie wurden vom Pfeifen eines Zuges unterbrochen, der aus dem Bahnhof fuhr, den wir um sieben Uhr verlassen hatten. Isabelle seifte sich ein.
Geklimpert? Hast du schön geklimpert? Wer kann mir sagen, was sie im Schilde führt? Sie ist eine, die etwas im Schilde führt. Sie träumt oder sie spuckt. Sie träumt und arbeitet besser als alle anderen.
»Und Sie, wie alt sind Sie?«, fragte mich die neue Aufseherin.
Isabelle wird erfahren, wie alt ich bin.
»Siebzehn«, murmelte ich.
»Sind Sie in derselben Klasse?«, fragte die Aufseherin.
»Ja, in derselben Klasse«, antwortete Isabelle, die frenetisch ihren Waschhandschuh ausspülte.
»Sie lügt«, rief ich. »Merken Sie nicht, dass sie sich über Sie lustig macht? Ich bin nicht in ihrer Klasse und es ist mir auch egal.«
»Benehmen Sie sich«, sagte die Aufseherin zu mir.
Ich schob meinen Vorhang ein Stück beiseite. Der Feldwebel ging davon und nahm auf dem Gang seine Lektüre wieder auf. Isabelle lachte in ihrer Nische. Eine Schülerin bastelte etwas aus dem Verpackungspapier ihrer Süßigkeiten.
...