Buch, Deutsch, 386 Seiten, Format (B × H): 215 mm x 139 mm
Buch, Deutsch, 386 Seiten, Format (B × H): 215 mm x 139 mm
ISBN: 978-3-96111-756-7
Verlag: Nova MD
Marie ist siebzehn Jahre, als sich ihr bisheriges Dasein drastisch verändert. Gemeinsam mit ihrer Schwester Sarah wird sie im Frühjahr 1941 als Ostarbeiterin nach Berlin gebracht. In Nazideutschland muss sie erfahren, dass sie als Halbjüdin keine Rechte mehr hat, weshalb sie alles dafür tut, ihre wahre Identität zu verschleiern. Ihr Leben wird zu einem Kampf, an dessen Ende ihr der Tod bereits zulächelt. Wagemutig stellt sich das Mädchen ihrem Schicksal und eine atemberaubende Flucht beginnt.
In dem Buch Marie wird die Geschichte fünf verschiedener Personen erzählt, die sich in den Jahren des Zweiten Weltkriegs den Umständen dieser düsteren Zeit ausgesetzt sehen. Sarah und Marie Dostojewski werden von Polen nach Deutschland entführt, wo sie gezwungen werden, jede ihrer eigenen Wege zu gehen. Fritz Heider ist ein Opportunist des Regimes und erfreut sich daran, dass seinem Handeln keine Grenzen gesetzt werden, während sich sein Vater Heinrich Heider an der Ostfront mit einer herben Sinneskrise auseinander setzt. Liam O’Brien ist ein amerikanischer Immigrant, der eher zufällig in das Geschehen verwickelt wird. Doch genau wie die anderen Figuren sieht auch er sich irgendwann den essenziellen Fragen des Lebens gegenüber: Kann ich mir selber für meine Taten in die Augen sehen? Worum geht es im Leben? Was zählt am Ende wirklich?
Autoren/Hrsg.
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Prolog
»Das Verlangen über andere Menschen zu herrschen, um sich dadurch zu bestätigen, ist der Fluch dieser Welt.« (Wallace D. Wattles) »Marie, versprich mir, dass du lebst!« Ihre Mutter hatte einen flehenden und gleichzeitig unglaublich klaren Gesichtsausdruck. Sie sprach die Worte deutlich aus, auch wenn ihr das Reden sichtlich schwerfiel. »Mama, sag so etwas nicht. Unsere Familie gehört zusammen. Ich will nicht gehen, sondern helfen.« Marie fasste ihre Hand und blickte auf das schweißüberströmte, schmerzverzerrte Gesicht. Als die Wehe abebbte, schüttelte ihre Mutter abermals energisch den Kopf. »Wenn du bleibst, werden Sarah und du sterben. Wir anderen sind sowieso dem Tod geweiht, ihr beide aber könnt es schaffen.« Sie hielt inne und schnaufte schwer. Die Geburt des neuen Kindes war eine Frage der Zeit. Marie stand auf und wechselte liebevoll den Waschlappen, um ihn Mama auf die Stirn zu legen. »Mischa wird bald hier sein«, sprach sie beruhigend auf sie ein. Doch ihre Mutter machte nur eine lapidare Handbewegung, als ob sie eine lästige Fliege verscheuchen wollte. »Hör mir gut zu. Die Nazis kennen keine Gnade. Sie werden kommen und uns holen, genau wie deinen Vater und Tobi und den Rabbi.« Sie hielt inne und überlegte kurz. »Marie, diese Menschen hassen alles, was anders ist als ihre eigene Ideologie. Versuche nicht, das zu verstehen, sondern sei klüger als sie. Bleib am Leben, um etwas von unserer Familie zu bewahren. Du erinnerst dich an den Brief von Vater? Halte dich an seinen Rat. Falls mir etwas zustößt, wird euch Frau Zajaci aufnehmen, bis ihr wisst, was zu tun ist. Und Marie …« Mama fand kaum die Kraft, weiterzusprechen. Marie sah sie eindringlich an. »Ja, Mama?« »Vertraut auf Gott. Er wird euch führen!« Marie starrte ihre Mutter ungläubig an. Dieser Spruch passte nicht zu ihr und auch nicht der Nachdruck, mit dem sie ihre Bitte ausgesprochen hatte. »Mama. Der Schmerz, es ist bestimmt nur der Schmerz, der dich so reden lässt. Morgen ist wieder alles gut.« Geschüttelt von einer neuen Welle Wehen krümmte sich ihre Mutter. Doch sie starrte Marie mit solch durchdringendem Blick an, dass diese verstummte. »Alles, was du willst. Ich verspreche, dass ich mein Bestes geben werde!«, flüsterte Marie und sah sie an. In diesem Moment kam die Geburtsdame aus dem Nachbardorf herein. Eilig schritt sie zum Bett der Gebärenden, nickte und sagte bestimmt: »Frau Dostojewski, das Baby kommt gleich. Nehmen Sie das zur Beruhigung.« Mischa flößte der Gebärenden einen fingerhutgroßen Becher dickflüssiges Gebräu ein und untersuchte nun genauer den Unterleib. »Das wird ein sehr großes Baby. Sie müssen gut mitpressen!« Sie sprach nicht aus, was sie dachte, das wusste Marie. Es war kein Geheimnis, dass ihr jüdischer Vater Julian Dostojewski weggebracht worden war, wie man es sich in dem kleinen Dorf von Tür zur Tür zuraunte. Er war der einzige Arzt im Umkreis von fünfzig Kilometern gewesen, und so war es unmöglich, auf die Schnelle einen anderen Arzt herbeizurufen. Mit konzentrierter Miene überwachte Mischa jetzt den Puls der Mutter. Zu Marie gewandt flüsterte sie: »Lauf und hol deine Schwester. Wir werden jede Hilfe brauchen!« Die Hebamme meinte Maries jüngere Schwester Sarah, die gerade mit dem Nachbarsmädchen spielte. Wortlos verließ Marie das Zimmer. Sie traute sich nicht zu fragen, ob mit der Geburt irgendetwas nicht in Ordnung war. Als sie ohne Sarah, dafür aber mit ihrer Nachbarin Lydia Kowalski im Schlepptau zurückkehrte, bot sich ihr ein erschreckendes Bild. Die sonst so ruhige Hebamme hatte einen panischen Gesichtsausdruck. Ihre Mutter lag leichenblass auf dem durchgeschwitzten Bett. Sie atmete zwischen den immer schneller kommenden Wehen heftig und unregelmäßig. Ohne zu fragen, was zu tun sei, wechselte Marie den Waschlappen erneut und legte ihn ihrer Mutter auf die Stirn. Dann setzte sie sich ans Kopfende und hielt ihre Hand. Mischa redete der Patientin ohne Unterlass gut zu. Doch Maries Mutter keuchte und wimmerte jetzt vor Schmerzen. »Atmen, gut so. Weiter, immer atmen! Jetzt sehe ich schon das Köpfchen, weiter!« Die Mutter presste Maries Hand jetzt so fest, dass ihr die Knöchel wehtaten. »Mama, das schaffst du.« Ihre Mutter rollte den Kopf zur Seite und sah sie noch einmal mit weit aufgerissenen Augen an. »Lebe, Marie. Für mich.« Als Marie begriff, was geschehen würde, war es schon zu spät. »Nein! Nein! Mama, du kannst nicht gehen, nein! Mama, der Papa wartet doch auf dich!« Nur am Rande nahm sie das Schreien des kleinen Mädchens wahr. Und Mischa, die versuchte, ihre Mutter wieder zu Bewusstsein zu bringen. Die Hebamme hatte das Neugeborene notdürftig versorgt, es in frische Handtücher gewickelt und legte es nun direkt neben seine Mutter, die ohne Bewusstsein war. Mischa war kreidebleich geworden. Hektisch gab sie sowohl Marie als auch Frau Kowalski Anordnungen, was zu tun sei. »Marie, drück da!« Sie zeigte auf den Unterbauch der Patientin. »Mischa, sie wird doch nicht sterben, oder?« Durch den Tränenschleier, der Maries Augen benetzte, wirkte das Geschehen seltsam fern. »Nun drück doch um Himmelswillen, Mädchen, drück!« Geistesabwesend tat Marie, was ihr die Hebamme auftrug. »Fester! Ich habe mich geirrt, es sind Zwillinge!« Die Hebamme hob das schon geborene Kind in die Höhe. »Nimm deine Schwester, ich muss mich hier kümmern.« Damit drückte sie ihr das Bündel in die Hand. Das Mädchen hatte eine winzige Nase, große Augen und ganz viel schwarzes Haar. Sie hatte sich beruhigt und lag nun erschöpft in Maries Armen. Entsetzt starrte Marie auf die reglose Gestalt ihrer Mutter, die noch vor ein paar Augenblicken zu ihr gesprochen hatte. Wie im Traum realisierte sie aus weiter Entfernung, dass Mischa jetzt ein unförmiges Etwas zwischen den Beinen ihrer Mutter hervorzog. Ein verschrumpeltes Baby hing schlaff über dem Arm der Geburtsdame. Es war zweifelsfrei ein Junge, jedoch gab er kein Lebenszeichen von sich. Er war ganz blau angelaufen, und auf dem Bettlaken breitete sich eine Pfütze grünlichen Fruchtwassers aus. Die alte Hebamme schien trotz der furchtbaren Situation bemüht zu sein, einen klaren Kopf zu bewahren. Sie hüllte den leblosen Buben in ein sauberes Stofftuch und legte ihn neben Maries Mutter. Marie sah mit weit aufgerissenen Augen zu, wie Mischa versuchte, Mama zu Bewusstsein zu bringen. Im Raum wurde es ganz still. Nach einer Ewigkeit wandte Mischa sich ihr zu und sagte traurig: »Marie, ich möchte, dass du jetzt rausgehst und vor dem Zimmer auf Sarah wartest. Frau Kowalski, holen Sie den Priester. Frau Dostojewski ist tot.« Mit wackeligen Beinen, das Baby fest umklammert, drehte Marie sich um und verließ den Raum. Sie sank an der Dielenwand hinunter, ihre Augen verloren sich im Nichts. Irgendwann regte sich das kleine Bündel und verzog seinen Mund. Das Mädchen hatte Hunger. Da wusste Marie, dass sie aufstehen musste, um ihrer hilflosen Schwester etwas zum Trinken zu besorgen. Sie traute sich nicht mehr in die Schlafstube zurück, sondern ging zielstrebig in die Küche. Dort holte sie einen blechernen Milchtopf, stellte ihn auf den Küchenofen und goss Ziegenmilch hinein. Sie hatten am Hof eine Herde, und nicht selten hatte Marie ein Zicklein, das von der Mutter verstoßen worden war, mit der Flasche aufgezogen. Nun nahm sie den Zipfel der Stoffwindel, in die das Mädchen eingewickelt war, und tunkte ihn in die körperwarme Milch. Vorsichtig steckte sie der Kleinen das durchtränkte Tuch in den Mund und war erleichtert, als sie das saugende Geräusch vernahm. Sie hoffte, dass sie die Ziegenmilch vertragen würde, das war ihre einzige Chance. Während das Mädchen selig trank, füllte sich die Wohnung mit Menschen. Sarah war endlich zurück, zum Glück hinderte Mischa sie daran, das Schlafzimmer zu betreten. Schnell drückte Marie ihr die neugeborene Schwester in die Hand, eine gute Ablenkung, die auch sie vorübergehend getröstet hatte. »Was ist mit Mama?«, fragte Sarah. Marie rang nach Luft. Wenn sie die Worte aussprechen würde, dann würden sie Wirklichkeit werden. »Was ist mit ihr?« Sarahs Stimme wurde schriller. »Mama ist …, sie wollte … sie ist gestorben.« Sarah sah sie ungläubig an. »Was? Das ist nicht wahr!« Ihre kleine Schwester ballte die Faust. »Pass auf, das Baby!«, rief Marie. Sie versuchte, Sarah in den Arm zu nehmen, doch die riss sich los. Marie hielt sie energisch fest. »Mama will, dass wir zu Frau Zajaci gehen.« Sarah schüttelte immer noch den Kopf, doch ihre Abwehrhaltung löste sich, während sie von Traurigkeit übermannt wurde. »Wieso ist sie tot?«, flüsterte sie leise und Tränen begannen, ihr die Wangen hinab zu laufen. Marie zuckte mit den Schultern. Sie hätte jetzt auch am liebsten geweint, sich die Decke über den Körper gezogen und einfach ihre Ruhe gehabt. Aber Mutter hatte ihr den Auftrag gegeben, stark für Sarah zu sein. So schluckte sie die den salzigen Kloß runter und murmelte, dass es die Geburt gewesen war, dass irgendetwas schiefgelaufen sei. Davon, dass es Zwillinge waren, sagte sie nichts. Zu groß war die Furcht, dass der Junge es nicht schaffen würde. »Mamas letzter Wunsch war, dass wir auf uns aufpassen und am Leben bleiben. Ich musste es ihr versprechen. Das war alles, was sie wollte.« Sarah begann, das Mädchen in ihren Armen zu wiegen. Irgendwann kam dann Mischa, um die Anwesenden am Küchentisch zu versammeln. Ihr Gesicht war bleich, die Hände zitterten und die Haare klebten schweißnass in ihrem Gesicht. Die sonst so stark wirkende Hebamme stand mit hängenden Schultern im Raum. »Der Pfarrer und Herr Levkowitz kümmern sich um alles. Wisst ihr, wo ihr hingehen könnt?« Sie sah Marie mit Nachdruck an. Diese nickte. »Was wird aus dem Baby?« »Ich werde etwas für das Mädchen suchen«, versprach Mischa. Danach ging alles sehr schnell. Marie und Sarah kamen zu Frau Zajaci, eine verwitwete Dame, deren einziger Sohn im Widerstand gegen den Einmarsch der Deutschen gestorben war. Es war dieser Frau eine Ehre, dem Feind, wie sie die Deutschen nannte, eins auszuwischen und zwei halbjüdische Mädchen bei sich aufzunehmen. Auch wenn Frau Zajaci zuweilen verbittert und schrullig war, war ihr Häuschen vorübergehend ein sicherer Platz. Mischa wollte sich um das Neugeborene kümmern, das von ihren Geschwistern den Namen Aleksandra bekommen hatte. Der Pfarrer hatte den Schwestern gefälschte Ausweispapiere besorgt, die sie als Marie und Sarah Zajaci ausgaben. Marie stellte mit schmerzendem Herzen fest, dass ihre jüdische Abstammung in den neuen Dokumenten verschwiegen wurde. Bestimmt ist es das Beste für uns, dachte sie. Bei allem, was sie gehört hatte, wurden die in Ghettos verschleppten Juden regelrecht misshandelt. Sie erinnerte sich an den Brief von Vater, von dem Mama kurz vor ihrem Tod gesprochen hatte. Darin hatte er geschrieben, dass er und Tobi nach Warschau gebracht worden waren. Anscheinend war Vater zu einem Abgeordneten der jüdischen Versammlung ausgewählt worden und hatte dadurch eine schlimme Ahnung, was die Deutschen mit den Juden vorhatten. An einem lauen Sommerabend versammelte sich das Dorf, um Frau Hanna Dostojewski zusammen mit ihrem kleinen Söhnchen beizusetzen. Niemand hatte dem Kind einen Namen gegeben, für Marie hieß er Daniel, ihre Lieblingsfigur aus den biblischen Erzählungen ihrer Mutter. »Mama würde noch leben, wenn sie Papa nicht weggebracht hätten«, schniefte Sarah. Marie warf ihr einen bösen Blick zu. Sie sollte möglichst in der Öffentlichkeit nicht mehr über ihren Vater sprechen, obwohl alle wussten, dass er ein hervorragender Arzt gewesen war. Sie hatten ihm einen Brief geschrieben, doch niemals eine Antwort erhalten. Anscheinend durfte er auch nicht heimkommen, um seine Frau zu bestatten. Es hieß, niemand würde das Ghetto lebend verlassen. Der schmucke Hof der Dostojewskis stand jetzt vereinsamt inmitten des Dorfes, Sarah und Marie trauten sich nicht mehr dorthin zurück. Sie hatten nur ein paar Habseligkeiten mitgenommen. An dem Tag, an dem sie zu ihrer Nachbarin gezogen waren, mussten sie traurig zusehen, wie die Tiere und die Vorräte vom Pfarrer zwischen den Dorfbewohnern aufgeteilt wurden. All dies billigte Marie schweigend, denn sie dachte, auf diese Weise würden es sich die Deutschen nicht mehr unter den Nagel reißen können. Eines schönen Herbstmorgens kamen die gefürchteten Soldaten zurück. Eine ganze Truppe war auf zwei leichten Geländelastern verteilt. Marie war gerade dabei, die Wäsche vor dem Haus aufzuhängen, als sie die Fahrzeuge in der Ferne erspähte. Sie beobachtete Frau Zajaci, die kreidebleich aus dem Fenster sah, ihre Augen verengt zu gefährlichen Schlitzen. Die Männer, die von den Lastern sprangen, sahen angsteinflößend aus. Ihre Gesichter waren grimmig, während sie in barschem Deutsch Marie nach den Bewohnern des Hauses fragten. »Drei Frauen«, sagte sie. »Meine Schwester, ich und unsere Mutter.« Einige der Soldaten nahmen Schussposition ein. Sie stellten sich links und rechts neben den Eingang, zwei Gewehre auf das Haus und eins auf Marie gerichtet. Diese hatte so stark zu zittern angefangen, dass ihr die kleinen Wäschezwicker aus der Hand gefallen waren. Wie versteinert verharrte sie und traute sich nicht, auch nur eine Bewegung zu machen. Obwohl ihr Blick auf den Boden gesenkt blieb, spürte sie die drohende Gefahr, die von der tödlichen Waffe ausging. Mit einem Schaudern vernahm sie, wie die anderen das Gebäude betraten. Frau Zajaci stieß einen schrillen Schrei aus, als die Männer über die Türschwelle schritten. Einige Augenblicke später kamen sie mit ihr und Sarah zurück. Der Gruppenführer, ein Koloss mit Schirmmütze und schwarzem Mantel gab ein kurzes Zeichen, auf das die Soldaten die Gewehre senkten. »Ausweis zeigen!«, bellte er Marie an.
Mit zitternden Fingern zeigte sie auf die halb
geöffnete Haustür. »Er ist da drin.« Der Mann nickte und wies sie an, den
Ausweis zu holen. Marie kam es wie eine Ewigkeit
vor, bis sie mit schweißnasser Stirn und dem Dokument wieder aus dem Haus trat. Sie streckte dem Mann das Legitimationspapier entgegen. Er warf ihr einen verächtlichen Blick zu, nachdem er alles überflogen hatte. »Warum verstehst du Deutsch, Mädchen?« Marie zitterte so stark, dass sie nicht in der Lage war, zu antworten. Hatte sie gerade einen fatalen Fehler gemacht?
Der Soldat bohrte die Spitze seines Gewehres drohend in ihre Rippen. »Warum verstehst du uns?«
Schließlich gestand sie, dass sie die Sprache von früher kannte, dass sie als Kind in Berlin gelebt hatte. Von ihrem Vater verriet sie nichts. Sie erzählte dem finsteren Gegenüber, dass sie eine Weile bei einer Großtante gewesen war.
Der Soldat warf erneut einen verächtlichen Blick auf die Papiere. »Gut. Fürs Erste kommt ihr mit uns. Vielleicht gar nicht schlecht, wenn ihr ein bisschen was versteht, dann könnt ihr euren Anweisungen als Arbeitskräfte des Reiches besser Folge leisten.« Ein hämisches Grinsen flog ihm über das Gesicht.
Marie schluckte. Was hatte das wohl zu bedeuten? Sie sah den Mann fragend an.
»Du und deine Schwester, ihr kommt mit uns. Da könnt ihr euch nützlich machen!«
Sein Grinsen wurde noch breiter, und auch die übrigen Soldaten blickten belustigt zu ihnen hinüber. Als Frau Zajaci protestierte, packte der Offizier sie bei den Haaren und riss sie grob daran hinunter. Den Geschwistern deutete er an, auf den Laster zu steigen.
Marie nahm allen Mut zusammen und versuchte, sich die Worte in der deutschen Sprache, die sie zwar verstand, aber lange nicht gesprochen hatte, notdürftig zurechtzulegen. »Dürfen wir bitte noch unseren Koffer packen?«, fragte sie mit leiser Stimme. Den Mann schien ihre Frage zu amüsieren, denn er zwickte sie in die Wange, während er seinen Kumpanen zuzwinkerte. »Weil du so nett gefragt hast«, sagte er ironisch, um dann in barscherem Ton hinzuzufügen, dass sie sich beeilen sollten.
Dabei zog er Frau Zajaci bis auf den Boden runter.
»Wenn ihr versucht, zu fliehen, dann …« Er machte eine deutliche Handbewegung an ihrer Kehle und lachte laut auf. »Ihr versteht, was ich meine, keine Tricks!« Kreidebleich eilten die Mädchen ins Haus.
»Marie, was machen sie mit uns?«, zischte Sarah, die die Sprache der Deutschen nicht gut beherrschte.
»Sie nehmen uns mit in die Höhle des Löwen. Wir kommen nach Deutschland zum Arbeiten.«
Sarah stiegen Tränen in die Augen. Marie nahm die Hand ihrer kleinen Schwester und drückte sie kurz.
»Wir werden tun, was sie von uns verlangen. Vielleicht ist es auf diese Weise sogar sicherer für uns.«
Sie versuchte ein Lächeln, um Sarah zu ermutigen. Aber als sie vom Fenster aus auf die Männer vor dem Haus blickte, wusste sie, dass es die Hölle werden würde.