E-Book, Deutsch, 196 Seiten
Lehmann Corona
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7502-3206-8
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Liebe im Grenzbereich
E-Book, Deutsch, 196 Seiten
ISBN: 978-3-7502-3206-8
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geboren 1981 in (West-) Berlin. Ich lebe mit meinem Mann in Süddeutschland. Mein Schreiben hat viele biografische Anleihen, ist aber nicht rein autobiografisch. Die Fluchtgeschichte meiner Großmutter mütterlicherseits, die Spionage-Tätigkeit meiner Großeltern väterlicherseits, deren Haft im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen und die dadurch nachhaltig geprägte Biographie meines Vaters waren Inspiration für Teile der Geschichte.
Autoren/Hrsg.
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Donnerstag, 12. März 2020
Julius
Was für ein schöner Sonnenaufgang. Da steht ja schon meine liebe Tante Thekla und winkt mit einer Krücke. Ich finde die weißen Haare machen sie alt. Aber ich kann ja nicht sagen: Komm liebe Thekla, ich lade Dich heute zum Friseur ein, ich will nicht, dass Du alt aussiehst. „Kuck mal mein Lieber, es geht schon ganz gut.“
So Küsschen, Koffer verpacken und nun zurück nach Berlin. Heute Nachmittag habe ich ja noch die Schülergruppe aus Weinheim im Stasi-Gefängnis.
„Lieb, dass Du mich abholst. Hättest Du aber nicht gemusst. Die hätten mich auch wieder mit dem Kleinbus nach Berlin gefahren. Hat nach der OP auch ganz wunderbar funktioniert.“
„In diesen Zeiten wollte ich sichergehen, dass Du nach Hause kommst. Und man soll ja auch Abstand halten. Und das ist in einem vollen Kleinbus ja schwer möglich.“
„Ist jedenfalls sehr lieb von Dir.“
„Hast Du denn noch Wassergymnastik gemacht?“
„Ne, da hätte ich noch länger bleiben müssen, aber das hat die Krankenkasse abgelehnt. Ich hatte fest mit einer zweiten Verlängerung gerechnet. Die Ärzte auch. Liegt vielleicht an Carona. Was meinst Du?“
„Du meinst Corona, Thekla?“
„Ja, du, weißt ja, ich krieg die Worte manchmal nicht so richtig raus wegen der Meningitis, die ich nach dem Krieg hatte.“
„Kann schon sein.“
„Wäre gerne noch ein wenig in Beelitz geblieben. War schön da. Wie im Hotel.“
„Belzig, Thekla. Du warst in Belzig. Honecker war in Bad Beelitz, bevor er nach Chile durfte. Du warst in Bad Belzig.“
„Wie kommst Du denn jetzt auf Honecker? Du und Deine DDR-Forschung.“
Lachen. Dann kurzes Schweigen.
„Du solltest auch Lehrer werden. Hast Du ja schließlich auch studiert. Und die suchen ja auch so dringend. Überleg‘ es Dir mal. Und irgendwann wird Berlin auch wieder verbeamten. Das mit diesen freien Jobs, das ist doch nichts.“
„Vielleicht. Aber vielleicht kriege ich jetzt nen festen Job im Gefängnis.“
„Toll. Dann wärst Du endlich nicht mehr Inoffizieller Mitarbeiter.“
Lachen. Schweigen.
„Na ja, und das Frühstück, Julius. Lecker. Und abends gab es immer so ein tolles Salatbuffet. Mittag war auch immer gut. Und reichlich. Aber zugenommen habe ich nicht, bei dem vielen Sport. Aber wäre auch egal in meinem Alter.“
„Was für ein Alter? Du bist 83 und siehst mindestens aus wie grad mal 70.“
Zumindest wenn Du Dir wieder die Haare färben würdest.
„Aber laufen tue ich gerade wie eine 90jährige. Aber ich habe mir alles schon genau überlegt. Ich gehe jeden Tag mit meinem Rucksack in die Onkel-Tom-Ladenstraße und kaufe mir immer nur ganz wenig ein. Dann habe ich jeden Tag Training und kann mich versorgen.“
„Schwachsinn.“
„Wieso Schwachsinn. Wohne doch genau gegenüber von der Ladenstraße. Und weil ich wegen der blöden Krücken keine Hand frei habe, werde ich den Rucksack nehmen. Und zuhause mir eine Schürze umbinden, dann habe ich immer alles zur Hand.“
„Du, Tante Thekla, ich bin schon mal vorsorglich bei Dir eingezogen und bleibe erst einmal bei Dir, um mich zu kümmern. Das ist doch das Mindeste, nach allem was Du für mich getan hast.“
„Brauchst Du nicht. Du hast doch Dein eigenes Leben.“
Habe ich das? Ein eigenes Leben?
„Doch. Keine Diskussion.“
„Ich freue mich natürlich. Du, dann kann ich Deine Lieblingsgerichte für Dich kochen. Ich find, Du bist schon wieder so arg dünn geworden.“
„Findest Du?“
„Aber Ritalin nimmst Du doch hoffentlich nicht wieder?“
„Nein, schon fast 8 Jahre nicht mehr.“
„Gut so. Also am Ende Deiner Doktorarbeit, das war nicht mehr schön.“
„Ich weiß. Aber eigentlich wollte ich für Dich kochen.“
„Seit wann kannst Du das denn?“
„Kann ich immer noch nicht.“
„Na, siehst Du.“
Noch 40 Kilometer.
„So, da wären wir.“
„Schau, da ist ein Parkplatz.“
„Du, ich bring Dich und den Koffer nur schnell nach oben und dann muss ich schon weiter flitzen. Habe gleich noch eine Gruppe im Stasi-Gefängnis.“
„Ja, kein Problem. Geh Du mal zu Deiner Stasi.“
Daniel
Im Hof des Gefängnisses.
„Herr Lehmann, und wird die Schule nun schließen?“
„Weiß nicht. Gestern hat unsere Kultusministerin noch gesagt, die Forderung vom Philologenverband, die Schulen in ganz Baden-Württemberg zu schließen, wäre unverantwortlich.“
„Was ist ein Philologenverband?“
„Ein Verband, der die Gymnasiallehrer vertritt. Wie eine Gewerkschaft.“
„Was ist eine Gewerkschaft?“
„Du, das haben wir gerade letzte Woche in Wirtschaft und Berufsorientierung gemacht.“
„Herr Lehmann, meine Mutter hat mir heute früh geschrieben, dass das Elsass jetzt auch Risikogebiet geworden ist. Müsste ich nicht jetzt eigentlich nach Hause?“
„Das fällt Dir ja früh ein. Wann warst Du wo genau?“
„Am Dienstag in den Faschingsferien waren wir in Straßburg.“
„Puh, dann ist die 14tägige Phase, in der Du nicht hättest in die Schule gehen dürfen, eh schon vorbei. Wahrscheinlich hast Du uns eh schon alle angesteckt…“
Gelächter.
„Herr Lehmann, wann geht es endlich los?“
„Sobald unser Führer da ist.“
„Ich glaube, da kommt unsere Führer, Herr Lehmann.“
Da kommt er schnellen Schrittes. Julius. Immer noch so dünn. An seinem Pokerface könnte er arbeiten. Jetzt, da er mich gesehen hat, sind ihm kurz alle Gesichtszüge entglitten. So, jetzt hat er sich wieder gefangen.
„Was für ein Zufall, Daniel.“
„Nein kein Zufall, Julius, hab extra nach Dr. von Witzleben gefragt.“
„Wenn überhaupt nur Dr. Witzleben bitte. Du weißt, wie ich das von im Namen hasse.“
Ja, das von. Das ging ihm schon immer gegen den Strich. Jetzt lächelt er wenigstens mal. Er hat immer noch das verschmitzte Lächeln, die funkelnden Augen und die putzigen Grübchen.
„Steht da hinten Deine Klasse?“
„Ja.“
„Die sehen nett aus.“
„Die sind auch sehr nett. Und haben sich die Woche ganz toll benommen. Mit dem Programm mussten wir ja etwas improvisieren. In den Bundesrat konnten wir noch, aber nicht mehr in den Bundestag. Geschlossen wegen Corona.“
„Ja, verrückte Zeiten.“
„Oh ja, bis letzten Sonntag war auch unklar, ob wir überhaupt fahren.“
„Wann fahrt ihr zurück? Samstag?“
„Ne, morgen schon. Heute ist noch große Abschiedsparty in so nem Club, der bis 11 nur für uns offen hat.“
„Wo?“
„Im Maxiim“
„Maxiim? Kenne ich nicht.“
„Kreuzberg, gleich um die Ecke haben wir gewohnt.“
Das ist Julius nun sichtlich unangenehm.
„Ah schön. Wollen wir?“
Die Führung neigt sich dem Ende zu. Wir stehen in einer Gefängniszelle im neueren Teil vom Stasi-Knast.
„So, habt ihr noch Fragen?“
Kevin meldet sich.
„Nein, eigentlich keine Frage. Aber die Zellen hier im neuen Bereich sehen eigentlich gar nicht so schlimm aus. Sieht jedenfalls besser aus als in einem amerikanischen Gefängnis.“
Die Schüler tuscheln. Gelächter.
„Woher weißt Du denn, wie es in einem amerikanischen Gefängnis aussieht?“
„Na, von Netflix.“
Lachen. Was Julius wohl antwortet?
„Ja, Du hast Recht, die Zellen sehen eigentlich ganz anständig aus. Die Schikane, was manche Häftlinge auch als Folter bezeichneten, war nicht die Ausstattung. Sondern die Behandlung. Nachts musste man immer in einer ganz bestimmten Position liegen, die Hände auf dem Bauch gefaltet und man musste den Kopf zur Tür gedreht lassen, damit die Wärter einen stets durch den Spion sehen konnten.“
„Wie konnten die einen denn nachts sehen?“
„Das Licht musste die ganze Nacht an sein. Wenn man sich im Schlaf wegdrehte, dann wurde man durch eine laute Klingel geweckt. Und man bekam meistens viel zu große Kleidung, das waren so Trainingsanzüge, bei denen man dann oft die Hose festhalten musste. Einen Gürtel gab es natürlich nicht.“
„Häh, warum gab es keinen Gürtel?“
„Oh, Du bist so doof, damit man sich nicht aufhängen kann.“
„Sehr richtig, nicht Wenige haben versucht sich das Leben zu nehmen.“
„Sie haben gesagt, dass hier viele ehemalige Häftling arbeiten oder die Mitarbeiter meist einen persönlichen Bezug zum Gefängnis haben. Haben Sie auch einen?“
„Ja.“
„Darf man fragen welchen?“
„Klar dürft ihr, mein Großvater, meine Großmutter und mein Vater waren hier.“
„Krass, zur gleichen Zeit?“
„Mein Großvater und meine Großmutter ja. In den 70er Jahren. Und mein Vater nur ein paar Wochen, gegen Ende der DDR.“
„Und warum?“
„Warum meine Großeltern hier waren, weiß ich nur zum Teil. Mein Großvater hat in den 50er Jahren mal für die französischen Besatzungskräfte spioniert. Aber das haben viele in Berlin. Einige Namen in den Akten meiner Großeltern sind noch geschwärzt. Sie wurden damals beim Transitfahren verhaftet, so nannte man das, wenn man von Westberlin nach Westdeutschland fuhr. Jemand hatte der Stasi einen Tipp gegeben, dass mein Großvater gegen die DDR spioniert hatte und dass er an diesem Tag Transit fahren würde. Der Name ist wie gesagt noch heute geschwärzt. Mein Großvater hat auch Fluchthilfe geleistet, aber davon wusste die Stasi entweder nichts, oder jemand bei der Stasi war...