E-Book, Deutsch, 328 Seiten
Lemme / Körner Die Kraft der Präsenz
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8497-8371-6
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Systemische Autorität in Haltung und Handlung
E-Book, Deutsch, 328 Seiten
Reihe: Beratung, Coaching, Supervision
ISBN: 978-3-8497-8371-6
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martin Lemme, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, eigene Praxis mit KV-Zulassung (VT) für alle Altersgruppen, Systemischer Therapeut, System. Supervisor, System. Coach für Neue Autorität und Systemischer Elterncoach, Partner in SyNA: Systemisches Institut für Neue Autorität (www.neueautoritaet.de), Mitbegründer des Curriculums »Systemisches Elterncoaching« beim IF Weinheim, mehrjährige Tätigkeit in ambulanter, teilstationärer und stationärer Jugendhilfe sowie Psychotherapie, Supervision und Fallberatung u. a. m. Bruno Körner, Diplom-Sozialpädagoge (FH), Systemischer Familientherapeut (IFW/SG), Systemischer Elterncoach (IFW); Systemischer Coach für Neue Autorität, Partner in SyNA: Systemisches Institut für Neue Autorität, Mitentwickler des Curriculums »Systemisches Elterncoaching« beim IF Weinheim. Mehrjährige Tätigkeit in der ambulanten und stationären Jugendhilfe, Eltern-, Familien-, Teamberatung, freiberufliche Tätigkeit im Bereich Coaching. Partner in SyNA: Systemisches Institut für Neue Autorität Schwerpunkte der Arbeit: Systemische Beratung und Therapie, Neue Autorität in Jugendhilfe, Beratung und Schule, Fortbildungen, Seminare, Vorträge. Mitbegründer und aktiv im Netzwerk Neue Autorität (NeNA) zur Weiterbildung in den Konzepten Haim Omers.
Zielgruppe
Sozialpädagog:innen
Psychotherapeut:innen
Mitarbeiter:innen in Beratungsstellen
Pädagog:innen
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Vorwort von Arist von Schlippe
Es ist schon viele Jahre, genauer sogar Jahrzehnte her, dass ich meine erste Stelle als frisch examinierter Psychologe in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik antrat. Ich erinnere mich gut an einen meiner ersten Patienten, es war ein etwa 12-jähriger Junge, der wegen einer Reihe von Verhaltensauffälligkeiten auf unserer Station aufgenommen worden war. Die Eltern befanden sich in einem hässlichen Scheidungskampf, und Robert, der einzige Sohn, war darin ziemlich verloren. Als ich ihn in einem Einzelgespräch fragte, was er denn selbst vorschlagen würde, wie man ihn davon abhalten könnte, ständig zu klauen, antwortete er mir: »Schlagen! Man muss mich schlagen – so lange, bis ich es endlich kapier’!«
Die Antwort hatte mich damals zutiefst erschreckt. Wie oft mag er genau diesen Satz in verschiedenen Eskalationsstufen innerfamiliärer Auseinandersetzungen gehört haben: »Wann kapierst du’s endlich?!« Wie mag dieses eingefahrene Muster zwischen Eltern und Kind entstanden sein, und was hatte es in der Seele dieses Jungen angerichtet? Zum einen wurde mir bewusst, wie wenig Zugang der Junge selbst zu seiner inneren Verzweiflung hatte, zum anderen hatte er offenbar auch selbst nur ein einziges Bild davon, wie man mit Problemen in der Familie glaubte fertigwerden zu können: Gewalt. Es passte zu der Art, wie die Eltern miteinander umgingen, auch hier tobte ein Kampf, der von seiner Logik her nur mit dem absoluten Sieg der einen und der absoluten Niederlage der anderen Seite enden könnte. Zugleich zeigten sich aber auch die Eltern selbst im Umgang mit dem Kind am Ende ihrer Möglichkeiten. Elterliche Hilflosigkeit ist ja die Schattenseite der Idee von Macht und Kontrolle: Wer sich nicht durchsetzt, hat in diesem Bild »verloren«. Und ihnen standen offenbar kaum andere Möglichkeiten zur Verfügung, als zu eskalieren, zu eskalieren, zu eskalieren – so lange, bis der andere »es endlich kapiert!«
Die Geschichte hat mich damals sehr beschäftigt, wohl nicht zuletzt, da mir die Familie, jeder für sich, durchaus sympathisch war. Und auch, wenn ich damals weder etwas von Systemischer Therapie wusste noch von den Ideen des gewaltlosen Widerstands, erschien es mir nicht angemessen und zu einfach, die Eltern zu verurteilen. Sie waren keine »Monster«, sondern selbst Gefangene eines bestimmten »Mindsets« – eines mentalen Modells des innerfamiliären Umgangs. Sie erlebten, dass es nicht funktionierte und dass die Eskalation sie immer weiter in Richtung des völligen Zerfalls der Familie führte. Und doch waren sie ihm hilflos ausgeliefert. An dem Beispiel wurde mir erstmals deutlich, wie tief der Glaube bei vielen Menschen zumindest unseres Kulturraums verwurzelt ist, es sei möglich, mit Mitteln von Macht, Kontrolle und, ja, auch Gewalt in einen befriedigenden Zustand zwischenmenschlichen Miteinanders zu gelangen. Es ist ein ganzes Glaubenssystem, das Mitglieder einer Familie – und wohl auch Mitglieder anderer sozialer Systeme – miteinander teilen und das sogar Robert mit einbezog, der mir in diesem Kontext natürlich eher als Opfer erschien. Doch wie würde er wohl später einmal seine Kinder erziehen, wenn sie nicht parierten? Vermutlich auch so lange, »bis sie es endlich kapieren« … Ein solches Glaubenssystem, das sich in Kategorien von oben und unten, von Befehl und Gehorsam erschöpft, kann sich tief in einem Menschen festsetzen und sein Verhalten bis in die Intimbeziehungen hinein beeinflussen.
Eine nicht unwesentliche Frage in diesem Glaubenssystem ist die, wie wir »Autorität« verstehen. Gerade zwischen Eltern und Kindern ist Autorität unumgänglich – irgendjemand muss ja am Ende entscheiden, wann das Licht ausgemacht, der Schulranzen gepackt und die Zähne geputzt werden. Und offensichtlich ist es nicht so einfach, den Raum an Verstehens- und Handlungsmöglichkeiten, den die Notwendigkeit elterlicher Autorität (und darüber hinaus in anderen gesellschaftlichen Bereichen) einfordert, konstruktiv zu füllen. Vielmehr sind wir gebunden an die Bilder von Autorität, die uns als Mitglieder einer bestimmten Kultur angeboten werden.
Kultur ist das große Orientierungssystem, in das wir vom ersten Lebensmoment an eingebettet sind und in dem wir uns bewegen. Kultur lässt sich als Ganzes schon gar nicht und in einzelnen Facetten – wie dem Verständnis von Autorität – auch nicht einfach so, per Knopfdruck, verändern. Ihre Veränderung braucht Zeit, Bewusstheit und Reflexion, Diskurs, Auseinandersetzung und Praxis, vor allem Praxis – und das heißt: Versuch und Irrtum.
Das Versagen des »alten« Autoritätsbegriffes war im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr als offensichtlich geworden, auch wenn viele Menschen nach wie vor diesen Vorstellungen anhängen – wie etwa das anfängliche Beispiel von Robert deutlich zeigt. Zwischen der Forderung nach Verständnis und Gewährenlassen, Durchgreifen und Disziplin gab und gibt es wenig klare Orientierung und entsprechend viel Verunsicherung. Vor diesem Hintergrund prägte Haim Omer vor vielen Jahren schon den Begriff der , um einen Prozess der Neubesinnung anzuregen. Er machte den Begriff gemeinsam mit mir in Deutschland bekannt (Omer u. von Schlippe 2010). Wir wollten darauf hinweisen, wie gefährlich es sein kann, wenn man versucht, das Thema »Autorität« einfach durch Eliminierung des Begriffs zu erledigen. Viele Geschichten aus der Jugendhilfe bis in die Politik hinein zeigen, dass es da, wo nur die Negation von Autorität gesucht wird, ein verunsicherndes Vakuum entsteht. Wie schnell wird da gefordert, zur »harten Hand« zurückzukehren! Die gesellschaftliche Situation heute unterscheidet sich von der vor einigen Jahrzehnten dadurch, dass sich zunehmend mehr Eltern überfordert und ihren Kindern gegenüber hilflos fühlen. In unseren Studien wiesen zahlreiche der teilnehmenden Eltern Symptome auf, die auf eigentlich behandlungsbedürftige Depressionen hinwiesen. Hilflosigkeit als Antwort auf das Fehlen von Autorität kann sehr gefährlich sein. Denn es fehlt ein Bild davon, wodurch der Begriff auch heute noch auf positive Weise wichtig sein könnte: die Übernahme von Verantwortung, die Klarheit der eigenen Positionierung sowie die Standhaftigkeit, sie zu vertreten und sich dafür einzusetzen.
Doch die Resonanz in verschiedenen Feldern zeigte auch, dass der Begriff »Autorität« auch in der Verbindung mit »neu« in unserem Land ein Reizwort ist. Die Kritik, die sich an unserem Konzept entzündete, hatte mit diesem selbst nur wenig zu tun. Ich war manchmal erstaunt über Argumentationen, die uns plötzlich in eine »rechte Ecke« stellten. Reizworte verführen offenbar dazu, bereits zu »wissen«, welchen semantischen Raum sie eröffnen – eine Einladung dazu, die Personen, die eben jenes Wort verwenden, in eine bereits feststehende Kategorie zu packen, zu werten, zu entwerten, ohne genau hinzuschauen oder zu fragen.
Wie gesagt, kulturelle Veränderungen sind langsam, offenbar brauchen Umdenken und Neu-Denken Zeit und viele unterschiedliche Impulse. Das vorliegende Buch stellt sich in die Reihe dieser Bemühungen, ein menschenfreundliches Verständnis von Autorität zu erarbeiten und Autorität als einen Beziehungsbegriff zu verstehen, der sich nicht im Medium »Macht« bewegt, sondern auf Empathie, affektiver Abstimmung und wechselseitiger Resonanz beruht. Die Gewaltlosigkeit bietet genau dafür ein stabiles Fundament, die Stärke der Faust wird durch die Stärke des Ankers ersetzt, der nicht an Gewinnen oder Verlieren interessiert ist, sondern daran, hartnäckig Beziehung anzubieten. Die Autoren schlagen dabei vor, die begriffliche Vieldeutigkeit des Adjektivs »neu« durch ein neues Adjektiv zu ersetzen und dieses zugleich noch expliziter in bestehenden Denkfeldern zu verorten. Das Beiwort »systemisch«, das sie vorschlagen, ist sicher geeignet, die beschriebenen Missverständnisse und Automatismen zu vermeiden, die sich so schnell wie von selbst einstellen, wenn der Begriff »Autorität« fällt. Zugleich nehmen sie in diesem Buch auf ganzer Linie eine Reihe theoretischer Vertiefungen und Anknüpfungen an neuere Forschungen vor.
Ein beeindruckend großer Fächer mit vielen Facetten wird hier aufgefaltet, dabei stellen sie die verschiedensten Bezüge her – von neuropsychologischen bis zu humanistisch-systemischen Ansätzen –, um die »systemische Autorität« in diesen Denkfeldern zu verorten.
Die Autoren haben dabei seit Beginn ihrer Tätigkeit einen besonderen Fokus auf die Wechselwirkungen zwischen dem Präsenzerleben der Erziehenden bzw. Führenden und den Situationen und Verhaltensweisen, denen sie begegnen. Die Reflexion ihres eigenen Handelns und Erlebens und die daraus abgeleiteten Handlungen zur Stärkung der Präsenz machen deutlich, auf welche Art und Weise einem Verhalten, das sich an der Logik der Macht orientiert, am ehesten zu begegnen ist. Sie verdeutlichen, in welcher Form sich das Konzept im eigenen Handeln und in der eigenen Sprache auf komplexe Weise sichtbar machen lässt. Die Haltungen des Konzepts und...




