E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Leendertz Der erschöpfte Staat
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-86854-477-0
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine andere Geschichte des Neoliberalismus
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-86854-477-0
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In den 1960er Jahren traute sich der Staat etwas zu: Die Gesellschaft und ihre Institutionen sollten moderner und Krisen vorausschauend gemanagt werden. Die USA riefen den »Krieg gegen die Armut« aus und legten dazu ambitionierte Programme auf. Spätestens mit der Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten war es damit vorbei; das staatliche »Biest« sollte »ausgehungert« werden. Ein bislang nicht ausreichend gewürdigtes Motiv dieser Staatskritik ist Gegenstand von Ariane Leendertz' großer Studie: der Diskurs über Komplexität. Die soziale Welt sei letztlich viel zu kompliziert und unüberschaubar, es gebe immer überraschende Wechselwirkungen und nicht intendierte Folgen; staatliche Eingriffe, so die Rhetorik, würden alles nur noch schlimmer machen. Seit den 1960er Jahren erodierte, wie die Historikerin zeigt, die Überzeugung, mithilfe des Staates gesellschaftliche Probleme lösen zu können. Ihre Studie zeichnet diesen Prozess anhand der Debatten u?ber Komplexität und Regierbarkeit und der Geschichte der Urban Policy in den USA nach. Mit ihrem Buch gelingt es Ariane Leendertz auf bestechende Weise, den Wandel von Staatlichkeit und die Verbindung zwischen neoliberaler Theorie und politischer Praxis zu veranschaulichen.
Ariane Leendertz, PD Dr., ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Zuvor war sie Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.
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Einleitung
Am 27. März 1978 löste die Regierung des Demokraten Jimmy Carter eines ihrer wichtigsten Wahlversprechen ein. In einer groß angelegten Zeremonie im Weißen Haus stellte der 39. US-Präsident die erste »National Urban Policy« in der Geschichte der Vereinigten Staaten vor. Die vielen Förderlinien zahlreicher Ministerien sollten nun erstmals unter einem Dach versammelt und auf übergeordnete Zielsetzungen abgestimmt werden. Der Präsentation im East Room und dem anschließenden Empfang wohnten mehr als 250 Gäste bei. Neben hochrangigen Mitarbeitern des Präsidenten nahmen mehrere Kabinettsmitglieder teil. In Pressebriefings standen die federführende Ministerin Patricia Roberts Harris und Carters innenpolitischer Chefberater Stuart Eizenstat den Medien Rede und Antwort. Die Regierung begnüge sich nicht damit, für komplexe Probleme einfache Antworten anzubieten. Sie setze vielmehr an den tieferliegenden Ursachen der Probleme an, die sich in städtischen Räumen gegenseitig verstärkten: von Arbeitslosigkeit und Rassendiskriminierung über Zersiedlung und wirtschaftlichen Verfall bis zu finanzieller Not.1 Obwohl der Präsident zugab, dass frühere politische Programme oft wenig effektiv gewesen seien, betonte er, die Bundesregierung müsse dazu beitragen, die Lebensbedingungen der Menschen in den Städten zu verbessern und Niedergang aufzuhalten: »The deterioration of urban life in the United States is one of the most complex and deeply rooted problems we face. The Federal government has the clear duty to lead the effort to reverse that deterioration.«2 Carters Rhetorik spiegelte die Tradition der im Progressivismus verwurzelten US-amerikanischen Variante sozialliberaler Politik. In der Praxis der 1970er Jahre gestaltete sich die Umsetzung dieser Programmatik allerdings überaus schwierig. Die vielfach konstatierte »Komplexität« der Problemlagen schien sich gezielten Interventionen immer weiter zu entziehen. Mehr noch: Wie der zunehmend einflussreiche neoliberale Flügel um Ronald Reagan in der Republikanischen Partei argumentierte, machten die staatlichen Lösungsversuche alles nur noch schlimmer. Reagan und seine Unterstützer hatten völlig andere Vorstellungen über die Rolle des Staates und lehnten jegliche Verantwortung des Bundes gegenüber sozialen und ökonomischen Krisenerscheinungen im städtischen Raum ab. Ihr Ziel war es, den Einfluss der Bundesregierung substanziell zu verringern, Wirtschaft und Gesellschaft vom Joch des regulierenden Interventionsstaats zu befreien und überflüssige Politikfelder abzuschaffen. Man könnte die Geschichte dieses Wandels mit dem klassischen Narrativ der neoliberalen Wende erzählen: als eine Geschichte des Aufstiegs der neuen konservativen Rechten, ihrer militanten Kritik am Wohlfahrtsstaat und der Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftstheorien und Ideologie im Anschluss an Friedrich August Hayek und Milton Friedman in der Republikanischen Partei der Vereinigten Staaten. Dies ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite bildet die Erschöpfung problemlösender Politik. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre begann die Erosion einer Konzeption politisch-administrativen Handelns, die hier als solutionism bezeichnet werden soll. Den Kern der Regierungsphilosophie des solutionism bildete die Überzeugung, dass der Staat mithilfe der ihm zur Verfügung stehenden intellektuellen und materiellen Ressourcen zur Lösung sozialer Probleme und zu steuernden Eingriffen in strukturelle Entwicklungen fähig sein könne – und solle. Diese Überzeugung, die in den USA in den 1930er Jahren mit dem New Deal politisch wirksam wurde und in der Ära der Great Society ihren Höhepunkt erreichte, wurde ab Mitte der 1960er Jahre zunehmend infrage gestellt. Dieses Buch verfolgt die Erschöpfung des solutionism und den damit verkoppelten Wandel von Staatlichkeit auf zwei Ebenen: erstens auf der ideellen Ebene sozialwissenschaftlicher Theoriedebatten über soziale »Komplexität« und politisch-intellektueller Diskussionen über die »Regierbarkeit« pluralistischer demokratischer Gesellschaften, zweitens auf der institutionellen Ebene eines konkreten Politik- und staatlichen Tätigkeitsfelds, der »urban policy«. Die Komplexitätsdebatte zeigt, wie in den 1970er Jahren praktisch von innen heraus die wissenschaftlich-theoretischen Grundlagen des solutionism wegbrachen. Neue Erkenntnisse über das Phänomen sozialer Komplexität rüttelten an den Möglichkeiten sozialwissenschaftlichen Wissens und politischer Gestaltung. Die staatlichen Einrichtungen und Programme schienen mit jedem Versuch, auf die vielfach miteinander verzahnten Probleme einzugehen, nur selbst noch komplexer zu werden. In der zeitgenössischen Debatte kursierten Warnungen über eine Überladung und Überforderung des Staates. Trotzdem versuchte die Regierung unter Jimmy Carter in der Urban Policy am Ansatz aktiver, problemlösender Politik festzuhalten. Unter Ronald Reagan vollzog die US-Regierung ab 1981 dann eine radikale Wende. Die Erosion der Wissensgrundlagen politischer Steuerung überschnitt sich mit dem Aufstieg neoliberal und staatskritisch geprägter Theorien und Selbstverständnisse des Regierens. Der Urban-Policy-Ansatz der Regierung Reagan war stark von Annahmen der Public-Choice-Theorie beeinflusst, die zum neoliberalen Ideenkomplex gehörte. Den Akteuren um Reagan gelang eine nachhaltig wirksame institutionelle Revolution, von der sich das Politikfeld auch in der Amtszeit des Demokraten Bill Clinton in den 1990er Jahren nicht mehr erholte. Seine Regierung knüpfte zwar an den Anspruch der Problemlösung an, war aber ab 1995 mit einer hartleibigen oppositionellen Mehrheit der Republikaner im Kongress konfrontiert. So geht es in diesem Buch nicht nur um die Geschichte der Erschöpfung problemlösender Politik und den Aufstieg neoliberaler Konzepte, sondern auch um Kunst und Leid des Regierens in der realen demokratischen Praxis und um den Umbau staatlicher Institutionen. Was der Staat ist oder nicht ist, seine Aufgaben und sein Verhältnis zur Gesellschaft, zur Wirtschaft, zur Wissenschaft oder zum Individuum – all das wurde in den Demokratien des 20. und 21. Jahrhunderts laufend ausgehandelt und neu definiert. Der Staat war und ist nicht nur eine institutionelle Ordnung, sondern zugleich ein ideelles Konstrukt, das immer umkämpft und in Bewegung war. Die Transformation von Staatlichkeit umfasst sich wandelnde Vorstellungen über den Staat und institutionellen Wandel.3 Um beide Dimensionen zu erfassen, verschränkt diese Studie Wissenschafts-, Ideen- und Politikgeschichte. Sie verknüpft damit eine Reihe von Themenkomplexen, Forschungsfragen und Interpretationsansätzen, die in den letzten Jahren in der deutschen, europäischen und US-amerikanischen Geschichtsschreibung, aber auch in Soziologie und Politikwissenschaft mit unterschiedlicher Intensität und unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen diskutiert wurden: gesamtgesellschaftliche Umbrüche »revolutionärer Qualität« in der Zeit »nach dem Boom« und die hierbei noch wenig untersuchte Transformation des Staates; die Rolle sozialwissenschaftlichen Wissens im politischen und gesellschaftlichen Wandel; den Zusammenhang zwischen Ideen und Policymaking; neoliberales Ordnungsdenken in der konkreten politischen Praxis; Wandel der politischen Kultur. Als Beitrag zur gegenwartsnahen Zeitgeschichte schließt das Buch an eine Großthese der jüngeren deutschen und US-amerikanischen Historiografie an. Auf beiden Seiten des Atlantiks gelten die 1970er und 1980er Jahre als eine Schlüsselperiode, um gesellschaftliche Transformationsprozesse zu erfassen, die nicht auf einzelne Felder oder Bereiche beschränkt waren, sondern die Gesamtkonstellation veränderten. In den westeuropäischen Industriegesellschaften und in den USA vollzogen sich demnach tiefgehende strukturelle Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur, die den Beginn eines neuen Epochenzusammenhangs einleiteten.4 Wir leben, so die These, heute in einem völlig anderen Zeitalter als noch in den 1970er und 1980er Jahren. Die moderne Industriegesellschaft, ihre Institutionen, Strukturen und ökonomischen Grundlagen, ihre Selbstverständnisse und ihr »starker« Staat – das war einmal. Der Neoliberalismus stellte in diesem Wandel eine wichtige transformative Kraft dar. Als Vorreiter politischer Theorie und Praxis im Neoliberalismus sowie als Vergleichsgröße sind die USA von besonderem Interesse. Die Untersuchung der USA gibt nicht nur Aufschluss über spezifische amerikanische Entwicklungen, sondern generiert Fragestellungen und Forschungsperspektiven für die Untersuchung von Transformationsprozessen in anderen Ländern. Auch in der Bundesrepublik bekam der solutionism in den 1970er und 1980er Jahren Risse; auch auf dem alten Kontinent wurden neoliberale Ideen diskutiert. Sollen die Aussagen über einen epochalen Wandel und den Beginn eines neuen Zeitalters seit dem späten 20. Jahrhundert klarere empirische Konturen gewinnen, ist es sinnvoll, die USA wieder stärker ins Blickfeld der allgemeinen...