Lenel | Eine liebe Frau | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Lenel Eine liebe Frau

Roman | Ein Roman über ein bewegendes Frauenleben
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-98941-015-2
Verlag: Gutkind Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman | Ein Roman über ein bewegendes Frauenleben

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-98941-015-2
Verlag: Gutkind Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Welche Geschichte über unser Leben erzählen wir uns - und von welcher möchten wir, dass sie bleibt? 1963: An einem einzigen Tag in London lässt Marianne ihr Leben und ihre Entscheidungen Revue passieren. Als junge Frau wollte sie Pianistin werden. Gemeinsam mit ihrer Jugendfreundin Lotte hatte sie große Pläne nach der Haushaltungsschule. Und Lotte hat es geschafft. Während sie in den 20er-Jahren eine bekannte Malerin wurde, ist für Marianne alles anders gekommen. Laetitia Lenel hat einen wunderbar verdichteten und sprachmächtigen Roman darüber geschrieben, was eine Gesellschaft von Frauen erwartet und was sie sich selbst erlauben. Eine liebe Frau erzählt nicht nur von einer späten weiblichen Selbstermächtigung, sondern ist auch eine Liebeserklärung an die verändernde Kraft von Kunst und Literatur. »Laetitia Lenels erstaunlich aktueller Roman handelt vom Leben einer Frau, die zurückblickt: auf die Liebe, auf die Freundschaft, auf die Sehnsucht. Und vor allem auf die vielen Möglichkeiten, die wir eigentlich doch haben sollten, die uns aber aus irgendwelchen Gründen immer verwehrt bleiben.« Dana von Suffrin »Was für ein schönes Buch! So tolle Frauenfiguren. Nach diesem eindrücklich erzählten Leben will bestimmt niemand mehr ?eine liebe Frau? sein.« Daniela Dröscher

Laetitia Lenel studierte Geschichte und Philosophie in Freiburg, Berlin und Prag mit anschließender Promotion in Berlin. Für einen Text über Briefe ihres Urgroßvaters an ihre Urgroßmutter erhielt sie den Essaypreis WerkstattGeschichte. Mit einem Auszug aus ihrem Roman war sie Stipendiatin der Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung. Sie lebt in Frankfurt am Main.
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2

Sie hätte Thekla keinen Moment länger ertragen. Allein der Gedanke an einen weiteren Vormittag in ihrer Nähe hatte ihr Kopfschmerzen bereitet. Schon kurz nach dem Aufwachen hatte sie deshalb beschlossen, allein loszuziehen. An der Waschschüssel hatte sie darüber nachgedacht, wie sie es anstellen würde. Sie hatte sich Sätze, Theklas Reaktionen und mögliche Antworten überlegt, bis sie sich schließlich, im Handtuch vor dem Spiegel, kopfschüttelnd unterbrach, weil sie sich dabei ertappte, wie sie unwillkürlich Lippen und Kopf bewegte, als wäre sie Thekla und sie selbst zugleich.

Am Abend ihrer Ankunft hatten Theklas Fragen sie noch gefreut. Wann hatte sich zuletzt jemand so für sie interessiert? Doch schon am nächsten Tag hatte sie in dieser vermeintlichen Zugewandtheit etwas anderes erkannt: eine beinahe aggressive Aufdringlichkeit. Thekla wollte immer über dasselbe sprechen. Paul, die Kriege, die Nazis. Während Marianne sich bemühte, Theklas Neugier durch knappe Antworten in Schach zu halten, schien diese mit bemerkenswerter Rücksichtslosigkeit geradezu bemüht, Marianne aus der Fassung zu bringen. Wechselte Marianne das Thema – London, der Frühling, die englische Literatur, sie hatte sich seit ihrer Ankunft eine ganze Reihe von Themen zurechtgelegt, die sie in solchen Momenten ansprechen konnte –, kam Thekla ohne Umschweife auf ihren Gegenstand zurück, Mariannes Vergangenheit. In den Zwanzigerjahren hatte Thekla in Frankfurt eine Psychoanalyse gemacht; diese Erfahrung schien sie als Berechtigung zu nehmen, ihre Mitmenschen auszuquetschen wie weiche Zitronen. Ob er ihr fehle? Ob sie, sie frage mal ganz direkt, es heute anders machen würde? Die Aufnahmen der vier Enkelkinder, die Marianne vor ihrer Abfahrt hatte abziehen lassen, nahm Thekla zur Kenntnis, ihr eigentliches Interesse aber galt ausschließlich ihr, Marianne. Und die aktuelle Feuilletondebatte! An dieser Stelle hatte Thekla auf den Sofatisch gezeigt, auf dem die fein säuberlich ausgeschnittenen Artikel aus den deutschsprachigen Zeitungen lagen, die sie – »das lasse ich mir nicht nehmen« – auch hier in London abonniert hatte. Ob jene, hier hatte Thekla gezögert, Neuverortung der Schuld nicht auch Pauls Opfer in anderem Licht erscheinen lasse? Schließlich seien damit alle Behauptungen vom deutschen Verteidigungskrieg ein für alle Mal als unhaltbar entlarvt worden. Von einem Imperium Germanicum habe man 1914 geträumt, von deutscher Weltmachtstellung! Und wohin das 1933 geführt habe, sei ja bekannt.

Marianne hatte Thekla mehrfach zu verstehen gegeben, dass ihr an derartigen Auseinandersetzungen nicht gelegen war. Doch weder Thekla noch irgendwer sonst schien das zu verstehen. Als sie am zweiten Tag ihre Tochter angerufen und ihr flüsternd erklärt hatte, dass sie beabsichtige, früher abzureisen, dass sie es nicht aushalte, dass Theklas Fragen ihr lästig seien und auch ihre Magenschmerzen sich zurückgemeldet hätten, hatte Lilli nur gelacht. Das seien doch die normalen Symptome des Reisens: Erst komme die schlechte Laune, dann die Erschöpfung. Sie mache sonst einfach zu viel. Eine Pause, weit weg vom Freiburger Alltag, tue ihr mit Sicherheit gut. »Du wirst sehen, danach fühlst du dich besser denn je.« Lilli klang auffällig gut gelaunt. Am Ende war es vielleicht Lilli, der es guttat, ihre alte Mutter einmal los zu sein.

Denn das war sie: eine alte Mutter, bald fünffache Großmutter. Doch das Alter störte sie nicht; im Gegenteil. Während Thekla sich vor jeder Mahlzeit über das faltige Gesicht empörte, das sie aus dem Spiegel über dem Esszimmertisch anstarrte, empfand Marianne die Zeichen des Alters als passenden Ausdruck eines Zustands, nach dem sie sich seit Jahren, ja Jahrzehnten gesehnt hatte. Als hätte das Alter sie von der Last ihrer selbst befreit. Vielleicht, dachte sie, während sie einen Augenblick stehen blieb und den Enten zusah, die über das Wasser zogen, fühlte sie sich zum ersten Mal schön, seit ihre Haut von Altersflecken übersät und ihr Haar weiß geworden war. Leicht, beinahe schwebend, mehr wie ein Vogel als ein Mensch. Denn sahen die Enten nicht aus, als würden sie schweben, wie sie in Paaren über das Wasser streiften, schleierförmige Schweife hinter sich herziehend, alle im gleichen Takt? Marianne selbst unauffällig, unscheinbar in der Menge. Als wäre sie für ihre Mitmenschen unsichtbar. Es war, dachte sie im Weitergehen, mehr der Zustand einer Teekanne als der einer Frau. Man nahm sie zur Kenntnis – und blickte woandershin. Der Mann mit Hut, zum Beispiel. Wann hatten Männer aufgehört, sie anzusehen? Doch es kränkte sie nicht, im Gegenteil empfand sie den abwesenden Blick der anderen als Befreiung, als ermögliche ihr dieses Desinteresse erst, sie selbst zu sein. Sie hatte sich immer ein wenig unpassend gefühlt, ein wenig zu rotwangig, ungelenk, ihrer Weiblichkeit seltsam bewusst. Selbst damals, als Paul und sie sich gerade kennengelernt hatten und er ihr wieder und wieder versicherte, wie schön sie sei, selbst damals hatte sie sich unpassend gefühlt. Fast hatte sie das Gefühl wieder gespürt, als sie am Tag zuvor mit Thekla die alten Fotos betrachtete. Die junge Frau auf dem Bild hatte gelächelt, doch in ihren Augen und in ihrer leicht gebeugten Haltung hatte etwas wie Scham gelegen, als müsste sie sich fortwährend für irgendetwas entschuldigen. Sie erinnerte sich an die Angst, die sie damals gespürt hatte, die Angst vor dem Makel, als würden ihr die Zumutungen der Weiblichkeit auf Schritt und Tritt folgen, jeden Augenblick bereit, sie durch einen unangenehmen Geruch, einen Blutfleck auf dem Rock, ein zu breites Lächeln oder eine falsche Bewegung zu verraten. Nachmittage, ja ganze Wochen hatte sie damit verbracht, sich über irgendeine Bemerkung oder eine unglückliche Bewegung den Kopf zu zerbrechen, und insgeheim hatte sie sich täglich dafür verflucht, keine andere zu sein, blond und unbeschwert wie ihre Schulfreundin Elly Rohrbach oder zierlich und elegant wie ihre Cousine in Hamburg.

Und dennoch waren es diese Frühlingstage, an die sie dachte, wenn sie, wie jetzt, den Stechginster roch, einzelne Nachmittage, die sie aus unerfindlichem Grund noch immer bis ins letzte Detail erinnerte, während der Großteil der Jahre danach in undefiniertem Grau versank, strukturiert und gerahmt nur durch äußere Ereignisse, die Einschulungen, Abiturfeiern und den Auszug der Kinder, den Krieg und die Geburten der Enkel. Jene Frühlingstage aber, an denen sie sich erkannt und begehrt gefühlt hatte, standen ihr noch jetzt in aller Deutlichkeit vor Augen, und während sie weiterlief, am Wasser entlang über den knirschenden Kies, meinte sie Pauls Blick wieder zu spüren, seine Hand auf ihrer Schulter und zwischen ihnen das unausgesprochene Einverständnis, dass sie zusammengehörten. Zwar war er nie einer der Männer gewesen, die ihrem Entzücken Worte verliehen, keiner wie Ernst Friedrich, der Studienfreund ihres Bruders, den sie kurz nach Abschluss der Haushaltungsschule auf einer Reise in den Harz kennengelernt und der sie mit seinen wortreichen Avancen erfolgreich in die Flucht geschlagen hatte (Paul nannte ihn später einen Schaumschläger; seine Eifersucht hatte sie heimlich gefreut). Aber sie sah es in Pauls Augen, wenn er sie begehrte, und dann konnte er doch etwas sagen, eine Assoziation, eine kleine Geschichte, einen zärtlichen Kosenamen, sie in den Arm nehmen und auf eine Art berühren, dass ihr das Herz stehen blieb, wie an jenem Tag Ende Mai, als er ihr die Geschichte von Amor und Psyche erzählt hatte. Am Nachmittag hatten sie im Garten des Onkels Fotos gemacht, die Luft war bereits warm, die Pfingstrosen im hinteren Beet standen in voller Blüte, und der Fotograf, ein Freund ihres Onkels, schien aufgeregt wegen all der Kostüme, die Paul und sie herausgesucht hatten. Sogar als Esmeralda war sie gegangen, mit rotem Rock und goldenen Münzen am Saum, die beim Laufen lustig klingelten. Als das letzte Foto geschossen war und Paul und sie ins Haus gingen, um sich umzuziehen, hatte er sie angesehen, lang und bestimmt und vielleicht auch ein bisschen stolz, und später waren sie Arm in Arm nach Hause geschlendert, »die frisch Vermählten«, wie Hans sie damals nannte. Die Sonne war durch die Blätter der Eichen gefallen, und Paul hatte ihr von der Königstochter Psyche erzählt, die so schön war, dass die Menschen aufhörten, Venus zu verehren, die Göttin der Liebe und Schönheit. Er hatte ihr auch von Amor erzählt, Psyches Mann, und der Liebe zwischen den beiden, die so groß war, dass sie den Hass der Venus, Amors Mutter, überwand, und Psyche die schrecklichen Prüfungen überstehen ließ, die Venus ihr stellte.

Mochte er für die falsche Sache gebrannt haben oder verblendet gewesen sein, wie Thekla es nannte, nie würde sie einen Nachmittag wie diesen vergessen. Zu Hause hatten sie sich an den Esstisch gesetzt, obwohl sie ja frei waren seit ihrer Hochzeit. Auch ihre Mutter war an dem Wochenende verreist, die Wohnung war leer, und im Haus war es still, aber vielleicht wäre es Paul nicht anständig vorgekommen, sie zu umarmen, als noch das helle Nachmittagslicht in die Wohnstube fiel. Also hatten sie sich einander gegenübergesetzt, er mit seinen ewigen Aufsätzen, sie mit dem Strickzeug. Sie erinnerte sich an ein kurzes Gefühl der Enttäuschung – hieß es nicht, dass Liebende miteinander die Zeit vergessen? Stattdessen hatte er wieder in der ihm eigenen, leicht gebückten Haltung über seinen Texten gesessen und sie wie die treu sorgende Ehefrau über den Strümpfen. Hätte sie wenigstens ein Klavier gehabt! Aber sie fügte sich – hätte sie denn etwas sagen können? Erst am Abend, nach dem Essen, hatte Paul sie endlich an sich gezogen, ihr über Schultern, Rücken und Hüften gestrichen und ihr von dem Gespräch mit Professor...



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