E-Book, Deutsch, 184 Seiten
Linsel Pina Bausch
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8419-0182-8
Verlag: Edel Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Bilder eines Lebens
E-Book, Deutsch, 184 Seiten
ISBN: 978-3-8419-0182-8
Verlag: Edel Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
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Pina Bausch, geboren 1940 in Solingen, gestorben 2009 in Wuppertal, erhielt ihre Tanzausbildung an der Essener Folkwang-Schule. Als sie zur Spielzeit 1973/74 als Choreographin verpflichtet wurde, benannte sie das Ensemble in Tanztheater Wuppertal um. Unter diesem Namen erlangte die Kompanie Weltgeltung, die auch nach ihrem Tod Bestand hat. Pina Bauschs Verknüpfung von poetischen und Alltagselementen beeinflusste die internationale Tanzentwicklung entscheidend. Weltweit mit den höchsten Preisen und Ehrungen ausgezeichnet, zählt Pina Bausch zu den bedeutendsten Choreographinnen der Gegenwart. Anne Linsel, die Pina Bausch seit ihrer Zeit in Wuppertal kannte und etliche Filme über sie drehte, zeichnet in 'Bilder eines Lebens' ein intimes, sehr persönliches Porträt.
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EINS
KINDHEIT
IN SOLINGEN
Wer in Wuppertal, im Stadtteil Barmen, Ende der 1980er-Jahre an einem ganz gewöhnlichen Wochentag am späteren Morgen die Talstraße jenseits des Alten Marktes entlangging, dem konnte es passieren, dass er eine schmale, dunkel gekleidete Person aus einem Café kommen sah, ein kleines Tablett mit Kaffeekanne und Tasse in Richtung »Lichtburg« balancierend und in einem schmucklosen Eingang verschwindend. Die »Lichtburg« ist ein ehemaliges Kino. Bis heute beherbergt das Gebäude eine der berühmtesten Tanzkompanien der Welt: das Tanztheater Wuppertal. Die Kompanie hat dort ihre Probenräume. Die Person mit dem Tablett in der Hand war niemand anderes als Pina Bausch, die damals gelegentlich ihren Kaffee eigenhändig über die Straße trug, als wär’s eine Szene aus einem ihrer Stücke. In jener Zeit waren in Wuppertal Abneigung, Ablehnung und Protest gegen Pina Bausch und das Tanztheater umgeschlagen – zuerst in vorsichtige, dann in stürmische Zuneigung. Bis dahin waren Pina Bausch und ihre Tänzer einen langen, oft sehr schmerzhaften Weg gegangen. Pina Bausch wurde am 27. Juli 1940 in Solingen geboren. Sie hatte zwei Geschwister: einen Bruder, der zehn Jahre älter, eine Schwester, die neun Jahre älter war. Beide sind lange vor Pina Bausch gestorben. Als sie noch nicht richtig sprechen konnte, habe sie auf die Frage: »Wie heißt du denn?«, immer geantwortet: »Pina«. Eigentlich heißt sie Philippine, nach der Mutter ihres Vaters. So ist es, abgesehen von offiziellen Schreiben und Klausuren während ihres Studiums, bei »Pina« geblieben. Als Kind in Solingen August und Anita Bausch betrieben eine Gastwirtschaft mit kleinem Hotel in Solingen, bekannt in aller Welt als »Klingenstadt« durch die hier hergestellten Messer, Scheren, Bestecke, Klingen. Die Familie Bausch wohnte nicht im Zentrum, sondern am Rand von Solingen in der Nähe einer Stahlwaren- und einer Schokoladenfabrik. Im Zweiten Weltkrieg wurde Solingen schwer bombardiert. Pina Bausch erinnerte sich, dass die Familie oft in einen kleinen Bunker im Garten Zuflucht suchen musste – einmal sei eine Bombe auf einen Teil des Elternhauses gefallen. Gott sei dank blieben alle unverletzt. Eine Zeitlang schicken die Eltern ihre kleine Tochter nach Wuppertal zu einer Tante, weil dort ein größerer Bunker steht. »Sie meinten, da sei ich sicherer gewesen. Ich hatte einen kleinen Rucksack mit weißen Pünktchen, aus dem eine Puppe herausguckte. Der stand immer fertig gepackt, so dass ich ihn mitnehmen konnte, wenn Fliegeralarm war.« Der Garten hinter der Gastwirtschaft war nicht besonders groß. Aber er war ein Paradies für die Kinder: der Familienbunker, ein langes Gebäude mit einer Kegelbahn, eine runde Tanzfläche aus Beton (der erste Bauabschnitt für ein Gartenrestaurant, das nie gebaut wurde), ein verrostetes Treibhaus, dazwischen wild wachsende Gräser, Unkraut und »vereinzelt herrliche bunte Blumen«. Hier entfaltete sich die Phantasie. Im Sommer saßen Pina und ihre Freunde auf dem heißen Teerdach der Kegelbahn und aßen Sauerkirschen, die vom Nachbarn über das Dach ragten. Sie hüpften auf alten Sofas, die ebenfalls dort standen, wie auf einem Trampolin, und im Treibhaus wurde Theater gespielt – »vielleicht begannen dort meine ersten Inszenierungen«. Auf der Tanzfläche verwandelten sie sich in berühmte Schauspieler. Pina war meistens Marika Rökk. Und wenn sie Hunger hatten, dann stellten sich alle Kinder auf die Gullis in der Nähe der Schokoladenfabrik und atmeten die süßen warmen Dämpfe ein: »Geld hatten wir nicht, aber riechen konnten wir. Auch so konnte man satt werden.« Das Spielen im Gartenparadies war die eine Seite der Kindheit, die andere hieß Mitarbeit im elterlichen Betrieb. Pina musste mit ihren Geschwistern helfen: stundenlang Kartoffeln schälen, die Treppe putzen, Betten machen, Waschbecken säubern, die Gastzimmer aufräumen. Als sie etwa zwölf Jahre alt war, wurde der Vater einmal sehr krank. Er musste eine Kur machen und nahm seine Frau mit. Da hat Pina zusammen mit zwei Nachbarn, die auf sie aufgepasst haben, das Lokal geschmissen. Sie hat Bier gezapft, die Gäste versorgt. Sie fand das »wichtig und schön – ich habe dabei viel gelernt«. Viel Zeit für ihre Kinder hatten die Eltern Bausch nicht. So passierte es häufiger, dass Pina anstatt abends ins Bett zu gehen, sich unter den Tischen der Kneipe versteckte. Da blieb sie dann einfach hocken und hörte und sah so allerhand, was die Gäste taten und erzählten. »Das hat meine Phantasie ungeheuer angeregt.« Schon damals ist sie mit Leidenschaft Zuschauer gewesen: ein stiller und aufmerksamer Beobachter. Und sie war ein Zappelphilipp, wie ihre Mutter sie nannte. Konnte kaum still sitzen, war immer in Bewegung. Turnte und tanzte um die Tische und Stühle herum. »Pina muss unbedingt ins Kinderballett, die ist ja wahnsinnig gelenkig«, sagten einige Gäste immer wieder. Sie mussten es wissen: Es waren Chorsänger des nahen Theaters, die regelmäßig zum Essen in die Kneipe kamen. Und eines Tages haben sie Pina mitgenommen ins Theater, zum Kinderballett. Sie war fünf Jahre alt. Gleich zu Beginn hatte Pina ein unvergessliches Erlebnis: »Alle Kinder mussten sich auf den Bauch legen, dann die Füße und Beine nach hinten hochnehmen und nach vorn stellen, rechts und links neben den Kopf. Das konnten nicht alle Kinder, bei mir aber war das überhaupt kein Problem. Und die Lehrerin hat damals gesagt: ›Du bist ja ein Schlangenmensch.‹ Ich wusste natürlich nicht, was das bedeutete. Aber ich spürte am Tonfall, dass das etwas Besonderes sein musste. Von da an wollte ich unbedingt zum Kinderballett gehen.« Und noch ein frühes Erlebnis im Kinderballett blieb unauslöschlich in ihrer Erinnerung: Einmal sollten alle Kinder etwas nach Anweisung der Tanzlehrerin machen, was Pina allerdings nicht verstanden hatte. Sie schämte sich und sagte einfach, das könne sie nicht. »Die Lehrerin schickte mich nach Hause. Ich quälte mich wochenlang, ich wusste nicht, wie ich wieder ins Kinderballett zurückkommen konnte. Nach Wochen kam die Lehrerin zu uns nach Hause und fragte, warum ich nicht mehr komme. Da klärte sich dann alles auf. Den Satz ›das kann ich nicht‹ habe ich nie wieder gesagt.« Das Kinderballett in Solingen wurde auch im Theater eingesetzt, bei Opern, Operetten und Balletten. Pina bekam gleich Kinderrollen, meistens musste sie Jungen spielen, weil es keine Jungen gab. Das erste Mal auf der Bühne: ein Ballettabend. Ein Harem, der Sultan und seine Lieblingsfrauen. Sie behielt das Bild in Erinnerung: »Der Sultan lag auf einem Diwan mit vielen exotischen Früchten. Ich war als Mohr geschminkt und gekleidet und musste mit einem großen Fächer die ganze Zeit über Luft zuwedeln.« Ein anderes Mal Maske in Blau: »Ich musste einen Zeitungsjungen spielen. Immer rufen: ›Gazzetta San Remo, Gazzetta San Remo, Armando Celini preisgekrönt.‹ Mir bereitete es ein großes Vergnügen, alles sehr genau zu machen.« Das hieß: Pina nahm die Tageszeitung Solinger Tageblatt, überklebte den Titel und beschriftete jede einzelne Seite mit »Gazzetta San Remo«. Das konnte zwar keiner sehen, weder auf der Bühne noch im Zuschauer raum, »aber für mich war es unerhört wichtig«. Diese Genauigkeit sollte bleiben, ihr Leben lang. Eine Zeitlang betrieben Solingen und Wuppertal ein gemeinsames Theater. Wenn eine Aufführung in Wuppertal mit dem Kinderballett anstand, musste Pina nach Wuppertal fahren, immer auch ein Stück mit der Schwebebahn. Hier sah sie die Welt von oben. Blickte in Wohnstuben, wenn die Bahn nicht über die Wupper fuhr, sondern sich in einem Streckenabschnitt durch enge Straßen an den Fenstern der Häuser vorbeidrängte. Ganz großartig habe sie das gefunden, die Leute in ihrem Alltag zu sehen. Diese flüchtigen, schemenhaften Eindrücke aus dem privaten Bereich, Fragmente von Alltagswirklichkeit, waren ebenso phantasieanregend wie die Blicke von unten in der elterlichen Kneipe. Fast schicksalhaft, dass die »Lichtburg« an der Wupper liegt und die Büroräume der Kompanie nur wenige Schritte weiter. Die Schwebebahn fuhr 30 Jahre quasi durch das Büro von Pina Bausch: ganz dicht an den Fenstern vorbei, im Drei- bis Fünf- Minuten-Takt. Nach Kriegsende wurden, wie in vielen Häusern, amerikanische Soldaten in die Gaststätte einquartiert. Und mit dem Strom der Flüchtlinge kamen auch die Großeltern mütterlicherseits nach Solingen; Pina Bausch sah sie zum ersten Mal. Die Nachkriegsjahre waren auch die Zeit der Hamstertouren – immer zu Fuß. Züge, Straßenbahnen und Busse fuhren noch nicht. Oft gingen die Eltern und Geschwister weite Wege, um Lebensmittel zu organisieren, ein paar Eier, etwas Obst oder Fleisch von Bauernhöfen in naher oder weiterer Umgebung. Wer etwas zum Tauschen hatte, konnte sich glücklich schätzen. So tauschte Vater Bausch einmal zwei Oberbetten, ein Radio und ein paar Stiefel gegen ein Schaf, damit die Familie Milch hatte. Dieses Schaf...