E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Lodato Honey
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-406-82243-8
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-406-82243-8
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Honey ist 82. So alt, dass Beerdigungen sich nicht mehr anfühlen wie ein Arrivederci, sondern eher wie ein A presto: ein Bis bald. Nach einem Leben als Kunstexpertin in den besten Auktionshäusern von Los Angeles ist sie nach New Jersey zurückgekehrt – in eine Heimat, die sie als Teenager gegen alle Widerstände verlassen hat. Die interessantesten Tage ihres Lebens liegen hinter ihr, glaubt sie. Aber sie irrt sich.
Zurück in der Stadt ihrer Kindheit muss sich Honey ihrer Vergangenheit stellen. Und sie muss sich mit ihrer Familie auseinandersetzen, in deren Garten die Leichen nicht nur sprichwörtlich vergraben liegen. Und plötzlich ist sie sich nicht mehr sicher, was sie wirklich will – Vergebung oder Rache. Victor Lodato erzählt rasant und witzig von Gewaltstrukturen im italo-amerikanischen Milieu und von einer Frau, die mit Witz und Freiheitsliebe ihr ganz eigenes Leben gelebt hat. Ihm gelingt ein einzigartiges Porträt einer hochaltrigen Heldin, das mit seinen liebenswert schrägen Außenseiterfiguren, mit Ironie, Wortwitz und großartigen Dialogen eine Geschichte weiblicher Wut und Rache erzählt, wie man sie so noch nicht gelesen hat.
Weitere Infos & Material
Hundert Kleider
Honey hob einen Fuß aus dem Wasser und drehte mit einer abendrotpfirsichfarben lackierten Zehe den Hahn auf. Sie lag schon fast eine halbe Stunde in der Badewanne, hatte aber immer noch keine Lust, ihr Bad zu beenden. Ein Bad beruhigte den Geist und glättete die Gesichtsfalten – es machte nicht nur ruhiger, sondern auch um Jahre jünger. Während Wärmewolken das Wasser durchzogen, ließ sich Honey in die Überreste des Seifenschaums sinken. Ihre Brüste trieben wie weicher Pudding an der Oberfläche. Sie hörte ihr Blut in den Ohren rauschen. Das Kerzenlicht, mit dem sie eine Wellnessatmosphäre hatte kreieren wollen, wirkte auf einmal deprimierend. Und der schleichende Rosenduft hatte etwas von einer Beerdigung. Honey starrte wütend an die Decke. Was sie heute mit ihrem Großneffen erlebt hatte, hing ihr immer noch nach. Mit einem Stöhnen verlagerte sie ihr Gewicht. Manchmal kam ihr das Leben absurd vor – wie ein an den Haaren herbeigezogenes Filmprojekt. Wie konnte es sein, dass eine Frau, die seltenes japanisches Porzellan sammelte und mit den spirituellen Lehren Oshos und Yoganandas vertraut war, gleichzeitig wusste, wo genau in New Jersey drei Leichen vergraben waren? Sie sprach nicht von Friedhöfen, sondern von namenlosen Gräbern sogenannter Verschollener. Hastig mit Gartenschaufeln und Plastikplanen ausgehoben. Eine der Leichen befand sich sogar ganz in der Nähe – nur ein paar Meilen entfernt hinter dem Haus ihres Neffen, das einst ihrem Vater gehört hatte, dem Großen Pietro. Es war ihr Geburtshaus. Lasst uns das Haupt neigen und beten, hatte der Priester in der alten Kirche aus Stein immer gesagt, die voll mit anzüglichen, zu fein gekleideten Heiligen war. Ja, das wollen wir tun, dachte Honey. Ihr Vater und ihr Bruder, vielleicht auch ihre Mutter hatten Erste-Klasse-Tickets in die Hölle erstanden. Nicht dass Honey an solch einen Ort geglaubt hätte, aber vorstellen konnte sie ihn sich durchaus: Sie sah die Flammen und Mistgabeln aus einem Bilderbuch ihrer Kinderjahre. Dass es sich nur um etwas Ausgedachtes handelte, tat nichts zur Sache. Die Einbildungskraft war sicherlich das Einzige, was nach dem Tod zählte. Trotz dieser lästigen Gedanken schrubbte sich Honey die Ellbogen mit einem Luffaschwamm in heftigen Kreisen gegen den Uhrzeigersinn – eine Methode, die, wie sie irgendwo gelesen hatte, von Joan Crawford stammte. Das war zweifellos symbolträchtig, ein Schlag ins Gesicht der Zeit. Honey bestätigte das. In ihrem Alter – achtzig und ein paar Jährchen – war sie durchaus berechtigt, im Kampf gegen das Vergessenwerden und den Zerfall jegliche Hollywoodarroganz einzusetzen. Als sie das Bein ausstreckte, um das heiße Wasser abzustellen, bekam sie einen Krampf im Fuß. Wie ein urgeschichtlicher Vogel krampfte sie ihre Zehen mit den lackierten Nägeln immer wieder zusammen. Es schmerzte fürchterlich. Vielleicht konnte sie Dominic dazu bewegen, ihr nach dem Abendessen die Füße zu massieren. Falls sie nicht zuvor in dieser miesen Badewanne krepierte. Honey neigte normalerweise nicht zu Selbstmitleid und machte Michael für ihre momentane Gemütsverfassung verantwortlich. Ihr elfenhafter Großneffe hatte bei ihr vorbeigeschaut. Er war jetzt Mitte zwanzig, lebte aber immer noch bei den Eltern in diesem fürchterlichen Haus. Honey kannte den Jungen kaum; sie hatte schon lange keinen Kontakt mehr zu ihren Verwandten. Selbst nachdem sie zurück nach New Jersey gezogen war, hatte sie sich eigentlich kaum darum bemüht, sie zu sehen. Umgekehrt hatte auch ihr Großneffe sie nur einmal besucht, als er knapp bei Kasse war. Und warum war er wohl heute zu ihr gekommen? Ja, ganz genau! »Ich weiß, dass du Geld hast, Tante Honey.«Er setzte seine niedlichen Grübchen schamlos ein. Der Junge sah unverschämt gut aus – seine Schönheit war entwaffnend.»Ich gehöre doch zur Familie«, flehte er irgendwann und versuchte damit, ihr italienisches Herz zu bestechen. Meistens flirtete er, hatte sich dann jedoch plötzlich aufgeregt und beim Auf- und Abgehen einen Beistelltisch umgestoßen. Eine mit Schlangen und Blumen dekorierte Porzellanvase war zu Boden gefallen und zerbrochen. Honey hatte sie vor Jahren in Paris gekauft. Beide starrten sie ein paar Augenblicke lang auf die Trümmer, während Honey auf eine Entschuldigung wartete. Doch Michael hatte sich nicht entschuldigt.»Die ist wahrscheinlich mehr wert als das bisschen Geld, um das ich dich bitte. Ein paar Hundert Dollar sind doch nichts für dich.« »Da hast du vollkommen recht«, hatte sie erwidert.»Ich stehe nur vor dem Problem, dass ich nicht weiß, was du mit dem Geld machst.«Honey befürchtete, dass er es verspielte oder für Drogen ausgab. Sie erklärte ihm, sie spüre Laster besser auf als ein Border Collie. Woraufhin der Junge sich als schlauer Verhandlungspartner erwies.»Du warst keine Heilige, Tante Honey. Ich hab einiges über dich gehört.« »Ach, tatsächlich? Erzähl.« Doch Michael sagte keinen Ton und zuckte nur leicht die Schultern. Er war sogar ein wenig rot geworden, was bewies, dass er ein Mensch war. Nach einer Weile erklärte er dann, dass sie einander mehr ähnelten, als ihr bewusst sei, doch da hatte Honey bereits kapituliert.»Gut, aber sag deinem Vater nichts davon.« Sie holte ihr Scheckheft aus dem Schlafzimmer und musste unwillkürlich lächeln. Denn es stimmte ja: Sie war keine Heilige. In ihrer Jugend hatte sie die Grenzen des Erlaubten gelegentlich überschritten. Auf dem Bryn Mawr College hatte sie Drogen probiert, vor allem Psychedelika. Und in den Siebzigerjahren hatte sie natürlich ein bisschen Kokain geschnupft. So wie alle. Selbstverständlich hatte sie das ihrem Großneffen nicht erzählt. Sie wollte ihm nur das Geld aushändigen und ihn dann hinausbugsieren. Es stimmte ja, sie hatte jede Menge Geld – das ihr ganz allein gehörte. Ihre Familie hatte ihr nichts hinterlassen. »Einen Scheck?«, sagte er, als sie ins Wohnzimmer zurückkam.»Was soll ich denn damit? Heute ist Sonntag.« »Können deine Gelüste nicht einen Tag warten?«, fragte sie.»Übrigens habe ich so viel Geld gar nicht im Haus.«Sie konnte lügen wie gedruckt. »Dann gib mir weniger – alles, was du im Haus hast.« Du liebe Güte, das klang wie bei einem Überfall. Honey war in manchen Punkten altmodisch – es irritierte sie, wenn jemand nicht ›bitte‹ sagte. ›Gib mir bitte, was du im Haus hast.‹ Nur das, dann hätte sie ihm das Bargeld ohne Weiteres ausgehändigt. Michael rannte schon wieder nervös durchs Zimmer und zerrte an einem Wedel seines zottig zerzausten Haars – das blonder war, als Honey es in Erinnerung hatte, und fast so lang wie bei einem Mädchen. Während er auf und ab ging, musterte sie ihn. Er war nicht sehr sauber und die Müdigkeitsschatten um seine Augen waren so dunkel, dass es aussah, als hätte er sich geschminkt. Die Magerkeit seiner Gliedmaßen und die wüste Stampferei zeigten, dass etwas nicht stimmte. Sein zerrissenes Hemd ging ihm bis zu den Knien und wirkte mehr wie ein Kleid. »Was ist denn los, Michael? Wo liegt das Problem?« »Nichts ist los.«Er stopfte den Scheck in die Hosentasche. »Warum setzt du dich nicht ein Weilchen zu mir? Dann können wir reden.« Doch allem Anschein nach entlockte ihm dieser Vorschlag nur ein spöttisches Lächeln. Er nahm ein gerahmtes Foto von Honey als junger Frau in die Hand und sagte:»Na, du warst ja ein echtes Prachtexemplar«– was ihr das Gefühl gab, er mache sich über sie lustig. Dennoch redete sie höflich weiter.»Ich habe deinen Vater lange nicht gesehen. Wie geht es ihm?« »Mein Vater ist ein Tier.« Honey konnte nichts dagegenhalten, sagte aber in einem Versuch taktischer Klugheit:»Das sind wir alle, mein Liebling.«Sie bot an, ihm eine Tasse Tee zu kochen, was ihm durchaus zu behagen schien. Doch dann erwähnte sie noch einmal seinen Vater und er...