Liehr | Nachttankstelle & Geisterfahrer | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 714 Seiten

Liehr Nachttankstelle & Geisterfahrer


1. Auflage, Mehrfachband 2025
ISBN: 978-3-8412-3733-0
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 714 Seiten

ISBN: 978-3-8412-3733-0
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zwei humorvolle Romane in einem E-Book Bundle!

Nachttankstelle

Uwe Fiedler ist 38, chronisch migränekrank und ein netter Langweiler. Sein Leben ist eine einzige Übergangslösung, die Karriere stagniert auf niedrigstdenkbarem Niveau: Er schiebt Nachtschichten an einer Tankstelle. Weil es praktisch ist und sich so ergeben hat, lebt Uwe noch mit seiner Exfreundin zusammen. Die will das nicht mehr und zwingt Uwe überraschend, seine Komfortzone zu verlassen. Erschüttert und wohnungssuchend lernt er zwei Menschen kennen, die sein Leben noch gründlicher ändern: Jessy, die mysteriöse Tresenkraft einer Neuköllner Gardinenkneipe, und Matuschek, ein Hedonist sondergleichen. In Jessy verliebt Uwe sich, Matuschek wird sein Mentor - und leider auch ziemlich schnell sein Rivale.

Geisterfahrer -

Das Leben - zu kurz, um davor wegzulaufen... 

Als Ex-DJ Tim Köhrey endlich zu sich kommt, ist es fast zu spät - Berlin ist weit weg, die große Liebe längst vorbei, und seine Zukunftsaussichten sind trübe: Provinzleben, Reihenhaus, zerrüttete Ehe. Er kehrt zurück in die pulsierende Hauptstadt und sucht nach dem Glück seiner Jugend ...

Eine rasante Geschichte über verpasste Chancen, Liebe, Freundschaft, Musik und die goldenen Achtziger.



Tom Liehr war Redakteur, Rundfunkproduzent und DJ. Seit 1998 Besitzer eines Software-Unternehmens. Er lebt in Berlin.

Im Aufbau Taschenbuch sind seine Romane 'Radio Nights', 'Idiotentest', 'Stellungswechsel', 'Geisterfahrer', 'Pauschaltourist', 'Sommerhit', 'Leichtmatrosen' und 'Freitags bei Paolo' lieferbar.

Mehr zum Autor unter tomliehr.de.

Liehr Nachttankstelle & Geisterfahrer jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Zwei


Eine nicht therapierbare chronische Erkrankung ist wie ein Charaktermerkmal: Sie ist da und bleibt es auch, Punkt. Menschen, die daran leiden, können sich davon keine Auszeit nehmen, sie haben kein normales Zweitleben ohne Erkrankung, sondern nur dieses eine mit. Ihr Schicksal ist untrennbar mit der Krankheit verbunden, was man manchmal vergisst oder verdrängt, wenn man es mit solchen Menschen zu tun hat, sie sieht oder erlebt, dabei geht es den Betroffenen genau umgekehrt: Sie haben vergessen, wie es wirklich ist, ohne Krankheit zu sein. Dieser Zustand der Krankheitsfreiheit entwickelt sich allmählich zu einem diffusen Traum, zu einer Lebensbeschreibung, die nichts mehr mit der Realität zu tun hat. Es ist unmöglich, die Krankheit abzustreifen, und sei es auch nur für ein paar Minuten. Man kann sich lediglich daran gewöhnen – und versuchen, seine Erfüllung abseits davon zu finden. Wer sehr viel Glück hat, leidet, wie ich, nur an einer unregelmäßig ihre Symptome zeigenden chronischen Erkrankung, wodurch ich zwar leidensfreie Zeiten kannte, in diesen aber häufig Panik vor Krankheitsattacken hatte, die jederzeit auftreten konnten.

Ich hatte eine chronische Migräne, die vermutlich genetisch bedingt war. Ha, nur eine Migräne!, höre ich da schon die Spötter rufen, aber das Scheißwort für diese Scheißkrankheit ist nicht umsonst so scheiße, als hätte sich irgendein Grieche in der Vorzeit den Namen für eine besonders doofe und nutzlose Göttin ausgedacht: Migräne, die unansehnliche, außereheliche Halbtochter der Mnemosyne, Göttin der Defäkation und des Stuhlbluts, gezeugt bei der Kopulation mit einer dumpfgrauen männlichen Teichunke.

Ich hasste sie.

Gut, sie war keine tödliche Bedrohung, und meistens war ich frei von Symptomen.

Aber ich hasste sie trotzdem.

Meine Migräneanfälle kündigten sich ungefähr eine Stunde vor ihrer Klimax dadurch an, dass sich mein Sichtfeld von außen nach innen langsam verengte und die Farbwahrnehmung plötzlich nicht mehr stimmte – aus Gelb wurde ein helles Grün, Blautöne begannen, ins Lilafarbene zu tendieren, woraus kurz vor dem eigentlichen Anfall fast reine Schwarzweißsicht wurde, durchzogen von wabernden, konzentrischen Kreisen, als würde ich auf eine reflektierende Wasseroberfläche blicken, in die gerade ein Stein geworfen worden war. Zeitgleich schien alles um mich herum lauter zu werden, was vor allem höhere Tonlagen anbetraf. Nach dieser Ouvertüre setzte ein drückender Kopfschmerz ein, halbseitig – immer nur links –?, der schnell stärker wurde und auch noch beim tausendsten Mal den Wunsch auslöste, mir selbst den Schädel aufzusägen und die linke Gehirnhälfte herauszureißen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es schlimmeren Schmerz geben könnte. Aber Schmerz ist ja ohnehin nur subjektive Signalinterpretation, wie mein Arzt zu erklären pflegte, also erstens nicht vergleichbar. Zweitens blieb ein Rätsel. Mein Neurologe – ich mochte diese Wendung, »mein Neurologe« – sagte gerne »erstens« und nie »zweitens«. Dr. Peter war ein herziger schwuler Mittsechziger, der unaufhörlich Mentholpastillen lutschte, um gegen seinen Mundgeruch anzukämpfen, und der während längerer Untersuchungen von seinem Lieblingsthema schwätzte, nämlich Campingurlaub. Dr. Peter besaß ein riesiges Wohnmobil, mit dem er, seine beiden Labradorrüden, ein Kater namens Apate und ein Hundert-Liter-Süßwasseraquarium schon ganz Europa, das nördliche Afrika und halb Asien bereist hatten. Dr. Peter kannte beinahe jeden Campingplatz westlich des Urals. Ich beneidete ihn ein wenig darum, sich auf zwei Gebieten – Neurologie und Campingurlaub – so gut auszukennen, denn ich konnte nicht einmal auf ein Fachgebiet verweisen.

In der Stunde vor dem eigentlichen Anfall, manchmal etwas mehr, oft etwas weniger, hatte ich Zeit, mir ein paar Ibus oder Thomapyrins oder beides einzuwerfen und schnellstmöglich nach Hause zu eilen, wo mir nichts blieb, als den Schub in einem dunklen, ruhigen Raum in leiser Qual abzuwarten. War ich irgendwo unterwegs, ging es darum, rasch ein Taxi aufzutreiben, denn ein Auto konnte ich dann nicht mehr steuern, geschweige denn, mich dem Dschungel des öffentlichen Nahverkehrs aussetzen, um anschließend Hotel- oder Schlafzimmer abzudunkeln, alle Kommunikationsendgeräte abzuschalten, noch etwas Aspirin zu nehmen und still zu leiden, für einen Zeitraum, dessen Länge ich immer erst danach erfuhr, denn während der Anfälle fehlte mir jedes Zeitgefühl. Dr. Peter hatte mir hin und wieder härtere Präparate verschrieben, darunter auch Betablocker, aber deren Nebenwirkungen verängstigten mich. Aussicht auf Heilung gab es nicht. Immerhin, behauptete Dr. Peter unermüdlich, könnte erstens völlig unvorhersehbar Besserung eintreten. Solche Fälle seien ausgiebig dokumentiert. Ich hoffte darauf, auch Eingang in solch ein Dokument zu finden. Die Vorstellung, keine chronische Migräne mehr zu haben, schien mir paradiesischer als jede andere.

Etwas hatte sich immerhin gebessert, seit ich bei Dr. Peter in Behandlung war. Ich wusste nicht nur sehr viel mehr über Zeltplätze, Fäkalientanks, Anhängerlasten, Gaskocher und solche Dinge, die ich sicherlich irgendwann nutzbringend verwenden könnte, obwohl mich diese Form der Freizeitgestaltung kaum reizte – er hatte mich auch im Hinblick auf die Erkrankung mit wertvollen Tipps ausgestattet. Sein wichtigster hatte gelautet: »Erstens. Meiden Sie Stress.«

Mein Leben war zu diesem Zeitpunkt nicht sehr stresslastig, von der Arbeit abgesehen. Vor der Tankstelle, also in der Zeit von Dr. Peters Tippgabe, hatte ich in einem Callcenter gearbeitet, als vermeintlicher Hotlinemitarbeiter von insgesamt vier Softwarefirmen, die Finanzbuchhaltungsprogramme und ähnliches Zeug herstellten, sich aber keinen eigenen Kundenservice leisten konnten oder wollten. Als Mitglied der Farbengruppe meldete ich mich abwechselnd – je nach Ziel des Anrufers – mit den Namen Schwarze, Rote, Blaue oder Grüning. Es gab außerdem noch die Handwerkergruppe (Schreiner, Tischler, Schrauber, Bauer), die Monarchengruppe (König, Kaiser, Prinz, Herzog), die Gartengruppe (Baume, Blume, Strauch, Erdmann), eine Tiergruppe (Adler, Löwe, Bär und Rehberg) und wunderbarerweise die Musikergruppe (Trommler, Sänger, Flöter und – leider – Geiger, aber nicht Fiedler), zu der ich eigentlich gehört hätte, aber es gefiel mir, meinen richtigen Namen nicht verwenden zu müssen. Meistens meldete ich mich mit »Schwarze«, denn die Programme des fraglichen Herstellers waren offenbar äußerst fehleranfällig und schwer zu bedienen. Gesehen hatte ich sie nie. Unsere ersten beiden Fragen hatten standardmäßig zu lauten: »Haben Sie in die Dokumentation geschaut?«, und »Läuft bei Ihnen die aktuellste Version der Software?«. Verneinte der Anrufer eine dieser beiden Fragen, was häufig geschah, zumal der Anbieter, für den Herr Schwarze scheinbar arbeitete, praktisch im Tagesrhythmus Updates veröffentlichte, wurde er gebeten, eben ins Handbuch zu schauen oder die Software zu aktualisieren. In allen anderen Fällen bekam er eine sogenannte »Ticketnummer«, unter der sich angeblich bald ein Techniker melden würde. Das geschah aber frühestens nach dem dritten Anruf. Dass es bei den vorigen Malen nicht klappte, hatten wir im Telefonat Computerfehlern zuzuschreiben.

Unsere Gesprächspartner waren oft sehr ungehalten und beschimpften uns regelmäßig. Einige schienen es sogar für die Hauptaufgabe der Hotline zu halten, sich Beschimpfungen anzuhören, übrigens nicht selten sehr persönlicher Art. Man mutmaßte am Telefon über meine allgemeine, technische oder mentale Kompetenz, über mein Aussehen oder mein soziales Umfeld, unterstellte mir beispielsweise Fettleibigkeit oder Obdachlosigkeit. Es war mir verboten, darauf zu reagieren, stattdessen hatte ich stoisch nach schriftlicher Anweisung zu handeln, zudem schleppte ich wohl Altlasten mit mir herum, von denen ich nichts wusste, denn ich war in der Chronologie des Callcenters bereits der siebte Schwarze. Vermutlich war es dieser Punkt, der mich stresste, denn im Callcenter begannen oft Migräneanfälle, ungefähr zwei pro Monat.

Die Arbeit in der Tankstelle, die ich nach Dr. Peters Tipp annahm, war zwar schlechter bezahlt, aber abgesehen von Jugendlichen, die das Jugendschutzgesetz auszuhebeln versuchten, ein paar Dieben und den üblichen Alkoholikern war sie durchaus friedlich, vor allem nachts, wenn ich die Tür zum Shop absperren und mit den Kunden über eine Gegensprechanlage kommunizieren konnte, woraufhin ich ihnen dann ihre Bifis, Zigarettenschachteln, Wodkaflaschen und das Wechselgeld über ein Schubladensystem zukommen ließ. Wenn kein Kunde kam, las ich in den Magazinen, deren Vielfältigkeit mich verblüffte. Allein zum Thema »Camping« gab es ein gutes Dutzend, die ich ausgiebig studierte, um mit Dr. Peter, während er wieder einmal meine Gehirnströme maß, fachsimpeln zu können. Außerdem las ich viel über Aquaristik. In Dr. Peters mobilem Süßwasseraquarium schwammen zwar nur gebärfreudige Guppys und ein paar Neons, aber er hörte nach meinem Gefühl gerne zu, wenn ich ihn über Neuerungen bei der Filtertechnik und per Smartphone fernsteuerbare Temperaturregler informierte. Im Gegenzug schlug er mir vor, auch ein Aquarium zu kaufen, da das eine nachweisbar beruhigende Wirkung hätte. Diesem Tipp folgte ich allerdings nicht, denn Ulrikes Eltern besaßen ebenfalls ein großes Süßwasseraquarium, dessen unangenehmer Fäulnisgeruch alle anderen Aromen im Haus überdeckte. Einige Male hatte ich mich, während wir Riekes Eltern besuchten, minutenlang vor das Aquarium...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.