E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Lerchbaum Wo Rauch ist
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-95988-120-3
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-95988-120-3
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Can Toprak, investigativer Journalist, Frauen¬held und Energiebündel, schien unbesiegbar - auf einmal ist er tot. Olga Schattenberg trauert. Zwar waren Can und sie längst nicht mehr das streitlustige Paar, das gemeinsam dem Establishment trotzte. Denn Olga hat MS, sitzt im Rollstuhl, ringt mit ihrem zunehmend unkooperativen Körper. Doch ein Leben als Aktivistin hat sie Argwohn gelehrt: Can ist häufig angeeckt, sein Tod muss jemandem genützt haben. Sie rafft sich auf, gewinnt Verbündete und geht der Sache nach. Unterdessen wird in Wien die Stimmung aggressiver, der politische Rechtsdrall bleibt nicht ohne Folgen. Dann tauchen plötzlich Staatsdiener auf, die wissen möchten, was aus Can Topraks letzten Recherchen geworden ist ... Ein harmoniesüchtiger Grabredner. Eine psychisch instabile Straftäterin. Eine gelähmte Revoluzzerin. Aus den Perspektiven dieses ungewöhnlichen Trio infernal knüpft Gudrun Lerchbaum ihren hochdynamischen Kriminalroman. Provokant, geschmeidig und humorvoll entspinnt sich ein Plot um Freundschaft und Widerstand, Illusion und Vorurteil, ein spannendes Vexierspiel um den Mut zum Denken, Hinsehen und Hinterfragen.
Gudrun Lerchbaum wuchs in Wien, Paris und Düsseldorf auf, sammelte Erfahrungen in zahllosen Jobs, u.?a. als Lagerarbeiterin, Grafikerin, Kellnerin, Sekretärin, Plakatkleberin und Aktmodell, studierte Architektur und Philosophie. Neben ihrer Arbeit als Architektin zog sie zwei Töchter groß und engagierte sich für geflüchtete Mädchen. Nach Lügenland (Pendragon) ist Wo Rauch ist ihr zweiter Kriminalroman. Sie lebt in Wien.
Autoren/Hrsg.
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1
Olga
Sie fuhr ihren Rollstuhl so nah an die Kante des Grabes, dass die Fußrasten über den Abgrund ragten. Ein leichter Druck am Steuerhebel würde ausreichen, um sie zu Can in die Grube zu stürzen. Nie hätte sie gedacht, dass er vor ihr dort landen würde. »Das unlösbare Rätsel des Todes«, hörte sie den Grabredner sagen, »entbindet uns von der Notwendigkeit, verstehen zu müssen. Lassen wir uns in dieser Stunde vom Unsagbaren berühren. Folgen wir den leisen Stimmen in unserem Inneren.« Leise Stimmen am Arsch. Ein Geschrei in ihr, ein Klirren und Scheppern wie bei einer Massenkarambolage. Und das Herz so schwer, als wollte es sie samt Rollstuhl hinabziehen in das ausgehobene Rechteck zu ihren Füßen. Kein Loskommen von dem Kerl, der dort unten lag. Nicht durch Scheidung. Nicht einmal im Tod. Eine Schneeflocke schwankte vor ihren Augen im böigen Wind. Ein Raumschiff, das von seinem Heimatort jenseits der Wolken aufgebrochen war, die Erde zu erobern. Und jetzt diese Turbulenzen. Aus einem Looping heraus geriet die Flocke ins Trudeln, sank scheinbar unaufhaltsam der Grube entgegen, um im letzten Moment in einer rasanten Pirouette wieder aufzusteigen. Nicht rechtzeitig, um ihr einen Blick auf das Durcheinander der Stängel und Blumenköpfe zu ersparen, die auf dem schwarzglänzenden Sargdeckel lagen wie Treibgut. Ein Bild, das sich eingravierte in ihre Netzhaut, mit Tränen nicht wegzuwaschen. Rote Rosen, Nelken, Gerbera. Sie hatte ihre Schneeflocke aus den Augen verloren, doch da waren noch andere. Sie hielt Ausschau nach der größten, folgte ihrem unsteten Flug, der sie auf ein schmiedeeisernes Grabkreuz zutrieb, und übernahm die Navigation. Reiß das Steuer herum, Baby, links, mehr nach links! »Mein Beileid.« Eine Hand schob sich in ihr Blickfeld und Olga zoomte vom Weltraum auf den Nahbereich, legte den Kopf in den Nacken, sah Mehmets Lippen zittern, als er sich zu ihr neigte. Sie zog ihre steife Rechte aus dem Pelzmuff, befahl ihr, sich zu heben und von seiner Hand umschließen zu lassen. Jetzt voller Sympathie zudrücken können. Doch die Zeiten, in denen ihre Gliedmaßen all ihren Kommandos gehorcht hatten, waren vorbei. Immerhin, eine kleine Kontraktion meinte sie zustande zu bringen und nur deshalb auch ein Lächeln. Von wegen Händedruck wie ein toter Fisch. »Hast du schon seiner Familie …?«, fragte sie. Mehmet schüttelte den Kopf. »Sie sprechen nicht mit mir.« Ihr Blick folgte seinem zur anderen Seite des Grabes. Hinter dem Erdaushub hatte sich Cans Familie verschanzt, seine Schwester Merve an vorderster Front. Mit steinerner Miene nahm sie Beileidsbekundungen entgegen, während die Eltern zwei Schritte abseits standen, gestützt von Merves Sohn Semih, ihrer Tochter Sibel und deren Mann, extra angereist aus Würzburg. »Warum sprechen sie nicht mit dir?«, fragte Olga. »Du warst wie ein Bruder für ihn.« »Du weißt, wie Merve ist.« Mehmet verdrehte die Augen. »Allerdings. Aber ich dachte, sie wäre nur zu mir so. Du bist Türke. Und außerdem nicht seine Ex.« Sie zog den linken Mundwinkel hoch, mehr lächeln ging gerade nicht. »Hat sie dir gar nichts erzählt?« »Was meinst du?« »Glaubst du etwa den Scheiß, dass Can einfach so gestorben ist? Allergischer Schock, dass ich nicht lache! Da ist doch was faul, Mehmet.« Wie er ihrem Blick auswich und von einem Bein aufs andere trat, als wollte er abhauen. Der wusste was. Oder er hielt sie für irre. »Begleite mich auf einen Kaffee, Mehmet. Oder besser einen doppelten Wodka.« »Tut mir leid, ich muss ins Geschäft.« »Hast du mitgekriegt, ob die Polizei an der Sache dran ist?« »Die Polizei? Ich weiß echt nicht, wovon du redest. Er ist tot. Es ist zu spät. Und ich halte es jetzt auch nicht länger hier aus. Mach’s gut, Olga.« Er hob die Hand, ging zwei Schritte rückwärts, kam dann wieder, beugte sich herunter, um sie zu umarmen. »Er fehlt mir so!« »Mir auch, Mehmet, mir auch. Ruf mich an, okay? Lass uns überlegen, ob sein Tod irgendwas mit seinen Nachforschungen …« Mehmet hastete davon. Olga sah ihm nach, während die nächste Hand die ihre drückte, ein Journalistenkollege von Can, dann sein Chefredakteur. Wie viele Leute er gekannt hatte. Wie viele ihn vermissten. Wenn sie der Familie noch kondolieren wollte, war jetzt der Moment, denn allmählich löste die Trauergesellschaft sich auf. Olga setzte den Rollstuhl zurück. Der Grip der Räder ließ zu wünschen übrig. Eine durchscheinende Schneeschicht bedeckte den gefrorenen Grund. Sie umkurvte die Grube, lenkte an den letzten drei Trauergästen vorbei und drängte den vordersten beiseite. Knapp vor Merves Fußspitzen kam sie zum Stehen. Sie hievte ihre Hand bis auf Schulterhöhe. Ihre Ex-Schwägerin griff nicht danach. »Was willst du, Olga?« »Euch mein Beileid aussprechen. Immerhin haben wir einen gemeinsamen Verlust zu beklagen.« »Danke«, zwängte Merve zwischen geschlossenen Zahnreihen hervor. »Und wo wir uns schon so nett unterhalten, frage ich gleich, ob ihr etwas Neues wisst. Es gibt doch Ermittlungen? Can war an brisanten Themen dran und hat in seinem Leben mehr als eine Drohung erhalten.« Merve erbleichte, lief gleich darauf rot an. Der makellos festgesteckte Hijab bildete einen wunderbaren Rahmen für das Schauspiel, fand Olga. Sie lächelte. »Was bildest du dir eigentlich ein, du …«, Schlampe fügte die Ex-Schwägerin lautlos, aber mit überdeutlichen Mundbewegungen hinzu. »Musst du ihn selbst jetzt noch in den Dreck ziehen? Reicht es nicht, dass …« »Merve!« Ihr Vater griff von hinten nach ihrem Arm und trat neben sie. »Du bist unhöflich.« Seine Augen waren gerötet, seine Stimme rauer als sonst. »Wir danken dir für deinen Besuch, Olga. Dieser Tag der Trauer ist nicht der Moment für Feindseligkeiten.« »Ich bin nicht gekommen, um zu streiten, Cem. Ich will nur, dass Cans Tod aufgeklärt wird. Wer auch immer dafür verantwortlich ist, muss bestraft werden. Das wollt ihr doch auch. Aber wir können ein anderes Mal darüber sprechen.« »Das werden wir nicht tun«, sagte Cans Vater. »Der Schmerz verwirrt dich, Olga. Ich kann das verstehen. Aber Menschen sterben. Einfach so. Allah hat meinen Sohn gerufen. Wer sind wir, seine Entscheidung zu kritisieren?« »Allahu akbar!«, flüsterte Merve. Hinter ihr sandte Sibel Olga eine bedauernde Grimasse. Cans Mutter hielt ihren Arm umklammert und schluchzte an ihrer Schulter. Ihr weißer Haaransatz, das fleckige Gesicht, die Blässe der ungeschminkten Lippen: Der ungewohnte Anblick rührte Olga und hielt sie davon ab auszuspucken, was ihr auf der Zunge lag: dass Can nichts hielt von Allah und seinem Ruf niemals freiwillig gefolgt wäre. Cem hatte recht, es war nicht der Moment für Provokationen. »Münire!«, rief sie der Mutter zu. »Es tut mir so leid! Darf ich dich nächste Woche besuchen kommen?« »Genug!«, entschied Cans Vater. »Wir achten deinen Schmerz, Olga, aber du bist kein Mitglied dieser Familie.« Seine geschwollenen Lider senkten sich, drückten Tränen aus den Augenwinkeln. Er wandte sich ab. Olga schluckte. Wenn nicht einmal seine Familie ihre Bedenken teilte, war sie vielleicht wirklich verrückt vor Trauer. Oder es gab Druck aus der Community, deren Gesetzmäßigkeiten sie nie völlig durchschaut hatte. Sie steuerte zurück auf den Weg und an das Fußende des Erdlochs, wandte den Kopf in die Richtung, in die ihr Assistent verschwunden war, kaum dass er sie am Grab abgeliefert hatte. Keine Spur von ihm. Hipsterhascherl. Vermutlich zu blöd, um den Rückweg zu finden. Anstelle des Assistenten geriet der Mann im dunklen Mantel in ihr Blickfeld, der wie ein Wächter am Kopfende des Grabes stand. Ein angenehmerer Anblick als der Granitblock, der bald an seiner Stelle aufragen würde. Der Grabredner. Wozu der noch dastand. Festgefroren. Nur seine Augäpfel bewegten sich, flackerten hin und her, kreisten, hoben und senkten sich wieder. Kein Zweifel, auch er war Steuermann oder gar Captain eines der Schneeflockenschiffe, die inzwischen im Geschwader zur Eroberung des Planeten anflogen, der Boden fingerdick mit ihresgleichen bedeckt. Ihre Blicke kreuzten sich und der Sternenfahrer blinzelte. Auf der monatelangen Reise durch die Galaxien hatte er, der Captain, zwar ihre kaltblütige Zuverlässigkeit stets geschätzt, sie jedoch noch nie wirklich angesehen. Bis zu diesem Moment. Was sah er, während sie den ihr anvertrauten Raumkreuzer umsichtig durch die Luftwirbel und zwischen den immer zahlreicher werdenden Schwesterschiffen hindurchdirigierte? Höchste Zeit zu verschwinden, bevor der Rollstuhl ohne Hilfe des Assistenten auf dem glitschigen Untergrund manövrierunfähig wurde. Ein halber Kilometer war es mindestens bis zum Tor, und wenn es so weiterschneite … Ihre Hand allerdings wollte nicht, lag bläulich und kältesteif auf ihrem Schoß. Olga half ihr mit der Linken in den Muff und hielt erneut nach dem Assistenten Ausschau. Wenn nur die Batterie hielt bei der Kälte. »Darf ich Sie begleiten?« Eiskristalle bissen ihr ins Gesicht, als sie den Kopf hob, außerirdische Flugobjekte attackierten ihre Augen, abzuwehren nur durch heftiges Blinzeln. Ein Blinzeln, das der Captain offenbar als Zustimmung deutete. Er setzte sich eine Wollmütze auf, schwarz wie der Rest seiner Kleidung, und deutete mit einer Geste an, dass er ihr den Vortritt lasse. Schneeflocken landeten in seinem kurzen...