Lobo Antunes | Guten Abend ihr Dinge hier unten | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 752 Seiten

Lobo Antunes Guten Abend ihr Dinge hier unten

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-24151-3
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 752 Seiten

ISBN: 978-3-641-24151-3
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Guten Abend ihr Dinge hier unten' ist nichts Geringeres als ein Porträt Angolas in den letzten vierzig Jahren, von der Kolonialzeit unter portugiesischer Herrschaft und ihrem Ende in einem blutigen Bürgerkrieg bis zu Korruption und Gewalt in der Gegenwart. Zu Wort kommen die Schwachen, die Betrogenen, die Verlassenen ...

António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den 'Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes', den 'Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft' und den Camões-Preis.
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Prolog


Ich weiß nicht, ob sie gesagt hat

– Das war das Haus

oder

(möglicherweise)

– Vor zwanzig Jahren haben wir

oder

(kann sein, aber sicher bin ich mir nicht)

– Hier habe ich gewohnt

oder aber sie hat überhaupt nichts gesagt, ist nur neben mir von Muxima heraufgestiegen, vielleicht ein Stückchen vor mir

(ein Stückchen vor mir)

vielleicht mit einer kleinen Gerte, vielleicht mit einem Stück Bambusrohr in der Hand, fast ohne mich anzusehen

(daran erinnere ich mich)

als würden wir spazierengehen, obwohl etwas in ihren Gesten, in ihrem Gesicht

(Beunruhigung, Erwartung, Zorn)

bewies, daß wir keineswegs einen Spaziergang durch die Viertel machten, die der Krieg zerstört hatte

(und links von uns das Meer, da unten, immer links von uns das Meer)

sie also vor mir, erst langsam, mit aufmerksamem Blick auf die Narben, die die Mörsergeschütze an den Ecken hinterlassen hatten, auf die verwahrlosten Gärten, das leere Schwimmbad, in dem die Zähne eines toten Soldaten immer weiter wuchsen, sie erst langsam, später fast rennend, hatte mich vergessen, die kleine Gerte oder das Stück Rohr losgelassen, rannte nicht, wie weiße Frauen rennen, sondern wie die Negerinnen, in deren Mitte sie großgezogen wurde

(siehe beiliegenden Bericht)

trotz der Bedeutung und des Reichtums des Onkels, und sie, das gnädige Fräulein, sie, die Weiße, aß Funge, das Maniokmehlgericht aus dem Eingeborenendorf, und röstete Grillen an einem Spieß, sie, jetzt eine Frau oben auf dem Hügel

links neben uns das Meer, die Fischkutter, die Insel, alles symmetrisch, ordentlich, ruhig, sie wartet auf mich vor etwas, das einmal eine Mauer gewesen sein mag, und jenseits der Mauer etwas, das einmal ein Orchideengewächshaus gewesen sein mag, Reste von Beeten, Marmortreppen

(die Hälfte einer Marmortreppe)

von Unkraut überwuchert, unter dem Unkraut versunken, einer der dicken Vögel von der Uferstraße floh mit einer Maus im Schnabel, bewegte sich schwankend, ehe er mühsam aufflog, sie zeigte mir die Fassade

– Das war das Haus

eine Ruine mit zwei oder drei Stockwerken

(Geheimdokument 16 J: drei Stockwerke)

in der man Zimmerfluchten erahnte und der Fenster, Balkons und Türen, die Baracken der besagten Negerinnern, die sie im hinteren Teil aufgezogen haben sollen, fehlten, ich weiß nicht, ob sie gesagt hat

– Vor zwanzig Jahren haben wir

oder

– Dort hat mein Onkel

oder ob ich mir einbilde, daß sie gesagt hat

– Dort hat mein Onkel

sie stand da, obwohl sie mir das Gefühl gab, als renne sie in einer anderen Zeit weiter und erschrecke die Hühner der Negerinnen, die Waschfrauen, die Köchinnen, die Frauen, die mit gestärkter Schürze bei Tisch servierten, gequält in Schuhen steckten, die zu tragen sie nicht gewohnt waren, sie wies auf Giebel, Reste von Möbeln, einen Lüster, der noch immer an seiner Stuckbasis hing und jedesmal zitterte, wenn der Wind

(der leichte Abendwind der kühleren Jahreszeit)

Erde und Blätter heranwehte, sie schüttelte die Blätter von der Bluse, aus dem Haar, blickte mich an, als nähme sie mich endlich wahr, als finge ich endlich

(bislang unwichtig)

zu existieren an, sie zeigte mir, was es nicht mehr gab, so wie es Luanda beinahe nicht mehr gab, Angola nicht mehr gab, Afrika nicht mehr gab, einen zweiten dicken Vogel gab es, der die Uniform eines zweiten toten Soldaten zerriß

(es soll nicht unerwähnt bleiben, daß auch die Dutzende von Zähnen weiter wuchsen, erst als ich diese Arbeit angenommen habe, fern von meinem Land, habe ich begriffen, daß die Verstorbenen)

eines zweiten toten Soldaten, bäuchlings gegen den Drachen der Statue eines Erzengels gelehnt, der den Schaft der Lanze mit der Faust umschloß, es gab, wie gesagt, das Meer und die Insel, die die Truppen der Regierung oder die Kubaner oder die französischen und belgischen Söldner dem Erdboden gleichgemacht und deren Strände sie in eine elende Brache verwandelt hatten, wo die Blinden aus den Minen am Meeressaum hockten und auf vom Dieselöl vergiftete Krebse warteten, während sie, die Blinden nicht wahrnehmend, sie, die Nichte des Herrn und daher ebenfalls Herrin und Besitzerin

– Das war das Haus

seit der Flucht ihres Cousins nach Johannesburg oder nach Europa

(log sie)

die letzte Herrin und Besitzerin des Gespenstes aus zwei oder drei Stockwerken

(drei Stockwerken)

auf das sie stolz zu sein schien, auf das sie tatsächlich stolz war, das

– Das war das Haus

das sie angesteckt hat oder das sie hat anstecken lassen, als sie den Negerinnen, indem sie sie am Arm packte, sie anschrie, sie zwang, ihr zu gehorchen, befohlen hatte

– Bring die Benzinkanister aus dem Lager

und selber mit einem der Buschmesser des Onkels aus der Zeit, als der Onkel

(anfangs ein armer Kerl ohne Macht und Geld)

Dondo asphaltierte, und sie selber die Bettdecken und Schabracken zerfetzt, den Angestellten den Damast, den Samt, den Satin hingestreckt hatte

– Gieß das hier voll

sie diese auf den Fluren, den Treppenabsätzen, den Terrassen, unter den Bögen, in dem Bereich verteilt hatte, in dem früher

(Geheimdokument 16 J, Seiten elf folgende)

ganze Antilopen und Wildesel gebraten wurden, in den Schränken mit den Kleidern

(und Jacken, Schuhen, Hüten)

die die Tante in London und Rom bestellte und die der Onkel ihr zur Zerstreuung von Einsamkeit und Enttäuschung zu bestellen erlaubte, die Tante, die auf ihrem Stilmöbelstuhl von Zweifeln bewegt mit gespitzten Lippen fragte

– Findest du mich elegant Marina?

und am Ende in einer Anwandlung von Niedergeschlagenheit nach ihrer Brille suchte und wieder zu ihrer Modezeitschrift, zu ihrem Schweigen, zu ihrer Strickarbeit zurückkehrte, nun nicht mehr auf ihrem Stilmöbelstuhl mit Brokatkissen aus Österreich, auf dem kleinen Hocker aus der Zeit am Anfang ihres Wohlstandes, als sie mit ihrem Mann in Dondo wohnte und nicht mehr auf das Gehalt einer Kassiererin angewiesen war, vom Zaun aus den Fluß betrachtete oder die neuen Ringe auf die karierte Tischplatte legte, bevor sie das Geschirr abwusch, die Tante

– Findest du mich nicht elegant Marina?

auf der Suche nach dem Fluß, der verschwunden und von Elefanten aus Ebenholz, Bildern in vergoldeten Rahmen und chinesischen Terrinen ersetzt worden war, denselben, die die Nichte gegen die Wände des

– Das war das Haus

geschleudert hatte, während die Negerinnen gemächlich wie Gänse, die Zigarette verkehrt herum im Mund, Kanister auf dem Boden des oberen Stockwerks, auf den Sofas, im Keller ausschütteten, sich unter dem Vordach sammelten, immer noch rauchend darauf warteten, daß sie ein Streichholz an ein Stück Putzwolle aus der Garage hielt, es in die Vorhalle warf und mit ihnen zusammen

(ein Stück vor ihnen, so wie auf dem Gipfel des Hügels vor mir)

zurückwich

(nicht viel, ein oder zwei Schritte)

und eine unvermittelte, weiße, rote, weiß, rote, rot-schwarze, schwarze Flamme von den Fundamenten bis zum Dach hinaufsprang, eine Flamme, die an- und abschwoll

atmete

bewirkte, daß Parketts, Regale, Aquarelle, Truhen übereinanderpurzelten, das Pulver der in Schubladenverstecken verstreuten Revolver und Karabiner explodierte, einer der italienischen Hüte tanzte, vom Feuer verschmäht, einen Augenblick lang und verging in der Luft

– Findest du mich nicht elega

während die Balken weich wurden, die Lungen der Flammen sich weiteten, die Angestellten des Onkels sich, da sie nicht den Mut aufbrachten hereinzukommen, am Gartentor platt drückten, und sobald die Asche sich herauszukristallisieren begann, sagte sie zu dem Mann einer der Negerinnen, falls die überhaupt einen Mann haben

(haben sie nicht, was heißt hier Ehemänner?)

übertönte dabei mit ihrer Stimme den Lärm des

– Das war das Haus

wies auf den Schuppen

– Der Traktor

bat nicht, sie hat nie gebeten, sie beschränkte sich darauf, auf den Schuppen zu weisen

– Der Traktor

warf ihn an, fuhr auf dessen riesigen Rädern los, hob die Gelenke der Schaufel, die ihren eisernen Rachen öffnete und schloß und fast ein Kind auf Krücken zerquetschte, denn alle Kinder

(zumindest alle, die darauf bestanden, sich zu bewegen, die sich nicht von Fliegen oder Eidechsen oder Käfern bedeckt in einer Mörsereinschlaggrube befanden oder lippenlos von den verbogenen Wellblechdächern der Musseques, der Armensiedlungen, herab die Leute anstarrten)

denn alle Kinder in Angola benutzen Krücken, sie zermalmte Rhododendren, Keramikblumentöpfe, Kletterpflanzen, bellte

(ja, bellte)

– Weg da

mit einer Stimme, die nicht ihre war, es war das Grauen eines Traumes, eine alte Panik, die zurückkehrte, die Falten der Tante flehten unter so vielen Cremes

– Findest du mich nicht elegant Marina?

und sie mit den aufgelösten Gesichtszügen, die dem Aufbäumen der Agonie vorangehen

– Weg da

während das

– Das war das Haus

einst voller Elfenbein, Kristall, alter Fayencen und österreichischen Luxus, sich nun als Durcheinander von Brettern und zerborstenen Fliesen häufte, während sie, Schatten für Schatten, das Arbeitszimmer zu erreichen versuchte, in dem eine Woche zuvor der Onkel am Schreibtisch gesessen hatte, die Finger über die Tischplatte hinaushängend, fünf Kugeln in der Brust und eine Kugel im Nacken und eine letzte Kugel im Jochbein, die ihn für immer in einer Art Beleidigtsein...


Lobo Antunes, António
António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.

Meyer-Minnemann, Maralde
Maralde Meyer-Minnemann, geboren 1943 in Hamburg, erhielt 1992 den "Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen", 1997 den Preis "Portugal-Frankfurt", 1998 den "Helmut-M.-Braem-Preis" und wurde 2005 für den "Preis der Leipziger Buchmesse" nominiert.



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