E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Lintner Jenseits der Verbote
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-451-83466-0
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Katholische Sexualmoral im Umbruch
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-451-83466-0
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martin M. Lintner, geb. 1972, Dr. theol., Mitglied des Servitenordens, seit 2009 Professor für Moraltheologie und Spirituelle Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Brixen; 2013-2015 Präsident der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie; 2014-2017 Präsident der weltweiten Dachorganisation 'International Network of Societies for Catholic Theology' ; 2017-2019 Vorsitzender der Internationalen Vereinigung für Moraltheologie und Sozialethik
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Die wunderbare und komplexe Wirklichkeit der Sexualität
Beginnen wir mit der Frage: Wovon reden wir, wenn wir über die Sexualität sprechen?
Die Sexualität ist etwas Persönliches und Intimes. Sie berührt die tiefsten Gefühle, Bedürfnisse und Sehnsüchte eines Menschen. Leiblich wie seelisch. Sie ist in die Leiblichkeit eingeschrieben und zugleich unlösbar mit emotionalen und psychischen Empfindungen verbunden. Sie prägt das Selbstverständnis eines Menschen, sein Verhältnis zu sich selbst und zu seinem Körper. Sie prägt aber auch seine Fremdwahrnehmung, und zwar in einem zweifachen Sinn: Erstens, wie möchte jemand von den anderen wahrgenommen werden? In welcher Form betont oder verbirgt jemand die eigene Männlichkeit bzw. Weiblichkeit, beispielsweise durch Kleidung, Gestik, Körperhaltung und -bewegung usw.? Zweitens, wie wird jemand tatsächlich von den anderen wahrgenommen? Entspricht es dem Selbstkonzept der wahrgenommenen Person bzw. der Art und Weise, wie sie sich selbst präsentiert? Kommt jemand mit den Rollen und Erwartungen, die ihm bzw. ihr vom sozialen Umfeld zugeschrieben werden, zurecht? In welchem Maß kann er bzw. sie sich mit ihnen identifizieren? Die Rückmeldungen, die jemand von seinem sozialen Umfeld erhält, bzw. die Wirkung, die jemand auf die anderen hat, haben wiederum einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung des Selbstkonzepts eines Menschen und prägen sein Denken, Fühlen und Verhalten mit.
In den zwischenmenschlichen Beziehungen spielt Sexualität eine wesentliche Rolle. Nicht nur in den intimen und sexuellen Beziehungen. Die soziokulturellen Kontexte sind unausweichlich davon geprägt, dass das einzelne Individuum nicht unabhängig von seiner Geschlechtsidentität wahrgenommen wird. Es gibt historisch gewachsene, kulturell ausgeformte und biografisch geprägte geschlechterbezogene Rollen und Stereotype, denen sich kein Mitglied einer Gesellschaft entziehen kann, selbst wenn es versucht, sich kritisch dazu zu verhalten oder sich von ihnen zu distanzieren, weil es sich mit ihnen nicht identifizieren kann.
Weiter unten werden diese Einsichten aus den Genderstudien noch näher erläutert, an dieser Stelle sei nur das Folgende vorweggenommen: Unser Verhalten zum anderen Menschen ist davon geprägt, ob wir ihn als Mann oder Frau wahrnehmen. Dies geschieht in der Regel bereits ab dem Moment der Geburt. Wir behandeln Kinder unterschiedlich, je nachdem, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Die französische Philosophin Simone de Beauvoir hat den Satz geprägt: »Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.« Damit brachte sie zum Ausdruck, dass Frausein – bzw. auch Mannsein – nicht nur durch das anatomische Geschlecht bestimmt wird, sondern dass die Geschlechtsidentität eines Menschen wesentlich mehr ist. Was unter Frau- bzw. Mannsein verstanden wird, hängt von gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren ab und verändert sich im Lauf der Geschichte. Die Entwicklung des persönlichen Selbstverständnisses eines Menschen als Mann oder Frau ist unhintergehbar auch dadurch geprägt, wie ein Mensch als Kind und Jugendlicher von seinem Umfeld behandelt worden ist und welche Zuschreibungen er erfahren hat. In diesem Sinn kann vom Geschlecht als einer »sozialen Konstruktion« gesprochen werden, weil eben jede Gesellschaft und Kultur ganz bestimmte Vorstellungen davon hat, worin Frau- bzw. Mannsein idealtypischerweise besteht.
Die soziokulturellen Kontexte sind unausweichlich davon geprägt, dass das einzelne Individuum nicht unabhängig von seiner Geschlechtsidentität wahrgenommen wird.
Nicht zuletzt deshalb, weil sich rein empirisch gesehen die deutliche Mehrheit der Menschen heute wie in der Vergangenheit als Mann oder Frau identifiziert, haben sich als Fundament des gesellschaftlichen Zusammenlebens die grundlegenden Geschlechtskategorien »männlich« und »weiblich« gebildet. Erfordernisse wie jene von Geschlechtergerechtigkeit werden überhaupt erst auf diesem Hintergrund plausibel. Die Annahme der Binarität Mann – Frau, das heißt der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen, hat dazu geführt, dass die ausschließliche Zugehörigkeit eines Menschen zu einem der beiden Geschlechter als naturgegeben bzw. – religiös gedeutet – als schöpfungsgemäß vorausgesetzt worden ist. Es gibt nur wenige Kulturen, die das Vorhandensein von mehr als zwei Geschlechtern kennen. So werden bei einigen indigenen Stämmen in Kanada Menschen als Berdache bzw. als Two-Spirits bezeichnet, deren Geschlechtsidentität nicht deutlich männlich oder weiblich ist oder die als Männer weiblich konnotierte Aufgaben und umgekehrt übernehmen. In der gebirgigen Region Nordalbaniens gibt es Frauen, sogenannte Burrnesha, das heißt »Schwurjungfrauen«, die versprechen, ehelos und enthaltsam zu leben. Im Gegenzug dürfen sie in ihren Familien und Dörfern die Rollen von Männern übernehmen und genießen den sozialen Status eines Mannes, der wesentlich besser ist als jener von Frauen. Sie wirken nicht nur aufgrund ihrer Kleidung und ihres Verhaltens männlich, sondern nehmen mit der Zeit auch körperlich männliche Züge an. Auch bei indigenen Stämmen auf Hawaii sind mehrere Geschlechter bekannt. In Thailand gibt es die Bezeichnung Kathoey für Männer und Frauen, die von ihren jeweiligen geschlechtsspezifischen Normen und Rollenbildern sichtlich abweichen. Sie wird auch auf homosexuelle, intersexuelle oder transidente Personen bezogen. Diese Kulturen haben über Jahrhunderte ein Bewusstsein dafür tradiert, dass es eine Vielfalt von Geschlechtsidentitäten gibt und dass die Annahme einer ausschließlichen Binarität von Mann und Frau nicht alle Menschen einschließt. Auf diese mögliche Vielfalt an Geschlechtsidentitäten, auf die Differenzierung zwischen biologischem Geschlecht und sozialen Geschlechterrollen sowie auf die komplexe Entwicklung der individuellen Geschlechtsidentität wird weiter unten noch näher eingegangen.
Ein weiterer Aspekt der Sexualität ist die mit ihr verbundene Erfahrung von Lust, Entspannung und körperlichem Wohlgefühl. Sie bilden für viele Menschen einen wichtigen Antrieb, körperliche Nähe und Intimität zu suchen und sexuell aktiv zu sein. Eine wichtige Rolle spielen dabei das Bindungshormon Oxytocin, das Glückshormon Dopamin und das neuronale Belohnungssystem im Gehirn. Das neuronale Belohnungssystem hat sich evolutionsbiologisch entwickelt. Es fördert Verhaltensweisen, die die Paarbindung und die Fortpflanzung unterstützen. Die Erfahrungen von Verliebtheit, sexueller Intimität und Orgasmus lösen im Gehirn ein »neuronales Feuerwerk« und bei den Betroffenen Euphorie und Glücksgefühle aus. Das heißt aber umgekehrt nicht, dass sich Verliebtheit und Liebe, das Streben nach Lust und der Wunsch nach Fortpflanzung usw. ausschließlich durch biochemische Prozesse, die im Gehirn ablaufen, hinreichend erklären ließen. Diese monokausale Erklärung würde der Komplexität der menschlichen Wirklichkeit von Liebe, Sexualität und Fortpflanzung nicht gerecht, bei der auch die freie Willensentscheidung und kognitive Aspekte eine Rolle spielen. Diese komplexe Vielschichtigkeit gilt es im Blick zu behalten.
Die meisten Menschen erfahren die Sexualität als schön und lustvoll. Körperliche Nähe und Zärtlichkeit vermitteln Geborgenheit und Annahme. Bereits Kinder empfinden Hautkontakt, Streicheln und die Berührung der erogenen Zonen als angenehm. Sie entdecken ihren eigenen Körper, indem sie sich selbst an den Genitalien berühren. Im Unterschied zu Pubertierenden und Erwachsenen suchen sie jedoch noch nicht die sexuelle Erregung mit dem Ziel eines Orgasmus. Während der Pubertät entwickeln sich die äußeren und inneren Geschlechtsorgane sowie die sekundären anatomischen Geschlechtsmerkmale. Die körperlichen Veränderungen können einerseits Verunsicherung hervorrufen, andererseits wecken sie das Interesse am eigenen Körper wie an den Körpern anderer Menschen des eigenen wie des anderen Geschlechts. Sie entdecken nicht nur – wie bereits im Kindesalter –, dass es einen Unterschied zwischen Buben und Mädchen gibt, sondern fragen nach ihrer eigenen, auch geschlechtlichen Identität. Viele Jugendliche machen in dieser Entwicklungsphase die Erfahrung von Selbstbefriedigung, das heißt der gezielten sexuellen Selbststimulierung bis zum Orgasmus. Die Selbstbefriedigung dient nicht nur einem intensiven Erleben und der positiven Annahme des eigenen Körpers, der sich geschlechtsspezifisch verändert, sondern ist auch der vermehrten Produktion und Ausschüttung von Geschlechtshormonen geschuldet, die Heranwachsende dazu drängen, sexuell aktiv zu werden – zunächst mit sich selbst, dann auch mit anderen. Die Selbstbefriedigung wird nicht nur als lustvoll, sondern auch als körperlich und psychisch entspannend erfahren.
In früheren Jahrhunderten hat man versucht, Jugendliche von der Selbstbefriedigung abzuhalten, oft mit aus heutiger Sicht wirren Argumenten wie beispielsweise, dass sie gesundheitlich schädlich sei oder zu Blindheit führe. Im Hintergrund stand die jahrhundertelange moralische Verurteilung der Selbstbefriedigung, die auch ihrerseits falschen Argumenten unterlag wie zum Beispiel jenem der Vergeudung von Lebenskraft oder dass das männliche Sperma einen Homunculus, ein »Menschlein«, enthalte, welches nur in den »Acker« des weiblichen Schoßes gelegt werden müsse, um zu wachsen, außerhalb des weiblichen Körpers aber zum Absterben verurteilt sei. Bis heute beurteilt die Kirche Selbstbefriedigung negativ. Sie argumentiert, dass das absichtliche Streben...