E-Book, Deutsch, 171 Seiten
Lehmkuhl Kofferjäger
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7349-9446-3
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 171 Seiten
ISBN: 978-3-7349-9446-3
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kurt Lehmkuhl, 1952 in der Nähe von Aachen an einem Sonntag geboren, war 30 Jahre als Redakteur im Zeitungsverlag Aachen tätig. Durch die Beschäftigung mit dem Strafrecht im Rahmen des Jurastudiums in Bonn hat er schon früh damit angefangen, Kriminalromane zu schreiben, zunächst nur gedacht als Geschenke für Freunde. Zur ersten Veröffentlichung kam es eher zufällig 1996, als er von einem Verlag darauf angesprochen wurde. Seit 2008 erscheinen die Krimis im Gmeiner-Verlag: Raffgier (2008), Nürburghölle (2009), Dreiländermord (2010), Kardinalspoker (2012), Printenprinz (2013), Fundsachen (2015), Kohlegier (2016). Neben der Tätigkeit als Journalist und Schriftsteller arbeitet Lehmkuhl als VHS-Dozent in Aachen und im Kreis Heinsberg.
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Robert Schumann
Immer, wenn es ihm schlecht ging, machte Robert Schumann sich auf zum Düsseldorfer Hauptbahnhof. Dort, in dem gigantischen, unübersichtlichen Gebäude, wo die Welten der Penner und Urlaubsreisenden, der Drogensüchtigen und Geschäftsleute im hektisch pulsierenden Leben aufeinanderprallaten, dort wurde ihm stets nachhaltig bewusst, dass es vielen Menschen noch viel schlechter ging als ihm. Dann bekam er Mitleid mit den alkoholtrunkenen Berbern und den still in einer Ecke zusammengekauerten Junkies, dann fühlte er sich trotz des eigenen Missgeschicks doch ganz wohl in seiner Haut.
Es gab viele Flecken im glitzernden Hauptbahnhof, wo, zumeist unbeachtet von den herumeilenden Bahnreisenden, die Gestrandeten und Verlorenen ein vorübergehendes Dasein fristeten, ehe sie in jeder Nacht von der unerbittlichen Bahnhofsaufsicht auf die Plätze der Großstadt hinausgedrängt wurden.
Robert Schumann kannte alle diese versteckten Orte in dem unübersehbaren Gewirr von Sälen, Gängen, Schächten und Tunnels, und er kam inzwischen sehr oft hierhin. Der Anblick der gesellschaftlichen Außenseiter machte ihm immer wieder aufs Neue die eigene Situation bewusst. Was will ich eigentlich mehr?, redete er sich ein. Ich bin gesund, habe ein Dach über dem Kopf und werde leidlich satt. Und dennoch sah er in seiner Lebensgeschichte durchaus auch Parallelen zu den Abgeschobenen der bürgerlichen Gesellschaft.
Eine Familie hatte Robert Schumann nicht, seinen Job hatte er aufgegeben, das Arbeitslosengeld war längst zur Arbeitslosenhilfe verkümmert. Mit seinen fast 50 Jahren stand Schumann beschäftigungslos auf der Straße, konnte nicht mehr zurück in seinen Beruf, wollte auch nicht mehr zurück in seinen Beruf.
Unscheinbar, unbehelligt und unbeachtet stromerte er seit seinem freiwilligen Einstieg in die Isolation als Einzelgänger durch seine Geburtsstadt, durch die Stadt, die er liebte, die er nie verlassen hatte und in der er sein Leben lang ein Nichts sein würde.
Die verfluchte Katastrophe draußen in Lohausen, die hatte ihn aus seiner harmonischen, überschaubaren Lebensbahn geschleudert. Den 11. April 1996, vor mehr als fünf Jahren, würde Robert Schumann, damals seit rund 20 Jahren Mitglied der Flughafenfeuerwehr, nie vergessen.
Schumann war an diesem Tag in seinem Dienst turnusgemäß als Aufsicht eingesetzt gewesen, damals, als bei Schweißarbeiten flüssiges Bitumen einen Schwelbrand verursachte, der schließlich zum Großbrand wurde, bei dem sechzehn Menschen ihr Leben lassen mussten. Schumann hatte zeitgleich an mehreren Stellen Schweißarbeiten zu kontrollieren, diejenigen auf der Fahrbahn über der Halle, die die Katastrophe verursachten, aber auch andere, die gleichzeitig auf dem Rollfeld durchgeführt wurden. Er war gerade auf dem Weg zurück zum Gebäude, als das verhängnisvolle Geschehen seinen tödlichen Verlauf nahm.
Schumann würde nie den ohrenbetäubenden Lärm vergessen, den die Staubexplosionen auf den Zwischendecken auslösten. Er würde nie die Giftgaswolke aus Blau- und Salzsäure vergessen, die sich so schnell zu Boden senkte und Passagieren und Flughafenpersonal die Atemluft und das Licht raubte.
Schumann hatte sich ohne Zögern in das rabenschwarze Chaos der Flughafenhalle gestürzt. Mit einer Stablampe und einer Sauerstoffmaske ausgerüstet, war der schmächtige, aber austrainierte Mann über die herabgestürzten Deckenelemente auf dem Boden gekrabbelt und hatte einen Menschen zu packen bekommen, der zusammengekrümmt vor einem verschlossenen Ausgang lag.
Die junge Frau lebte und starrte mit weit aufgerissenen Augen voller Panik in die Lampe. Schumann hatte ihr hastig die Sauerstoffmaske umgeschnallt, hatte sie gepackt und nach draußen gezerrt. Er konnte sich später nicht mehr daran erinnern, wie er es geschafft hatte, er wusste nur, dass er mit der Frau ins Freie gekommen war. Ermattet hatte er sich auf die Straße gehockt und die Sanitäter beobachtet, die sich um die Frau kümmerten.
»Du hast ihr das Leben gerettet«, sagte einer von ihnen anerkennend zu Schumann, der die Augen schloss und weinte.
Als er die Augen nach einer Viertelstunde wieder öffnete, sah er, wie die Frau in einen Leichensack gelegt wurde. Schumann stand auf und ging. Nie wieder war er seitdem auf dem Rhein-Ruhr-Flughafen gesehen worden.
Er fühlte sich schuldig.
In seiner kleinen Junggesellenwohnung schrieb er noch am Abend die Kündigung.
Schumann kam finanziell mehr schlecht als recht über die Runden. Er hatte es gelernt, bescheiden zu sein. Ansprüche hatte er nie gestellt, er erwartete nicht viel vom Leben, aber er würde, da war er sich sicher, garantiert nicht so enden wie sein berühmter Namensvetter aus Düsseldorf, der nach einem Sprung in den Rhein in eine Irrenanstalt eingeliefert und dort aus dem Leben gedämmert war.
Die große Hinweistafel in der Bahnhofshalle erinnerte zwangsläufig an einen Flughafen. Fast im Minutentakt ratterten hier die Buchstaben und Ziffern zu immer neuen Kombinationen. Schumann tat diese Attraktion des modernisierten, weitläufigen Bahnhofs als überflüssigen Humbug ab, damit konnte man allenfalls den Dörflern imponieren, die zum ersten Mal in ihrem Leben in die Landeshauptstadt kamen. Er registrierte die Namen der Zielbahnhöfe, sie konnten in ihm aber ebenso wenig das Fernweh wecken wie die Flughäfen, die in Lohausen auf den Abflugtafeln genannt wurden.
Schuhmann konnte sich nur schwach daran erinnern, je einmal Düsseldorf verlassen zu haben. Das muss vor mehr als dreißig Jahren, fast sogar schon vierzig Jahren, gewesen sein, als seine Eltern mit ihm an einem Wochenende in die Eifel, nach Monschau und zum Rursee, gefahren waren.
Als bodenständig bezeichnete Schumann seine fehlende Bereitschaft, aus Düsseldorf wegzufahren.
Ruth Weberknecht hingegen, schon seit mehr als einem Jahrzehnt seine Nachbarin und einzige Gesprächspartnerin, betrachtete seine Weigerung, sie bei gelegentlichen Ausflügen oder jährlichen kurzen Urlaubsfahrten zu begleiten, als kleinkariertes Spießertum.
Wenn, dann fuhr sie in die deutschen Mittelgebirge, zu mehr reichte es auch bei ihr nicht. Aber sie hatte immerhin noch mehr Tatendrang als er.
Schumann widersprach seiner Nachbarin nicht. Schumann widersprach fast nie. Er lebte schweigsam sein bescheidenes Leben, akzeptierte, wie andere ihr Leben lebten, und erwartete lediglich, andere sollten akzeptierten, wie er sein Leben lebte.
Mehr wollte er nicht, und er fand, dass er viel hatte im Leben, viel mehr als die armen Schlucker, die da im Hauptbahnhof umhergammelten.
Schumann ließ sich langsam von der Rolltreppe zum Bahnsteig hinauffahren und näherte sich gemächlich einer Bank. Einer der beiden Männer, die dort saßen, sah ihn kommen, stand auf und hinkte, riesengroß und, trotz des milden Septemberwetters, in einen dunkelgrünen Lodenmantel gekleidet, erstaunlich schnell in die bereitstehende S-Bahn Richtung Dortmund, die fast im gleichen Moment abfuhr, in dem er hineingesprungen war.
Der Unbekannte hatte zu Schumanns Freude die Zeitung liegen gelassen. Es gab immer irgendjemand, der auf dem Bahnsteig, in einem der Restaurants oder in den Zügen eine Zeitung liegen ließ. Aus dieser Erfahrung heraus verzichtete Schumann längst schon darauf, selbst eine Zeitung zu kaufen. Er fand fast jeden Tag mindestens ein aktuelles Blatt, wenn nicht im Bahnhof, dann in einem der Papierkörbe auf den Straßen oder in den Parks.
Mit einem leise gemurmelten Gruß setzte sich Schumann neben den dicken Mann, der ihn aber nicht weiter beachtete. Er schläft, dachte sich Schumann und rückte vorsichtig ein wenig zur Seite, als könne das Rascheln der Blätter den anderen wecken.
Schnell war Schumann im Express versunken. Er redete sich ein, dass ihn die attraktiven, fast nicht bekleideten Mädchen überhaupt nicht beeindruckten. Den Sportteil, der fast wie immer nur tatsächliche oder vermeintliche Skandale und Skandälchen bei der Fortuna oder der DEG behandelte, überflog Schumann desinteressiert. In Düsseldorf war nichts los, so lautete sein Fazit, nachdem er die Tratschseiten gelesen hatte. Die Politiker waren gerade erst aus der Sommerpause zurückgekehrt, im Landtag wie im Rathaus heckten sie und ihre Berater wohl noch die neuen Intrigen aus, mit denen sie dem politischen Gegner Schaden zufügen konnten.
Der Dicke neben ihm auf der Bank bewegte sich. Schumann spürte, wie er immer mehr auf seine Seite kippte und ihn fast vom Sitz schob. Schumann sprang auf, der Mann fiel längs auf die Bank und rollte ungelenk zu Boden.
Der ist tot! Schumann erschrak für einen Moment, doch er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. »Einmal ist jeder dran«, sagte er sich leise. Er rüttelte an dem Körper, schlug dem Mann leicht ins Gesicht, doch der Dicke reagierte nicht. Der ist tatsächlich tot!, sah sich Schumann bestätigt.
Er blickte sich auf dem Bahnsteig um. Offensichtlich war er mit dem Toten allein, neugierig musterte er daraufhin den leblosen Menschen, der der Länge nach ausgestreckt vor ihm lag. Auf fast sechzig Jahre schätzte Schumann den Mann, der unauffällig, aber sauber gekleidet war und einen ordentlichen Eindruck machte. Die buschigen, grauen Augenbrauen, die fast ununterbrochen ineinander übergingen, fielen ihm auf. Ansonsten war der Tote ein ganz normaler Mensch wie ich, dachte Schumann, während sein Blick auf die linke, zusammengeballte Hand des Dicken fiel. Noch einmal schaute sich Schumann um, dann bückte er sich und öffnete die warmen Finger.
Einen Schlüssel hatte der Mann festgehalten, den Schlüssel eines Schließfachs...




