Leinemann | Das Leben ist der Ernstfall | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Leinemann Das Leben ist der Ernstfall


1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-455-50136-0
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-455-50136-0
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



'Über Jahrzehnte blickte er den Mächtigen in die Seele nun blickt er in sich selbst hinein.' Die Zeit Das Urteil lautet Zungengrundkrebs. Für einen der profiliertesten politischen Journalisten, einen engagierten Zuhörer und Frager, bedeutet es das Ende seines beruflichen Lebens. 'Ich sah mich als einen der Menschen, die durch Wörter zu dem werden, was sie sind. Nicht nur Schreiben, auch Reden war mein Beruf. Und jetzt war ich stumm.' 'Die unverändert gespürte tödliche Bedrohung durch den Krebs, meine körperliche Schwäche und meine seelischen Tiefs sind die Wirklichkeit, durch die ich mich durchkämpfen muss. Ich darf mich um die Wahrheiten der Krankheit nicht herumdrücken, aber ich darf mich von ihnen auch nicht unterkriegen lassen. Zwei Sätze sind für mich als Leitlinien bestimmend geworden. Der erste heißt: Wirklichkeit ist alles, wo man durchmuss. Der zweite ist eine Gedichtzeile von Peter Rühmkorf: 'Bleib erschütterbar und widersteh.' Beide Sätze sind, da die Krankheit den Journalismus als Lebensschule abgelöst hat, für mich von existenzieller Bedeutung. Ich muss mit der breiten Grauzone der Unberechenbarkeit leben, wenn ich leben will. Und das will ich, das ist mir inzwischen ganz klar.'

Jürgen Leinemann, geboren 1937 in Celle (Niedersachsen), hat Geschichte, Germanistik und Philosophie studiert. Er begann seine journalistische Karriere bei der dpa in Berlin, Hamburg und Washington. Seit 1970 arbeitete er für den Spiegel; er war Reporter und Büroleiter in Washington und Bonn, zog 1990 nach dem Fall der Mauer nach Berlin und leitete dort von 1999 bis 2001 das Ressort Deutsche Politk; seit 2002 war er Spiegel-Autor im Berliner Büro. Er ist Träger des Egon-Erwin-Kisch-Preises, des Siebenpfeiffer-Preises und des Henri-Nannen-Preises für sein Lebenswerk. Jürgen Leinemann starb am 10. November 2013 in Berlin.

Leinemann Das Leben ist der Ernstfall jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1. Kapitel Wieder zu Hause »Woran denkst du, Vater?« Wow, geschafft. Nach Luft schnappend, sackte ich auf meinen Sitz. Mein Herz klopfte so heftig, dass ich dachte, jeder müsste es hören. Ich schloss die Augen und war glücklich. Und stolz. Wer hätte mir das zugetraut? Noch am Morgen waren mir selbst Zweifel gekommen. Aber jetzt war ich hier. Langsam beruhigte sich mein Atem. Trotzdem brauchte ich eine Weile, bis ich es wagte, die Menschen in meiner Nachbarschaft vorsichtig zu mustern. Hatten sie gemerkt, dass ich die letzten Meter fast getaumelt war? Aber auf mich schien keiner zu achten. Sie starrten alle nach unten auf den Platz. Erst jetzt blickte auch ich auf den leeren grünen Rasen. Gleich würden die Mannschaften auflaufen, Hertha BSC in Blau. Vierundvierzig Tage hatte ich in der Klinik gelegen und an mindestens vierzig Tagen dieses Bild immer mal wieder vor Augen gehabt: Bundesligafußball, und ich im Berliner Olympiastadion. Es wurde mir zu einem Symbol für Genesung und den Wiedereintritt in die Normalität. Ich klammerte mich daran wie an einen Fetisch. Jetzt war ich hier, und alles würde gut werden. Vor vier Tagen erst war ich aus der Charité entlassen worden, wo die Ärzte fast sechs Wochen lang mit Strahlen- und Chemotherapie den tückischen Tumor in meinem Hals auszumerzen versucht hatten. Ob sie erfolgreich waren, würde ich erst im November erfahren, frühestens. Bis dahin konnte ich mit meiner heißersehnten Rückkehr in die Normalität aber nicht warten. Wie ernst es mir damit war, das sollte der Stadionbesuch demonstrieren. Mein Freund Kurt, ein Fußballfan wie ich, war sofort bereit gewesen, mich zu begleiten, immerhin ging es gegen den amtierenden Deutschen Meister, den VfB Stuttgart. Kurt saß ein paar Reihen entfernt. Jetzt war er losgegangen, um mir einen Tee zu besorgen. Langsam füllte sich das Stadion, nur die Plätze rechts und links von mir blieben frei. Eigentlich hätte ich froh sein können, weil mir das mehr Bewegungsspielraum ließ. Stattdessen reagierte ich mit Misstrauen. Hatte man eine Sicherheitszone um mich geschaffen? War ich ein Aussätziger? Längst hatte ich erfahren, dass Krebs für viele noch immer so sehr eine Schande ist wie eine Krankheit. Das hatte mich empfindlich gemacht. Sah man mir etwa sogar hier »das Böse« an, das in mir gewachsen war? Als das Spiel begann, vergaß ich das alles. Keine Schmerzen mehr im Mund, keine weichen Knie. Ich konnte zwar noch nicht schreien mit meinem maladen Hals, wohl aber mit den anderen bei Toren aufspringen und die Arme hochreißen. Nur fielen erst einmal keine Tore. Trotzdem stieß ich den Tee um, den Kurt mir besorgt hatte, und in der Halbzeit schlief ich vor Erschöpfung ein. Aber ich hielt durch. Und es wurde auch noch eine richtig spannende Begegnung, die Hertha 3:1 gewann. Beim nächsten Heimspiel war ich wieder da. Meiner Frau Rosemarie erzählte ich zu Hause nur, wie glücklich ich war, wieder beim Fußball gewesen zu sein, und wie stolz, es bis ins Olympiastadion mit all seinen gigantischen Blöcken und vielen Treppen geschafft zu haben. Kein Wort über meine Mühen beim An- und Abmarsch, die ich ohne Kurt nie geschafft hätte, keine Silbe über meine Außenseiterphantasien. Zu Hause war alles gut, dafür war es ja zu Hause. Hatte ich in meinem Krankenbett und unter meiner Strahlenmaske nicht oft genug davon geträumt? Meine Heimkehr aus der Klinik hatte ich als positiven Kulturschock erlebt. Die Vertrautheit umhüllte mich wie ein warmes Bad. Immer wieder wanderte ich langsam durch die Wohnung, von hinten nach vorn, von vorn nach hinten. Ich fläzte mich in meinen Lieblingssessel, legte mich auf alle Sofas und Liegen, stand minutenlang vor den Bücherwänden, zog vertraute Bände heraus und las ein paar Zeilen, schaltete den Fernseher an, nur um das schöne Bild zu sehen, und posierte gedankenleer, aber zufrieden an meinem Schreibtisch. Wir sind oft umgezogen in unserem Leben, das brachte der Journalistenberuf so mit sich. Aber unsere Berliner Wohnung liebten wir besonders. Jetzt erlebte ich sie, als wäre sie mir neu geschenkt worden. Ja, hier sollte sich verwirklichen lassen, was meine Frau und ich uns an meinem vorletzten Tag in der Charité in fast pathetischer Feierlichkeit versprochen hatten: Gemeinsam wollten wir unsere restliche Lebenszeit gestalten, in Würde, trotz der Krankheit. Im Grunde fing mein Rentnerleben zu Hause jetzt ja auch erst an. Bis zum Ende des letzten Jahres war ich ja noch täglich in die Spiegel-Redaktion am Brandenburger Tor gefahren, danach hatte mir ein Freund, für den ich auch noch ein bisschen arbeiten wollte, ein kleines Büro in seiner Fernsehproduktionsfirma überlassen. Da war ich hin und wieder gewesen, schon wegen Rosemarie, die in unserer Wohnung noch eine kleine Privatpraxis unterhielt und am liebsten nicht gestört werden wollte. Richtige Gewohnheiten gab es für unser siebtes Jahrzehnt also noch gar nicht. Abends gemeinsam Tagesschau sehen und morgens zusammen frühstücken und über den Zeitungsrand hinweg ein bisschen diskutieren – das war es im Grunde. Alles andere sollte sich gerade einspielen, als die Krankheit schlagartig alles veränderte. Jetzt bestimmte sie unser Leben zu Hause. Dreimal täglich – morgens gegen neun, mittags zwischen eins und zwei und abends zwischen sechs und sieben – kamen die jungen Schwestern einer örtlichen Pflegestation, um meine tiefe Bauchwunde zu verbinden und mich an die tägliche Nahrungszufuhr anzuschließen. Durch die massive Bestrahlung war der Tumorbereich im Hals so verätzt und vernarbt, dass ich zunächst einmal nicht schlucken konnte. So blieb ich auf künstliche Nahrung angewiesen. An einem Ständer neben meinem Schreibtisch hingen jeweils ein Beutel mit geschmackloser, gelblicher Astronautenpampe und ein Sack mit Wasser. Das alles war, was Kalorien und Vitamine betraf, aufs Genaueste berechnet, kleckerte mir aber tropfenweise so langsam über ein Schlauchsystem in den Magen, dass ich täglich bis zu sechs Stunden an meinen Schreibtischstuhl gefesselt war. Wegen meines Diabetes musste ich die Nahrung regelmäßig zu mir nehmen, konnte die Sondenkost deshalb nicht nachts im Schlaf in mich reinlaufen lassen. So mussten Rosemarie und ich täglich, auch sonnabends und sonntags, zur selben Zeit aufstehen, um alles für die vier freundlichen, einander ablösenden Pflegerinnen vorzubereiten. Das war lästig, aber längst nicht alles, an das wir uns gewöhnen mussten. Rosemarie, die als Angehörige wie als Ärztin gefragt war, hing manchmal stundenlang am Telefon, um meine medizinische Versorgung zu organisieren. Die Strahlenspezialisten in der Charité hatten uns mit dem Auftrag entlassen, im November wiederzukommen. In der Zwischenzeit aber waren wir auf uns selbst gestellt. Nur die Chirurgen, die mit einer beherzten Operation den Schaden durch die Bauchfellentzündung behoben hatten, für den ihre Kollegen von einer anderen Fakultät verantwortlich waren, schlossen mich in ihr Herz und betreuten mich weiter. Zweimal die Woche versorgten sie die Wunde in ihrer Ambulanz. Das erforderte immer eine Reise quer durch Berlin, hin und zurück. Sooft ich früher zum Bäcker gegangen war, so häufig besuchte ich jetzt die Apotheke. Nahezu täglich machten wir uns überdies auf den kurzen, mir aber immer mühsamer werdenden Weg zu unseren Hausärztinnen. Demonstrative Kraftakte, wie mein Ausflug ins Olympiastadion, konnte ich nicht täglich vollbringen. Schon nach meinem ersten Gang zu den beiden Ärztinnen in der Nachbarschaft bat ich meine Tochter Susanne, mich mit dem Auto heimzufahren – zu Fuß hätte ich es nicht zurückgeschafft. Die beiden Hausärztinnen, die die Praxis gemeinsam betreiben, waren einverstanden, die zentrale Betreuung meiner diversen gesundheitlichen Malaisen zu übernehmen. Aber für einige meiner Defekte brauchte ich zusätzlich eine fachärztliche Behandlung. Um meinen Diabetes kümmerte sich schon eine spezialisierte Kollegin, zu der HNO-Ärztin aber, die bis zum Schluss meinen Tumor nicht erkennen konnte, wollte ich auf keinen Fall zurück. Also brauchten wir einen kompetenteren Nachfolger. Und einen Schmerzspezialisten suchten wir auch. Am liebsten wäre mir dazu noch ein Facharzt für Onkologie gewesen, aber der war nicht leicht zu finden. Ich raffte derweil alle meine verbliebenen schwachen Kräfte zusammen, um mir selbst und meiner Umwelt so viele Signale der Normalität zu liefern wie möglich. Dabei war mir die Unnormalität ins Gesicht geschrieben. »Du hast grau ausgesehen damals«, erzählte mir später eine Freundin, »unlebendig. Als ob unter der Oberfläche etwas fehlte.« Über zwanzig Kilo hatte ich abgenommen, jetzt strapazierte ich meine letzten Reserven. Obwohl meine Stimmkraft nicht ausreichte, um länger zu sprechen, empfing ich täglich Besucher. Und Weihnachten, nahmen wir uns vor, würden wir wie immer nach Sylt reisen. Das wäre doch gelacht, wenn wir das nicht schafften. Und tatsächlich – der Eindruck, den ich erwecken wollte, stellte sich ein. »An deinem Schreibtisch sah es aus wie früher. Der Computer war eingeschaltet, aufgeschlagene Bücher und handgeschriebene Notizen lagen herum«, erinnert sich meine Tochter, »es sah sehr nach Arbeit aus.« Ich fing auch, kaum war ich aus der Charité entlassen, sofort an, den Text zu redigieren, den ich im Krankenhaus über meine Erlebnisse für die Zeit geschrieben hatte und der jetzt in diesem Buch – in leicht verkürzter Form – als Prolog abgedruckt ist. Das sollte mein Schlussstrich sein unter diese schreckliche Zeit. Danach setzte ich übergangslos die Arbeit an dem neuen Buch fort. Über den...


Leinemann, Jürgen
Jürgen Leinemann, geboren 1937 in Celle (Niedersachsen), hat Geschichte, Germanistik und Philosophie studiert. Er begann seine journalistische Karriere bei der dpa in Berlin, Hamburg und Washington. Seit 1970 arbeitete er für den Spiegel; er war Reporter und Büroleiter in Washington und Bonn, zog 1990 nach dem Fall der Mauer nach Berlin und leitete dort von 1999 bis 2001 das Ressort Deutsche Politk; seit 2002 war er Spiegel-Autor im Berliner Büro. Er ist Träger des Egon-Erwin-Kisch-Preises, des Siebenpfeiffer-Preises und des Henri-Nannen-Preises für sein Lebenswerk. Jürgen Leinemann starb am 10. November 2013 in Berlin.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.