E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Leithner Nachhaltige Kapitalmärkte
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-451-82634-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Transformation erfolgreich gestalten
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-451-82634-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ganzheitliche Nachhaltigkeit erfordert einen umfassenden Wandel von Produkten, Unternehmen und globalen Wertschöpfungsketten. Kapitalmärkte werden eine entscheidende Rolle dabei spielen, diese Transformation zu finanzieren und voranzutreiben. Aber wie? Hochkarätige Entscheiderinnen und Entscheider aus Politik und Praxis beziehen in diesem Buch Stellung: Sie formulieren klare Erwartungen aus Sicht aller relevanten Interessengruppen, schildern aktuelle Best Practices aus dem Kapitalmarktumfeld und leiten daraus Handlungsempfehlungen für die Zukunft ab.
Mit der richtigen Strategie können Deutschland und Europa nicht nur die große Transformation meistern, sondern bei der Gestaltung globaler nachhaltiger Kapitalmärkte in Führung gehen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1.
Die große Transformation als Aufgabe für den Kapitalmarkt
Die Umstellung der Ökonomien weltweit auf ein nachhaltiges Wirtschaften ist die größte Aufgabe, die wir in unserer Zeit zu meistern haben. Diese Einsicht ist in unserem noch jungen Jahrhundert aus den Rändern des öffentlichen Diskurses in dessen Mittelpunkt gerückt. Umweltthemen dominieren die mediale Berichterstattung in einer neuen gesellschaftlichen Breite. Große Teile der Bevölkerung – und ganz besonders der jungen Generation – nehmen den Klimawandel und andere Bedrohungen unserer natürlichen Lebensgrundlagen, aber auch den mangelnden Fortschritt zu einer gerechteren, demokratischen Welt zum Anlass, sich in neuer Qualität einzubringen: in ihrem Konsumverhalten und in einem seit den 1970er und 1980er Jahren nicht gekanntem politischen Engagement. Sie stellen Fragen nach unserer Verantwortung für künftige Generationen, die für Führungskräfte in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik nicht von der Hand zu weisen sind. Viele Jugendliche gehen für umweltpolitische Ziele auf die Straße, und breite Bevölkerungskreise üben über soziale Medien mit oft hoher Professionalität Druck auf die traditionellen Verantwortungsträger aus. Mit Erfolg: Innerhalb weniger Jahre ist ökologische Nachhaltigkeit zur obersten Priorität vieler politischer Akteure auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene geworden. Das zeigt sich nicht nur am Green Deal der Europäischen Kommission; auch der zurückliegende Bundestagswahlkampf war stark vom Thema Nachhaltigkeit bestimmt. Auch überkommene parteipolitische Gewichtungen haben sich vor diesem Hintergrund verschoben. Neu ist vor allem, dass Nachhaltigkeit inzwischen allgemein als dringlich anerkannt wird: Es hat sich ein breiter gesellschaftlicher Konsens gebildet, dass uns die Umstellung innerhalb einer Generation gelingen muss: also in den nächsten 25 Jahren. Selbst unabhängige Organe wie das Bundesverfassungsgericht mit seinem jüngsten Grundsatzurteil bestätigen diese Sicht der Dinge. Sie nehmen die Politik in die Pflicht, über die aktuelle Generation hinaus zu handeln und z. B. den Abbau der Treibhausgasemissionen ab 2031 besser zu regeln. Diese Breite der Dynamik hat eine neue Qualität gewonnen und gibt der Transformation einen disruptiven Charakter. Die Diskussionen über Nachhaltigkeit beschränken sich nicht auf den Klimawandel. Wir beobachten zugleich eine völlig neue Dynamik und Schärfe in der Auseinandersetzung über Gerechtigkeit und den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Die Covid-19-Pandemie der letzten beiden Jahre hat nicht nur die reale gesellschaftliche Kluft zwischen Arm und Reich, sondern auch den Kontrast zwischen sozialer Ausgrenzung und eingebildeter Überlegenheit verstärkt und so die Debatten über soziale Inklusion weiter verstärkt. Nach fünf Jahrzehnten mäßigen Fortschritts in der Gleichberechtigung der Geschlechter hat die Debatte zur Anerkennung von Diversität und zur Rolle von Frauen in Führungspositionen der Wirtschaft eine deutlich schärfere Form angenommen. Auch internationale Ungleichgewichte werden offen adressiert: Ungleiche Standards in der Beschäftigung, von denen globale Unternehmen bislang zumindest indirekt über die weltweite Arbeitsteilung profitieren konnten, werden infrage gestellt und gesetzgeberisch zunehmend eingeschränkt, wie zuletzt im deutschen Lieferkettengesetz. Gleichzeitig sehen wir im Zuge der Aufarbeitung verschiedener Skandale aufgrund mangelnder Compliance und Fälle des Missbrauchs wirtschaftlicher Macht, dass Nachhaltigkeit auch Fragen zur guten Unternehmensführung aufwirft – wie etwa beim Abgasskandal deutscher Automobilfirmen oder bei der spektakulären Insolvenz des Zahlungsdienstleisters Wirecard. Keines dieser Themen ist heute aus den Agenden von Geschäftsführungs-, Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen wegzudenken. Gleichzeitig haben sich an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Politik die Transparenzanforderungen für den Dialog mit verschiedenen Anspruchsgruppen erhöht: den Kapitalgebern, der Kundschaft, internationalen Nichtregierungsorganisationen etc. Damit wird deutlich: Nachhaltigkeit umfasst Umweltthemen ebenso wie Soziales und Unternehmensführung, englisch Environment, Social, Governance – ESG. ESG ist zum bestimmenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Thema unserer Zeit geworden. Das bedeutet zugleich: ESG ist als Umsetzungsanforderung in der Realpolitik angekommen. Der European Green Deal, auf den sich die Europäische Union im Dezember 2019 einigte – in sicher nicht zufälliger Analogie zum großen Aufbruch des New Deal in den USA der 1930er Jahre –, sieht jährlich zusätzliche Investitionen von 260 Milliarden Euro oder 1,5 Prozent des EU-weiten Bruttoinlandsprodukts vor. Er setzt dabei auf den öffentlichen ebenso wie auf den privaten Sektor. Auch in den USA hat sich die Biden-Administration nach einem zeitweiligen Rückschritt in der Trump-Ära des Themas wieder beherzt angenommen. Die USA sind zum Pariser Klimaschutzabkommen zurückgekehrt. Bidens Clean-Energy-Plan sieht vor, in den nächsten vier Jahren über zwei Billionen US-Dollar in den Klimaschutz zu investieren. Und auch beim jüngsten G7-Gipfel in Cornwall stand neben der Coronapandemie der Umweltschutz im Fokus der Gespräche auf höchster politischer Ebene. Nur wenige Wochen nach dem Erscheinungstermin dieses Buchs stehen mit dem UN-Klimagipfel COP 26 im schottischen Glasgow weitere Weichenstellungen an. Kein Zweifel: Die nachhaltige Transformation unserer Gesellschaften und Volkswirtschaften ist im Gang. Von Transformation zu reden ist das eine; sie auch umzusetzen ist das andere. Notwendige Bedingung für den Wandel ist seine Finanzierbarkeit. Die Investitionssummen, die hier im Spiel sind, zeigen: Diese Transformation wird es nicht umsonst geben. Die Internationale Energieagentur IEA geht davon aus, dass die jährlichen Investitionen im Energiesektor von jährlich zwei Billionen US-Dollar auf fünf Billionen US-Dollar jährlich erhöht werden müssen, um bis 2050 das Pariser Klimaziel einer Erderwärmung von maximal 1,5° C zu erreichen.1 Und das sind nur die Summen für die ökologische Nachhaltigkeit: für das »E«. Schätzungen für den erforderlichen Wandel bei »S« und »G« liegen noch gar nicht vor. Aber auch sie werden kommen. Eines ist schon heute gewiss: Diese enormen Summen wird die öffentliche Hand nicht allein stemmen können: weder von den Volumina noch von den Planungskapazitäten her. Auch die öffentlichen Banken und Förderinstitute stoßen hier an ihre Grenzen und sind im Sinne unserer marktwirtschaftlichen Grundkonzeption auch nicht gedacht als Träger einer Neuausrichtung. Um das Ziel einer Netto-Null-Wirtschaft zu erreichen, dürften weltweit Investitionen in Höhe von 50 bis 100 Billionen US-Dollar nötig sein; das geht aus Angaben des Intergovernmental Panel on Climate Change der Vereinten Nationen und des Vermögensverwalters BlackRock hervor.2 Damit wird deutlich: Die grüne Transformation wird nur gelingen, wenn wir es schaffen, im großen Maße privates Kapital für sie zu mobilisieren. Auch hier gilt aber: Banken allein können diese enorme Finanzierungsaufgabe nicht bewältigen. Sie sind keine Eigenkapitalgeber, und aufgrund der politischen Bemühungen um eine Stabilisierung und Regulierung ihrer Bilanzen im Gefolge der Finanzkrise nach 2007 sind auch ihren Fremdkapitalkapazitäten enge Grenzen gesetzt. Gerade in Europa besteht darüber hinaus eine unveränderte politische Sorge über eine im internationalen Kontext zu große und einseitige Abhängigkeit von Banken auch im Kontext potenzieller Krisen. Allerdings kann der Kapitalmarkt als einzige Ergänzung und Alternative zu Staat und Banken bei der Eigen- und Fremdkapitalfinanzierung des Umbaus eine zentrale Rolle spielen und auch die damit verbundenen Risiken in den Griff bekommen. Es führt kein Weg daran vorbei: Die ökologische Transformation ist nicht zu schaffen, ohne dass diejenigen konsequent in die Pflicht genommen werden, die über die nötigen Mittel und das nötige Netzwerk verfügen, um langfristige Veränderungen voranzutreiben. Das sind die Kapitalmarktteilnehmer, und für sie heißt es vor allem: das dafür nötige Kapital bereitzustellen und ihre Portfolios am Kapitalmarkt entsprechend auszurichten. Gerade weil die Veränderung so tiefgreifend und die Unsicherheit über die richtigen Ansätze in der Praxis zur Umsetzung hoch ist, gilt: Wir müssen die Schumpeter’sche Kraft der schöpferischen Zerstörung und Kreativität des Kapitalmarkts für die Transformation in Richtung Nachhaltigkeit noch besser nutzen. Es sind ergebnisoffene, dezentrale Entdeckungsprozesse, koordiniert über offene und transparente Märkte, die unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem so erfolgreich machen. Zentrale Steuerungssysteme wären mit komplexen Prozessen dieser Größenordnung schlicht überfordert. Der Staat muss Ziele setzen, einen klaren Rahmen vorgeben und in Einzelfällen auch Marktversagen korrigieren bzw. selbst investieren. Doch bei allem, was darüber hinaus geht, sollten ihm in unserer marktorientierten Wirtschaftsverfassung enge Grenzen gesetzt sein. Gerade bei der Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit kann sich daher einmal mehr die Stärke und globale Bedeutung der gerade für Deutschland so prägenden sozialen Marktwirtschaft zeigen – sofern es ihr gelingt, auch das volle Potenzial des Kapitalmarkts auszuschöpfen. Dieses Potenzial gründet sich nicht nur auf seine Fähigkeit, Finanzmittel zu mobilisieren, sondern auch auf seine Kapazität zur schnellen Verarbeitung von Informationen, seine weltweite Vernetzung und...