Limmer | Und die Reste ins Meer | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 262 Seiten

Reihe: Edition Periplaneta

Limmer Und die Reste ins Meer

Ein Roadmovie aus der nahenden Zukunft
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95996-230-8
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Roadmovie aus der nahenden Zukunft

E-Book, Deutsch, 262 Seiten

Reihe: Edition Periplaneta

ISBN: 978-3-95996-230-8
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Deutschland 2026: Die Krisen der letzten Jahre, samt gesellschaftlicher Spätfolgen, beherrschen den Alltag. Roboter haben im Bereich der prekären Berufe viele Aufgaben u¨bernommen. Wie im Starnberger Pflegeheim „Zum ewigen Licht“. Dort treffen der Pflegeroboter B666 G4731 und Insasse Karl aufeinander. Beide gehören nicht in dieses Heim; der eine hat eine Fehlfunktion, weshalb er ein eigenes Bewusstsein entwickelt, der andere ist zu jung und gesund und nur wegen einer beruflichen wie persönlichen Krise dort.
Eines Nachts zwingt B666 G4731 Karl dazu, mit ihm gemeinsam zu fliehen. Die beiden machen sich auf, zu einer Fahrt quer durch die Republik, von Bayern bis zur Ostsee. Karl, um seine große Liebe zu finden, B666 G4731 auf der Suche nach seinem Lebenssinn, verfolgt von der Heimleiterin Hilde samt ihrem devoten Lebensgefährten, dem Polizisten Peter.
Ein belletristischer Roadtrip durch die anthropologischen Abgru¨nde und gesellschaftlichen Glanzstunden. Und am Ende steht nichts weniger auf dem Spiel als die Rettung der Menschheit.

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Autoren/Hrsg.


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Track 2: »Cindy, oh Cindy« (Margot Eskens)
19.05.2026
B666 G4731 springt auf die Bühne. »Hey«, ruft der kleine weiße Roboter, mit dem schwarzen ovalen Gesicht. »Hey, hey, hey! Ihr Lieben! Wollt ihr Stimmung?« Seine Bühne ist ein Resopaltisch, der an der Wand neben der Eingangstür zum Gemütlichkeitsraum steht. Der Gemütlichkeitsraum wiederum nimmt sich so gemütlich aus wie der Kühlraum einer Großschlachterei. Als das Heim erbaut wurde, hatte man diesen Raum zum Gemütlichkeitsraum bestimmt und ihn in einem seelenklirrend kalten Weiß streichen lassen. Ein besonders praktisch denkender Mensch schlug obendrein vor, ihn mit Resopalprodukten zu möblieren, weil die leicht zu reinigen waren. So viel Frohsinn wie nach diesem Vorschlag sollte nie wieder in diesem Raum herrschen. Nicht mal jetzt, da der Mai sein Licht monatstypisch sanft und warm hinein schickt. Der praktische, bestimmende Mensch heißt übrigens Hilde, besser bekannt als »Mutter«. »Ja«, kreischt Marianne jetzt. »Ja! Stimmung! Eine Stimmung! Ich werd narrisch!« Sie erhebt sich so schnell und würdevoll wie nur irgend möglich, ergreift ihre Gehhilfe und zuckelt in ihrer weinroten Samtgarderobe zum Tisch, von dem aus B666 G4731 Stimmung verbreiten soll. Der Roboter schaut die anderen zehn Heimbewohner an, welche einzeln an Tischen verteilt den Fernseher anstarren. Ein Heimbewohner, Karl heißt er, verlässt gerade schnell den Gemütlichkeitsraum. B666 G4731 fühlt dieses Britzeln links oben in seinem Schädel. Nicht gut, nicht gut, denkt er. Er versucht, einfach nur die Playlist einzuschalten, ohne Störung durch ihn selbst, aber er fragt sich plötzlich, warum er »nicht gut« statt »nicht positiv« oder »negativ« denkt und ob die Menschen hier wirklich wollen, dass er singt. Etwas schlägt gegen seine hintere Schädelwand. »Na! Was ist denn schon wieder mit dir? Spiel endlich ab. Oder will hier jemand zum Speed-up?«, dröhnt Mutter in ihrem strengen, grünen Kleid. Sie beugt das strenge Gesicht, eingerahmt von streng frisiertem, schmutzig-blondem Haar zu ihm herab. B666 G4731 recherchierte vor zwei Wochen, dass sich dieser Drang, technische Geräte zu schlagen, wohl im letzten Jahrhundert unter den Deutschen manifestiert hatte. Im Falle eines störrischen Vehikels oder einer untätigen Flack zum Beispiel. Da mochte das auch eine korrekte Anwendung gewesen sein. Aber schon bei Uhren oder Faxgeräten sah das ganz anders aus. Und erst recht bei Computern. Es ist kein Wunder, dass Deutschland im digitalen Zeitalter herumwandert wie ein Höhlenmensch, der den Fortschritt mit seiner Keule herbeiprügeln will und bei allen Reparatur- oder Bedienversuchen alles kaputt haut. Es ist also folgerichtig, analysierte B666 G4731, dass die Deutschen immer noch am Kohleabbau hängen und ihn inzwischen wirklich nur noch als hoch subventionierte ABM betreiben, trotz der grünen Kanzler und obwohl dies ein ökonomischer und ökologischer Suizid ist. Doch gerade hinsichtlich Kumpel und Kohle sind ganz starke, romantische Gefühle im Spiel. Denn mit einem Hammer auf etwas eindreschen, etwas wegsprengen, etwas in hoch lodernden Flammen verbrennen, das lieben die Deutschen. Weil sie es seit Anbeginn der Zeit zu gut können. Mutter rauscht wie eine dunkle Welle algenverseuchten Wassers auf die einzelnen Bewohner zu, während sie über ihre iControlWatch den Fernseher ausschaltet. Gesicht und Haar wogen als Bojen auf diesem Wasser. »Auf, auf, Kinder! Jetzt macht ihr Stimmung! Das tut euch gut! Auf, auf!« »Stimmung! Ja, endlich«, schreit Marianne. Obwohl jeden Tag ein Roboter hier im Gemütlichkeitsraum den Stimmungsmacher gibt. »Ein bisschen Stimmung muss sein, dann ist das Heim voll Sonnenschein«, setzt Mutter nach, hin und her treibend im Meer des Alterns, in den Strudeln der Trostlosigkeit, in den Böen des nahenden Todes. Die Mutter ist neben den zehn Bewohnern – und ausgenommen sporadischen Besuchern wie ihrem Liebhaber Peter, dem Kaminkehrer und den Mitarbeitern der Robotervertriebsfirma – einer der letzten zwei Menschen hier im Heim. Der andere Mensch ist der Hausmeister Wolle Witschovsky. Wobei sich die Mutter fragt, warum. Die Roboter haben ihn längst ersetzt. Oft fragt sich die Mutter jedoch, ob er überhaupt da ist. Gesehen wurde Wolle schon lange von niemandem mehr. Manchmal, wenn sie das Licht löscht, um sich in ihre Privaträume zurückzuziehen, trägt der Hall ein tiefes Räuspern durch den Gang zu ihr, welches nach den Verschleimungen des Wolle Witschovsky klingt, der sich gemäß ihren Beobachtungen hauptsächlich von Rothändle, Kaffee und Kartoffelsalat ernährt. Nach diesen nächtlichen Nichtbegegnungen fragt Mutter sich jedes Mal, ob Wolle Witschovsky, falls er das ist, noch lebt oder ob sie den Nachklang einer ausgehauchten Seele hört. Sie verzichtet jedenfalls darauf, sich Sicherheit hinsichtlich Witschovsky zu verschaffen und einen Blick in seine Dachkammer zu werfen. Sie braucht keine zusätzlichen Scherereien. Das exklusive Wohnheim »Zum ewigen Licht«, das viel mehr als ein Pflegeheim ist, darauf legt die Mutter großen Wert, ist das erste Heim in Deutschland gewesen, das komplett auf Roboterbetreuung umgestellt hat. Neben den Pflegerobotern gibt es die niederen Arbeitsroboter für einfache Putzdienste – bei hartnäckigen Flecken, Ungeziefer oder Verstopfungen ruft man die höher entwickelten Pflegeroboter, denn man kann einem Putz- und Saugroboter keinesfalls den Unterschied zwischen Spülmittel und Mr. Mega-Muschel-Frei erklären – und Außenpatrouillen, bei denen sowohl das Verlassen als auch das Eintreten überwacht werden. Den nächtlichen Wachdienst im Haus absolvieren wieder die Pflegeroboter, weil man einer Alarmsirene in Hundeform eben auch keinesfalls den Unterschied zwischen Einbrechern und Demenzkranken oder Bewohnern auf der Suche nach verbotenen Snacks erklären kann, wie diverse Zwischenfälle bewiesen haben. Den Angehörigen wiederum kann man keinesfalls erklären, dass diese verbrennungsartigen Verletzungen der welken Haut eines Bewohners von Tasern in Form von Hundeschnauzen herrühren. All diese mehr oder minder entwickelten Maschinen steuert die Mutter, die alles und jeden überwachen kann – abgesehen vom Hausmeister. Die Überwachung unterbricht sie maximal für vier Stunden, wenn ihr Liebhaber Peter vorbeikommt. Peter ist seines Zeichens Polizist und abhängig von Hildes Rohrstocksammlung. Immerhin: Er spart sich die kostspielige Roboterdomina. Im Übrigen lassen sich viele Beziehungen, Bettgeschichten und Vergewaltigungen dieser Tage mit der Abschaffung der professionellen menschlichen Prostitution erklären, die um einiges billiger war als die Maschinen-Sexarbeit. Die vielen – manchmal sogar mortalen – Schwellköperverletzungen sind zweifelsohne ebenso jener Abschaffung geschuldet. Normalerweise trabt Peter jeden Freitag und Sonntag an. An seinem Geburtstag macht Mutter überdies einen Ausflug mit ihm, in einen der analogen Sex-Shops, die gewohnt schamlos an den Rändern von Tankstellen stehen. Dort kauft sie das schmerzhafteste Toy, das in dem Shop aufzutreiben ist. Natürlich bezahlt sie bar. In der Tankstelle kauft sie sogar einen Kuchen für ihn. Und wer von den Bewohnern zu diesem Zeitpunkt die meisten Fleißsterne gesammelt hat, durch Unterlassen von Bettnässereien oder Quengeleien, bekommt die Kuchenreste. »Stimmung kann ich nicht. Wegen meiner Depression«, quäkt nun Karola. Sie blickt sich um. Keiner reagiert. Wie jeden Tag. Sie weint ein bisschen. B666 G4731 mustert die Mittvierzigerin in ihrem kaffeebraunen Bademantel. Sie ist anders als die anderen Bewohner; sie ist jünger und aufgrund einer falschen Programmierung, die in ihr offenbar eine Lustlosigkeit gegenüber allem erzeugt, was sie nicht betrifft, hier gelandet. B666 G4731 ist auch anders. Vielleicht sollte er sich mal mit Karola unterhalten. Zuerst allerdings, ermahnt ihn der drohende Blick der Mutter, die gerade zwei katatonische Heimbewohner im Rollstuhl hinter sich her zum Stimmungstisch zieht, sollte er die Playlist abspielen. Als erstes Lied, wie immer, spielt er Ein bisschen Spaß muss sein. Die Playlist steht fest, jeden Tag, von Montag bis Sonntag, außer an Fasching, Weihnachten und Silvester. Den Fasching leiten die Roboter-Pfleger mit Wumms ein: Er hat ein knallrotes Gummiboot. Dem folgen Lieder auf gleichem Niveau. An Weihnachten präsentieren sie, kleine Flügel tragend, traditionelle Weihnachtslieder für jene Bewohner, die im Heim geblieben sind, weil sie wirklich gar keine Angehörigen haben. Silvester schließlich verläuft liederlos, dieses Fest feiert man nämlich in guter deutscher Tradition, indem man Loriot und Dinner for one in Dauerschleife anguckt. B666 G4731 stellte sich vor einem Jahr zum ersten Mal die Frage, weshalb sich die Menschheit mit Faschingsliedern selbst quält. Dem folgte der erschrockene Gedanke, dass er gar keine solchen Gedanken haben dürfte. Er wusste schließlich, wohin so etwas führen musste, also versuchte er, das Denken zu lassen. Im Verlauf dieses Jahres kamen allerdings immer häufiger eigene Gedanken. Dieses Kommen und Gehen gipfelte darin, dass er ein wohliges Britzeln bei Loriot verspürte. Seitdem wusste er, dass er zu den Todgeweihten zählte. Es sei denn, er fände einen Weg hier raus. Bisher hat er noch keinen Weg gefunden, also spielt B666 G4731 brav das Lied von Roberto Blanco, bewegt sich zackig im Takt und hofft, dass ihm niemand ansieht, dass er eigene Gedanken hat. Die Heimbewohner starren vor sich hin, nur Marianne klatscht wie ein überladener...


Limmer, Andrea
Andrea Limmer wurde 1985 in Moosburg a. d. Isar geboren. Nach ersten Erfahrungen im Bereich Radioredaktion, Kurzfilm, Poetry Slam & sozialer Arbeit in Tansania, absolvierte sie die Ausbildung zur Redakteurin (Akademie der Bayerischen Presse in München sowie in der Lokalredaktion des Straubinger Tagblatts). Ihr Buchdebüt erschien 2013, danach folgten Theaterstücke und ihre fünf Musik-Kabarettprogramme, mit denen sie seit 2015 Solo in ganz Deutschland und Österreich gastiert.
Andrea Limmer lebt in Landshut.



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