E-Book, Deutsch, 366 Seiten
Lewis Sag mir, wer ich bin
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7517-0451-9
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Manchmal ist es besser, nicht die ganze Wahrheit zu kennen. Das Buch zur Netflix-Doku
E-Book, Deutsch, 366 Seiten
ISBN: 978-3-7517-0451-9
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Alex ist 18 Jahre, als er durch einen schweren Unfall sein Gedächtnis verliert. Seine Mutter, seine Freunde, ja selbst die kleinsten Details seines Lebens - alles ist wie ausgelöscht. Nur seinen Zwillingsbruder Marcus erkennt er, als er im Krankenhaus erwacht. Mithilfe seines Bruders schafft Alex es, Schritt für Schritt seine Vergangenheit zu rekonstruieren. Doch ein dunkles Geheimnis belastet die Familie seit Jahrzehnten und droht nun auch die Freundschaft zwischen den beiden Zwillingen zu zerstören. Wer bin ich wirklich, will Alex endlich wissen ...
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5.
Leute wie wir Für Alex war die Zeit gewissermaßen elastisch. Einige Wochen später – oder waren es Monate? – kehrte er ins Duke’s Cottage zurück. Jetzt konnte er besser auf sich selbst aufpassen und begann, seine Welt zu erfassen. »Mummy« befand sich im Zentrum dieser Welt. Die fünfzigjährige Jill war eine auffällige Frau, einen Meter achtzig groß und mit langem dunklen Haar, das langsam ergraute. Sie gab sich dramatisch, stand immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, hatte einen großen Freundeskreis und die Gabe, jede Zusammenkunft in eine spontane Party zu verwandeln. Wenn Leute sich an sie erinnern, fällt immer wieder der Begriff »unterhaltsam«. Jill Dudley war unterhaltsam. Laut und überbordend und einfach unmöglich. Sie schien überhaupt keine Hemmungen zu haben und sprach häufig und laut über ihr Lieblingsthema: Sex. Ganz selbstverständlich ging sie davon aus, dass alle anderen ihre Besessenheit teilten. Die Freunde ihrer Kinder, besonders die jungen Männer, fanden das ganz großartig. So einfach und unkompliziert und unbürgerlich. Manchmal war den Zwillingen das peinlich, vor allem, wenn ihre Mutter zu viel getrunken hatte und anfing, von ihren »kleinen Pimmeln« zu reden. Doch Jill konnte nichts aufhalten. Es war am einfachsten, man lachte mit. Außerdem kannte Jill sich mit dem Leben in der High Society aus. Sie war im Jahr 1949 in diese eingeführt worden und unglaublich stolz darauf, mit Clement Attlee verwandt zu sein, dem britischen Premierminister direkt nach dem Krieg. Sie sei seine Nichte, erzählte sie den Leuten immer gern. In Wirklichkeit war sie nur eine entfernte Cousine. Als überzeugte Konservative blendete sie die unangenehme Wahrheit aus, dass Attlee sein ganzes Leben lang Sozialist und eine Ikone der Labour Party gewesen war. Seine wesentliche Beteiligung am Entstehen des englischen Sozialstaates stellte ein unbequemes Detail dar, das sie nur zu gern überging. Ein berühmter Verwandter war trotzdem nützlich, und Jill hatte sich noch nie von langweiligen Tatsachen davon abhalten lassen, eine gute Geschichte zu erzählen. Ihre engste Freundin war inzwischen eine Komtess. Cynthia, die in der Regenbogenpresse zuweilen als »Big Cyn« bezeichnet wurde, hatte einige Vernunftehen hinter sich, bevor sie ihren derzeitigen Ehemann fand. Nach dem Tod seines Vaters sollten sie Graf und Gräfin werden. Jill und Cynthia organisierten zusammen Partys in Cynthias Londoner Apartment, wo Alex und Marcus schon als kleine Jungen Drinks und Kanapees hatten servieren müssen. In gewisser Hinsicht ein nützliches Training: Beide fanden sich in fast jeder gesellschaftlichen Situation gut zurecht, auch wenn Alex nach seinem Unfall eine ganze Weile brauchte, um in diese Sicherheit zurückzufinden. Ihre Mutter gab sich gern vornehm, und sie lebten in einem riesigen elisabethanischen Haus mit einem ebenso riesigen Garten. Gleichzeitig schien immer Geldmangel zu herrschen. Jill kaufte ihre sämtlichen Kleidungsstücke sowie die ihrer Kinder in Secondhandläden. Weil sie mit ihrer Schuhgröße von über vierundvierzig nie passende Schuhe für sich finden konnte, trug sie bei jedem Wetter Sandalen, aus denen Zehen und Fersen hervorragten. In ihrer Handtasche trug sie immer Bargeld mit sich herum, das sie brauchte, um Antiquitäten zu erwerben. Die Zwillinge erhielten nie auch nur ein Taschengeld, und das trotz der vielen Aufgaben, die sie im Haus erledigten. Jill war nicht die Sorte Mutter, die man jemals um etwas gebeten hätte. »Daddy« war eine nicht weniger dominante Persönlichkeit. Bei Alex’ Unfall war Jack Dudley Mitte siebzig. Direkt nach Alex’ Entlassung wirkte er distanziert. Er hatte als selbstständiger Buchhalter gearbeitet, und obwohl er sich offiziell im Ruhestand befand, betreute er noch immer zwei oder drei Klienten, in den meisten Fällen Verwandte. Er hatte im Erdgeschoss sein eigenes Arbeitszimmer, und daneben befand sich das Wohnzimmer, in dem Kinder nicht geduldet wurden. Ein separates Treppenhaus führte zu seinem Schlafzimmer, das über ein gemeinsames Bad mit dem seiner Frau verbunden war. Ihre Mahlzeiten nahmen die Eltern getrennt von den Kindern ein. Aus diesem Grund begegnete Alex seinem Vater in der ersten Zeit nicht oft. Als Kinder teilten sich die Zwillinge ein kleines Schlafzimmer im Erdgeschoss hinter der Küche, in dem es immer kalt war. Für die meiste Zeit ihres Teenageralters mussten sie in einen Schuppen umziehen, ihre Mutter nannte ihn hartnäckig »Anbau«, aber er hatte dünne Wände und war nicht heizbar, und es gab weder Strom noch fließend Wasser. Der Begriff »spartanisch« beschreibt das Ganze am besten. Was die Vornehmheit betrifft, stand Jack seiner Frau in nichts nach. Das ging sogar so weit, dass ihn seine engsten Freunde »Lord Dudley« nannten. Ganz offensichtlich genoss Jack das. Im Laufe der Wochen, als das Leben im Duke’s Cottage in seine gewohnten Bahnen zurückkehrte, entdeckte Alex eine weitere Facette der Persönlichkeit seines Vaters: Er war ein Tyrann. Als Alex aus dem Krankenhaus kam, hatte man Jack angewiesen, ihn nicht anzuschreien, weil es ihn so sehr verstörte, wenn jemand seine Stimme erhob. Doch Jack verfiel bald wieder in seine alten Gewohnheiten. All seine Kinder fürchteten seine Wutausbrüche, auch wenn er nie körperlich gewalttätig wurde. Das brauchte er gar nicht. Die Wut des Jack Dudley war auch so beängstigend genug. Und nicht nur seine Familie fürchtete ihn. Sogar seine Freunde wussten, dass er böse Scherze auf Kosten anderer machen konnte. Jill inszenierte die Angst vor ihrem Ehemann und schob ihm auf diese Weise die Verantwortung für alles Negative zu: So war es Jacks Schuld, dass die Zwillingsbrüder nie eigene Hausschlüssel besaßen. Ständig hieß es: »Mach bloß Daddy nicht wütend!« Irgendwann entdeckte Alex einen weiteren Aspekt seiner Familiengeschichte: Jack Dudley, den er und Marcus immer »Daddy« genannt hatten, war in Wirklichkeit überhaupt nicht ihr Vater, sondern ihr Stiefvater, und ihre Mutter seine vierte Ehefrau. Der leibliche Vater der Zwillingsbrüder, ein Mann namens John Lewis, war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als die Zwillinge drei Wochen alt gewesen waren. Es hieß, der tödliche Unfall habe sich ereignet, als John Alex aus dem Krankenhaus abholen wollte. Marcus, der damals unter irgendeiner Infektion litt, war nicht gesund genug für eine Entlassung gewesen und deshalb im sicheren Krankenhaus geblieben. Alex jedoch war aus dem Auto geschleudert worden. Über ihren leiblichen Vater, der eine Woche nach dem Unfall im Krankenhaus verstorben war, wussten die beiden Jungen fast nichts. Es gab nur ein einziges Foto, das einen freundlichen, sanftmütig wirkenden Mann zeigte, ganz anders als der aggressive Jack. Jill sprach nie über ihren leiblichen Vater. Und sie fragten auch nie nach ihm. Allmählich fand Alex heraus, dass es in seiner Familie genauso viele dunkle Winkel gab wie in dem weitläufigen alten Haus, in dem er aufgewachsen war. Es gab eine Großmutter, Jills Mutter, die in einem riesigen Haus am Rande von Newbury wohnte. Rosalind und Jill hatten ein sehr enges Verhältnis, obwohl die alte Dame eine kühle, exzentrische Frau war, die außer ihren Hunden keine wirkliche Leidenschaft im Leben hatte. Sie züchtete Chihuahuas, und ihr Haus war voll von kleinen, überspannten und lauten Hunden – manchmal waren es bis zu sechzig Tiere. Die zeigte sie auf Ausstellungen und betreute sie mit absoluter Hingabe, kleidete sie an wie Puppen und überschüttete sie mit Zuneigung. Während die meisten Hunde in einem bestimmten Teil des Hauses bleiben sollten, hatte sie immer ein paar besondere Lieblinge, die überallhin durften, sodass sich Chaos und Gestank im ganzen Haus verbreiteten. Der Onkel der Zwillinge stellte ein noch größeres Mysterium dar. William war drei Jahre älter als Jill, doch ein bitteres Zerwürfnis trennte die beiden. Jill und ihre Mutter hatten ihn vor Jahren aus der Familie verstoßen. Williams alljährlicher Versuch, an Jills Geburtstag mit seiner Schwester Kontakt aufzunehmen, überschattete diesen Tag. Manchmal erschien er im Duke’s Cottage, durfte das Haus jedoch nie betreten. Auch seine fünf Söhne hatte man verstoßen, und Marcus und Alex war der Kontakt zu ihnen untersagt. Einmal, als die Zwillinge Anfang zwanzig waren und zufällig gerade das Wochenende zu Hause verbrachten, erwähnte Jill ganz nebenbei, einer ihrer Cousins sei gerade an einem Hirntumor verstorben. »Was ist denn passiert? Wann ist die Beerdigung?« Jill weigerte sich, ihnen zu antworten. Die Anteilnahme der beiden erfüllte sie zuerst mit Überraschung, dann mit Wut. Und weil die Brüder keine Möglichkeit hatten, ihren Onkel oder die anderen Cousins zu kontaktieren, gab es nichts, was sie hätten tun können. Für diesen Hass wurde nie ein Grund genannt, auch wenn das Gerücht ging, William trage in irgendeiner Form die Verantwortung für den Tod ihres leiblichen Vaters. Aber wie konnte das sein? John Lewis war doch bei einem Autounfall ums Leben gekommen! William hatte sich nicht einmal in der Nähe aufgehalten. Wie konnte er also die Schuld tragen? Fragt einfach nicht danach. Marcus und Alex begriffen instinktiv, dass man keine Fragen stellen durfte. Und Marcus besaß ein Talent dafür, die Familiengeschichten amüsant wiederzugeben. Zum Beispiel erzählte er Alex von einem ganz bestimmten Tag, als sie etwa dreizehn Jahre alt gewesen waren. Es hatte an der Tür geklingelt, und er war hingegangen. Draußen stand eine junge Frau mit einem Mischlingskind im Arm und stellte sich mit den Worten »Hallo. Ich bin eure Schwester« vor. Der verblüffte Marcus hatte geglaubt, es wäre ein Scherz....