Lessing | Einmal und nie wieder | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 864 Seiten

Lessing Einmal und nie wieder

Lebenserinnerungen
1. Auflage 2017
ISBN: 978-80-273-0120-1
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Lebenserinnerungen

E-Book, Deutsch, 864 Seiten

ISBN: 978-80-273-0120-1
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dieses eBook: 'Einmal und nie wieder' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: 'Als meine Urgroßeltern den Namen Ahrweiler annahmen, da wohnten sie bereits im benachbarten Koblenz; dort betrieben sie um 1800 eine Metzgerei, welche nachweislich durch drei Generationen in der selben Familie blieb. Das Handwerk des Schlächters, des rituellen Schlächters, konnte in den alten Gemeinden nur von strenggläubigen Männern ausgeübt werden. Daher ist wohl anzunehmen, daß diese Vorfahren fromme Leute gewesen sind, obwohl schon mein Großvater, welcher reich geworden als Bankherr in Düsseldorf lebte, nicht mehr der jüdischen Gemeinde angehörte.' Theodor Lessing (1872-1933) war ein deutscher Philosoph und politischer Publizist.

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Erstes Buch
Vorwelt
Inhaltsverzeichnis

»Und mein Teil ist mehr
Als dieses Lebens schlanke Flamme.« 1. Hannover
Inhaltsverzeichnis

»Meine Heimat ist ein düster wolkenverhangenes Land.
Dort blüht die Heide, die Birke weht an der Felder nebligem Rand.
Zäh ist die Birke, im steinigten Fels sie noch Wurzel faßt,
Aber sie trägt das lieblichste Laub und im Frühling den zartesten Bast.« Zu der Zeit, wo wir als Knaben in ihren Gassen spielten, war die Stadt Hannover eine der freundlichsten Residenzen im deutschen Staatenbunde. Die Stadt, zwischen Wäldern am Flusse Leine, einem Nebenflusse der Aller gelegen, hatte um 1880 etwa achtzigtausend Einwohner, deren Mehrzahl immer noch halb bäurisch lebte. Sie wohnten in Wiesen und Gärten auf einer weiten Feldmark, und die mit dem Kopfe arbeiteten, die Bürger und besonders die sogenannten hübschen Familien bezeichneten die Ackerbauern als »unsre Gartenkosaken« oder wie man gerne sagte als die »Pisen«. Die Dörfer der Umgebung wie Hainholz, Limmer (wo der grobe Jakobus Sackmann predigte), Vahrenwald, Döhren, Riklingen, List, heute kohlenstaubumwehte, von mühereichen Arbeitsmenschen übervölkerte Industrieviertel, waren damals noch einsam verträumte Waldflecken. Die Altstadt aber, am »Hohen Ufer« der Leine, wonach angeblich die Stadt ihren plattdeutschen Namen Hohenowere erhalten haben soll, schlief, von den alten Wällen umschirmt, mit vielen Türmen hinter vielen Toren. Die wichtigsten dieser alten Tore waren das Leintor, das Steintor und das Tor des heiligen Aegidius, welcher Heilige in der katholischen Zeit vor der Einführung der Reformation (1533) Schutzpatron war für alle norddeutschen Städte. In Gefahren und Nöten beteten die Bürger zum Stadtheiligen: »O Aegidi, Aegidi«, woran noch heute erinnert ein nur den Hannoveranern eigentümlicher Ausruf beim Anblick feindlicher Dinge: »Gitte gitte«. Wahrzeichen und Mittelpunkt der Stadt war der Turm der um 1350 vollendeten Marktkirche, aufragend mit breitem Giebelreiter neben dem aus hellen Klinkern und glasierten Ziegeln gebauten backsteingotischen Rathaus. Um die Stadt im weiten Bogen grünte der dichte Ring von Busch und Wald, genannt die Eilenriede, ursprünglich wohl das Ellern-Ried. Noch heute sind das an dreitausend Morgen Eichen-und Buchen-Bestand. Von drei Seiten wuchs der Wald bis in die Gassen der Stadt und ließ nur an der vierten Seite, nach Süden zu, eine Ebene offen, die sogenannte Masch, ein wasserreiches Wiesen-Flachland, in welchem drei Wasserläufe, von den Harzbergen kommend, genannt Leine, Ihme und Ohe, sich begegnen und an deren blauen Randsäumen Waldhänge und baumreiche Hügel sichtbar werden, genannt der Deister, wohl von Dixter, das heißt Dichtwald. Die Stammesherzöge der Niedersachsen pflegten von diesem fruchtbaren Gelände zu sagen: »Das Land zwischen Deister und Leine, das ist’s was ich liebe und meine«. Andrerseits aber ging auch das Sprichwort: »Je näger de Deister, um so gröter de Beister«. Die entferntere Umgebung der Stadt nach Berlin, Köln, Bremen und Hamburg hin, ist keineswegs so anmutig-lieblich wie das waldige Leinetal. Die Landschaft gleitet über in eine ruhige Tiefebene, eine blaurote sandige Heide, welche sich bis zur Küste der Nordsee hinabzieht. Die schwermütigste Landschaft in Deutschland. In meiner Jugend wurde das Gebiet zwischen Braunschweig, Celle und Lüneburg vielfach ausgeödet und vernutzt durch Hüttenwerke, Kalischächte und Industrieanlagen. Aber wenige Orte dürften so rasch eine ähnlich schlimme Wandlung erfahren haben, wie ich sie in fünfzig Jahren an meiner Heimatstadt beobachten konnte. In meiner Kindheit war sie eine sauberfeine, wenn auch nüchterne Kleinstadt voll bürgerlicher Tüchtigkeit. In meinem Alter: eine lärmerfüllte, von geschäftigen Ameisen wimmelnde Anhäufung profaner Häuser voller Händlertum, Beamtengeist und erfüllt mit der Notdurft harter Arbeit, unjung und die fahlste unsrer Städte. In der Kindheit meines Vaters dürfte das grüne Nest der Welfen ausgesehen haben so, wie es von Karl Philipp Moritz in seinem Jugendroman »Anton Reiser« geschildert worden ist, ein Städtchen im Busch, mit mancherlei Getier wie Marder, Biber, Luchs und Fuchs und durchsungen von vielen heute ausgestorbenen Vogelarten. Zählte doch der Vogelkenner Paul Leverkühn schon im Jahre 1880 im Bezirk des Arnswaldtschen Gartens, einem Quartier, in welchem heute nur Sperlinge zirpen, zwanzig Singvogelarten, die während unsrer Jugend verschwanden. Noch zeigen kleine Nachbarstädte: Hameln, Goslar, Göttingen, Hildesheim, Bückeburg jenes gute altertümliche Antlitz. Aber das Wilhelminische Zeitalter verwischte das altväterische Gesicht mit der seelenarmen Gleichförmigkeit der Industrie. Die Bauart, der Lebensstil und sogar die Gesichtszüge der Menschen wurden gleichartig, und die Steine, welche alte Landesgeschichte erzählen, sind allmählich zerbröckelt. In meine Frühzeit ragte die Überlieferung der welfischen Geschichte. Unter den Bewohnern, die einander kannten, bestand eine Stammesgemeinschaft und fand ihre Symbolik in den Schicksalen des welfischen Herrscherhauses. Und da die Könige von Hannover auch Könige von England waren, so liefen manche Fäden hinüber nach Großbritannien, zumal zur Weltstadt London. »Dem Reisenden« – (so steht es geschrieben in den »Briefen eines in Deutschland reisenden Deutschen«) – »erschien um 1800 die Stadt Hannover fast wie eine britische Kolonie«, denn auf den Schulen waren viele Engländer, weil die Märe ging, daß man in Hannover das reinste und beste Deutsch spräche, und manche Stadtteile, besonders die neuere Calenberger Vorstadt, in welcher die drei bedeutendsten Schriftsteller Leisewitz, Detmold und Feder wohnten, erinnerten an Altlondon, an das Reich Georg des Ersten, Zweiten und Dritten. Herrenhausen, die Sommerresidenz dieser drei Könige, war auch die Residenz meiner Kindheitsträume. Nahe dem nach dem Muster von Versailles im Stile Le Nôtres angelegten Heckengarten, einem barocken Park voller Wasserkünste, steifer Taxuswände und Berninischer Statuen, zwischen denen Leibnitz den Hofherren in Allongeperücken und den Hofdamen in Reifröcken Vorträge gehalten hat über die »Vortrefflichkeit der Welt«, nahe diesem höfischen Garten stand ein behäbiges Bauernhaus, daran meine ersten Erinnerungen geknüpft sind. Die immer herabgelassenen, geheimnisvoll blauen Rolläden des Schlosses, der Marstall mit den berühmten apfelfarbenen Isabellen, der vergoldete Prunkwagen, das Mausoleum des Königs Ernst August, neben dem ein Bienenstand sich befand, an welchem vorbeizugehen mir verboten war, die Azaleen und Rhododendren im »Paradiese« des Berggartens, das alles hat in die ersten Träume meiner Kindheit eingewirkt. Es gab noch manche Spuren der alten Kultur, gegen welche die späteren Häufungen von Bauten, Tafelbildern und Denkmalen in der Zeit nach 1870, unter der Herrschaft Preußens, nur leer anmuten. Da hingen an vergessenen Stätten einzelne Gemälde von Lawrence, Gainsborough, vom jüngeren Holbein. Da gab es auf verwilderten Friedhöfen wunderschöne Merkwürdigkeiten. Das Grab Alis, des riesigen Türken und das der »vornehmen Dame, die an zu enger Schnürbrust verstarb«, sowie das berühmte Grab auf dem Gartenkirchhofe, das durch ein Birkenbäumchen geöffnete Grab, an dessen schwerem vom Baum emporgehobenen Steine die Inschrift stand: »Dieses auf ewig gekaufte Grab darf nie geöffnet werden«. Dicht daneben das Grab der Lotte Kaestner, »Goethes Lotte«. Dann auf dem Nikolaikirchhofe neben der Kreuzkirche, im Dorfe Wilkenburg und sonst noch mancherorts Epitaphe von Jeremias Sütel und Peter Köster. Damals war noch die ganze Altstadt an der Leine, Kleinvenedig genannt, ein blumen-und epheuumranktes Mittelalter, gleich Hildesheim und Braunschweig. Und mit den Blumen rankte Legende an den Steinen empor. Ich wußte, ich weiß noch heute, wer vor hundert Jahren in diesen Häusern gelebt hat; ich fühlte mich einverwoben in mein Volk. Aber als ich nun heranwuchs und begann, über mich und meine Umwelt zu denken, da begann auch der schmerzhafte Vorgang des Entfremdens, und ich erkannte schon in jungen Jahren, daß viele frische Quellen des Geistes und des Gemütes gleich der meinen in Land und Stadt Hannover aufgesprudelt waren, ohne daß der schwere breite Menschenschlag je den Wunsch gehabt hätte, aus all den herrlichen Quellen zu trinken. Und so erschien dem Heranreifenden die Heimat wie eine fest geschlossene, ja feindlich geballte Faust, welche sich niemals öffnen würde, weder um mütterlich zu schenken noch auch nur, um von ihrem gebewilligsten Sohne eine Gabe zu nehmen. Viele gleich mir hatten hier geatmet, Künstler, Denker und Gelehrte, – ich ging sehnsüchtig ihren Spuren nach –, aber immer lebten sie in Hannover ungekannt oder zufällig. Es war nicht recht begreiflich, warum sie gerade in dieser Landschaft wurzeln mußten, warum sie nicht allenfalls auch eine andere schöne Stadt Deutschlands sich zum Wirkungskreis hätten auswählen können. Das breite Volk ließ sich seine Denker und Dichter eben nur gefallen, so wie die wechselnden Regierungsbeamten oder wie die anbefohlenen Garnison-Kommandeure. Hier war gut hausen für alte verdiente Generale: Scharnhorst, Caprivi, Waldersee, Hindenburg oder für die politischen Größen: Justus Möser, Stüve, Windthorst, Bennigsen, Miquel und Karl Peters. Aber die Singvögel blieben einen Sommer lang, dann entflohn sie vor den herben Schlehen. Die stumpfe Gleichgültigkeit der...



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