E-Book, Deutsch, 512 Seiten
Lehmann Eukalyptusmond
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-522-65175-2
Verlag: Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-522-65175-2
Verlag: Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christine Lehmann, 1958 in Genf geboren, wollte bereits mit 14 Jahren Schriftstellerin werden. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin arbeitet als Nachrichten-Redakteurin beim SWR. Darüber hinaus schreibt sie seit fast 20 Jahren Krimis und Liebesromane, Essays, Kurzgeschichten für Anthologien und Kriminalhörspiele fürs Radio. Christine Lehmann lebt mit ihrem Mann in Stuttgart.
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– 2 –
Brisbane lag zwischen Bergen und Meer. Ich hatte es von oben gesehen, als wir landeten. Der Fluss zog sich in Schleifen durchs Zentrum. An seinen Ufern standen Hochhäuser. Stahlbrücken, auf denen sich Autos stauten, überquerten ihn. Man fuhr links. Das wusste ich zwar, aber es war trotzdem total irritierend. Ich verlor sofort den Überblick, als wir vom Parkplatz am Flughafen in die Airport-Drive einbogen.
Ein riesiger blauer Himmel spannte sich über uns. Von der Zweimillionenstadt Brisbane sah ich nichts außer Hecken, Tankstellen, Leitplanken, Ampeln und gelegentlich mal ein Straßenlokal mit zwei Stühlen davor und Schildern, auf denen Seafood oder Coffee stand. Kurz fuhren wir an dem milchgrünen Brisbane River entlang. Danach dauerte es eine gute Stunde, bis wir die Stadt hinter uns gelassen hatten und in dem gekühlten, sehr neuen japanischen Geländewagen auf dem Highway A2 gen Nordwesten rollten, meistens schnurgerade. Der Highway hatte mit unserer Autobahn nicht viel gemein außer den zwei Spuren in jede Richtung. Es gab aber weder Seitenbefestigungen noch Leitplanken. Der Asphalt franste einfach seitlich aus. Es fuhren kaum Autos.
Das Land war saftig grün und mit Blüten übersät. Frühling. Ein bisschen wie im Allgäu. Nur dass die Bäume anders aussahen: Palmen, Akazien mit gelben Blüten zwischen lanzettförmigen Blättern und die etwas lasch wirkenden Eukalyptusbäume mit ihren weiß gefleckten Stämmen.
Bran saß am Lenker auf der falschen Seite, also rechts, Jolie hatte sich auf dem Beifahrersitz zu mir umgedreht. Sie erzählte, dass sie in Sydney Biologie studierte und wegen einer Familienfeier für eine Woche nach Hause fuhr. Ihre Mutter wurde fünfzig. Ich schätzte Jolie auf Anfang zwanzig. Sie war zierlich, schlank und lebhaft, ihre dunklen Augen blitzten. Sie redete viel. Das meiste verstand ich nur so ungefähr. Australisch bestand aus langen Vokalen und vernuschelten Konsonanten. Das englische Wort »time« sprach Jolie nicht »teim« aus, wie ich es gelernt hatte, sondern »tom«. Deshalb kann es auch sein, dass sie mir erzählte, sie fahre heim, um zu heiraten oder weil ihre Schwester ein Kind bekam, keine Ahnung.
»Und du kommst direkt aus Deutschland?«, erkundigte sie sich.
»Ja, aus Tettnang. Das liegt in Süddeutschland am …« Was hieß Bodensee auf Englisch? Aber der Bodensee war hier vermutlich ohnehin gänzlich unbekannt.
»Und wie gefällt dir Australien?«
»Sehr gut. Hier ist alles so weit und offen.«
Sie lächelte. »Es kommen viele Deutsche hierher. Die Regierung möchte das. Deshalb hat man das Working Holiday-Visum geschaffen. Wir brauchen vor allem im Herbst Arbeitskräfte auf dem Land für die Ernte. Die Deutschen arbeiten allerdings am liebsten mit Tieren. Sie sind große Tierfreunde. Meine Mutter hat nie Probleme, Trainees für ihre Farm zu bekommen. Jeder möchte gern Koalabären streicheln und Kamelfohlen aufpäppeln.« Sie lachte und warf Bran einen kurzen Blick zu. Hatte er etwa was dagegen?
Aber er reagierte nicht. Ich sah von ihm sowieso nur die Schulter mit dem T-Shirt, dessen Schulternaht aufgeplatzt war, den Arm mit einer Uhr, den strohblonden Schopf, das Ohr. Er schaute kaum je zu Jolie herüber. Er schien keine Lust zu haben, sich am Gespräch zu beteiligen. Aber das störte nicht weiter. Anders als bei mir daheim. Wenn dort einer schwieg, fragte man sich, ob er was gegen einen hatte oder schlecht gelaunt war. Aber hier waren alle entspannter drauf und ließen die anderen sein, wie sie waren. Inzwischen hatte ich auch verstanden, dass er extra von der Walker-Station hergekommen war, dreizehnhundert Kilometer über den Highway, um Jolie vom Flughafen abzuholen. Vielleicht war er gar nicht ihr Freund, sondern ein Angestellter der Farm.
»Wir in Queensland«, fuhr Jolie fort, »haben ein unsentimentales Verhältnis zu Tieren. Wir züchten Rinder und Schafe, die werden verkauft und geschlachtet. Fertig. Dass jemand mutterlose Koalas einsammelt und einen Tierarzt bezahlt, damit er einem Waran eine Wunde zunäht, das hat die Leute hier anfangs befremdet. Aber inzwischen sehen sie ein, dass es Fremde in die Gegend lockt. Es ist nun mal so, dass Leute aus Europa ein romantischeres Verhältnis zu Tieren haben als wir. Sie fühlen sich gut, wenn sie Tieren helfen können.«
Darüber hatte ich so noch nicht nachgedacht. »Was ist denn schlecht daran, Tieren zu helfen? Sie sind auch Wesen. Sie empfinden auch Schmerzen.«
Jolie lachte freundlich. »Daran ist nichts schlecht. Meine Mutter macht eine tolle Arbeit, das wirst du sehen. Aber zur Tierfreundschaft gehört bei uns auch, dass man bestimmte Tiere erbarmungslos bekämpft. Das verstehst du erst, wenn du einmal in Brisbane nachts im Garten vor lauter Aga-Kröten nicht mehr auftreten kannst. Sie sind riesig, giftig und überall. Eine Plage. Bei uns sind sie noch nicht angekommen, aber das ist nur eine Frage von ein paar Jahren. Sie erobern Queensland von Osten her. Die Zuckerrohrfarmer haben sie in den Vierzigerjahren zur Schädlingsbekämpfung eingeführt. Und jetzt haben wir den Salat. Bei uns haben sie kaum natürliche Feinde. Sie vermehren sich explosionsartig. An der Uni arbeiten wir derzeit an einem biologischen Feind, einem Virus, der verhindert, dass sie geschlechtsreif werden. Aber er darf natürlich einheimische Amphibien nicht befallen. Das ist das Problem. Einstweilen kann man sie nur mit UV-Licht anlocken, einsammeln und töten.«
»Wie tötet man sie denn?«
»Mit Gas, oder man friert sie ein. Aber viele Australier hassen sie so, dass sie sie erschlagen, mit Golfschlägern, Latten. Oder sie fahren sie mit Rasenmähern oder Autos platt. Sie sind wirklich eine Plage. Du würdest sie auch hassen.«
Aber Kröten erschlagen würde ich trotzdem nicht. Das war total eklig.
So nett Jolie war und so freundlich ich mich aufgenommen fühlte, ich war doch froh, als sie sich endlich nach vorn umdrehte und in ihrer großen sackartigen Handtasche zu kramen und mithilfe des Rückspiegels ihr Make-up aufzufrischen begann. Denn ich verstand kaum noch etwas. Ich war total benommen vor Müdigkeit. Kein Wunder: Hinter mir lagen knapp dreißig Stunden Reise, immer wieder hatte man die Uhren in riesigen Sprüngen vorstellen müssen. Hier war es schon Mittag, meinem Körper aber fehlte noch die halbe Nacht. Würden wir jetzt etwa durchfahren?, fragte ich mich. Und warum hatte Jolie eigentlich nicht das Flugzeug von Brisbane nach Longreach genommen? Der Ort lag zwar mitten im Nirgendwo, aber er hatte einen Flugplatz.
Mir war der Flug nur zu teuer gewesen. Ich hatte den Sommer über bei Onkel Rudolf in der Kneipe auf seinem Hof gekellnert, nur um den einen Flug nach Australien bezahlen zu können. Er war Hopfenbauer und betrieb auf seinem Hof ein Hopfenmuseum. Die Besucher konnten bei der Ernte zuschauen und anschließend Bier trinken und dazu Maultaschen oder Schlachtplatte essen.
Als wir die Reise planten und ich mich fragte, wie ich zur Walker-Station kommen sollte, hatte Hanna vorgeschlagen, dass sie mich in Brisbane am Flughafen abholen könnte. Alles ganz easy. Wir würden zusammen den Highway nach Norden fahren. Da könnte ich Queensland gleich ein bisschen kennenlernen und mich eingewöhnen. Und als wir vor einer Woche telefonierten, hatte sie dann gemeint, dass ich erst einmal mit ihr an die Küste fahren sollte.
Ihre Eltern bezahlten ihr alles von vorn bis hinten. Das war der Unterschied. Ihr Vater war Chef einer Firma für Outdoorklamotten. Sie wohnten in einer Villa am Bodensee mit drei Autos in der Garage. Sie hatten zwei Pferde im Reitverein stehen, eine Jacht im Hafen von Langenargen und flogen im Urlaub nach Florida.
Ich dagegen war die Tochter einer alleinerziehenden Mutter. Mein Bruder war drei Jahre älter als ich und von einem anderen Vater. Meiner war Franzose und lebte längst wieder in Marseille. Er hatte geheiratet und weitere Kinder bekommen. Inzwischen erinnerte er sich nicht einmal mehr an meinen Geburtstagen an mich. Als ich zehn wurde, hatte ich ihn zum letzten Mal gesehen. Richtig für mich gezahlt hatte er auch nie.
Ich bewunderte meine Mutter dafür, dass sie uns zwei durchgebracht hatte. Echt jetzt. Ich bewunderte sie, auch wenn wir nicht immer derselben Meinung waren. Oder eigentlich fast nie. Immer hatte sie geschuftet, erst als Sekretärin bei einem Anwalt, dann als Verkäuferin. Seit ein paar Jahren hatte sie einen echt guten Job als Sekretärin im Rathaus. Mein Bruder studierte brav in Konstanz Bibliothekswissenschaften und Romanistik oder so was, was kein Mensch braucht. Leider war ich nicht brav. Das tat mir auch leid für meine Mutter, aber es war schließlich mein Leben. Auf jeden Fall hatte ich nicht vor zu studieren, jedenfalls nicht in Deutschland, wo alles kleinkariert und total geregelt ist. Ständig braucht man eine Prüfung, Noten, ein Papier, eine Genehmigung. Tja, und ich hatte nicht mal Abitur.
»Gaub ja nicht, dass sie eine wie dich in Australien mit Handkuss nehmen«, hatte meine Mutter gesagt. »Die nehmen nur Leute mit Schulabschluss und Lehre. Kellnerinnen brauchen die nicht.«
Das werden wir sehen, dachte ich insgeheim. Mein Working Holiday-Visum lief ein Jahr. So schnell wurden die Australier mich nicht wieder los. Ich würde mich unentbehrlich machen. Im Internet stand, dass die Walker-Station eine Art Tierpark war, wo bedrohte Tierarten wie Koalas, Dingos oder Tasmanische Teufel gezüchtet wurden. Im Gegensatz zu Menschen aus der Stadt wusste ich, dass die Hauptarbeit bei Viechern das Ausmisten und Füttern war. Darum würde ich besser sein als andere europäische Gäste. Mir musste man nicht erklären, wie man mit Kühen oder Schafen umging. Und mit dem...




