E-Book, Deutsch, Band 414, 384 Seiten
Reihe: Historical Gold
London Der spanische Viscount und das Mauerblümchen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7515-3206-8
Verlag: CORA Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 414, 384 Seiten
Reihe: Historical Gold
ISBN: 978-3-7515-3206-8
Verlag: CORA Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Manch junge Dame wünscht sich nichts sehnlicher, als an der Seite eines reichen Verehrers über die Tanzfläche zu schweben. Nicht so Miss Hattie Woodchurch! Ihr innigster Herzenswunsch ist es nur, dem ganzen Trubel und vor allem ihrer schrecklich peinlichen Familie zu entfliehen. Dafür muss sie finanziell auf eigenen Beinen stehen, und so nimmt Hattie eine Stelle als Sekretärin von Mateo Vincente, dem neuen Viscount Abbot, an. Auf diese Weise hat sie sogar die Möglichkeit, ihrer schüchternen Freundin Flora zu helfen, den Viscount zu umgarnen. Wenn doch nur Hatties eigenes Herz nicht so verräterisch höherschlagen würde in seiner Nähe ...
Julia London hat sich schon als kleines Mädchen gern Geschichten ausgedacht. Später arbeitete sie zunächst für die US-Bundesregierung, sogar im Weißen Haus, kehrte aber dann zu ihren Wurzeln zurück und schrieb sich mit mehr als zwei Dutzend historischen und zeitgenössischen Romanzen auf die Bestsellerlisten von New York Times und USA Today. Sie lebt mit ihrer Familie in Austin, Texas.
Weitere Infos & Material
Das Leben ist nicht fair, nur fairer als der Tod, das ist alles.
William Goldman: „Die Brautprinzessin“
1. KAPITEL
London, England
1870
In dem Frühling, als der santiavanische Herzog nach London kam, wurde es für jede Frau, unabhängig von ihrem Alter oder gesellschaftlichem Rang, äußerst ratsam, eine verlässliche Freundin zu haben, die ihr auf den Kopf zusagte, was niemand sonst ihr sagen würde.
Für Miss Harriet Woodchurch war diese Person Miss Flora Raney. Die Tochter des ehrenwerten Viscount Raney war nicht nur ihre beste Freundin, sondern in gewisser Weise auch ihre Arbeitgeberin, da ihr Vater Hattie eine bescheidene Entschädigung dafür zahlte, dass sie Flora auf deren irrlichternden Wegen durch die Stadt begleitete.
Flora führte Hattie unmissverständlich vor Augen, was diese nicht selbst imstande war zu erkennen. Etwas Schreckliches, etwas, das Hattie weder vergessen noch vergeben konnte … jedenfalls am Anfang.
Tatsächlich schlug sie es sich in den folgenden Wochen komplett aus dem Kopf. Doch an jenem speziellen Tag erschien ihr dergleichen als vollkommen unmöglich, da die Neuigkeit nicht nur per se herzzereißend war, sondern auch noch mit dem Anblick des aufsehenerregendsten Junggesellen in ganz London einherging.
Es begab sich, als Hattie, Flora und Floras älteste Freundin Queenie gemeinsam durch die Läden stöberten. Alle drei hatten zur selben Zeit die Iddesleigh-Schule für außergewöhnliche Mädchen besucht. Als Töchter aus adeligem, reichem Haus setzten sich Flora und Queenie automatisch von den anderen ab, und auch Hattie, die mit einem Stipendium angetreten war, fiel aus dem üblichen Rahmen – wenn auch auf gänzlich andere und keineswegs schmeichelhafte Art. Doch sie und Flora hatten ein Semester lang das Zimmer geteilt und sich angefreundet.
Die Frauen betraten einen Putzmacherladen, um die im Preis reduzierten Handschuhe in der großen Auslage zu begutachten. Oder vielmehr, Flora und Queenie begutachteten die Sonderangebote. Hattie hatte kein Geld übrig für Dinge wie Handschuhe, Unterröcke oder Hüte.
„Aber wie kommt es, dass du kein Geld hast?“, hatte Queenie sich erst kürzlich erkundigt. „Dein Vater besitzt das größte Unternehmen für öffentliche Verkehrsmittel in ganz London.“
Das stimmte. Mr. Hugh Woodchurch stellte den Menschenmassen, die sich tattäglich durch die Metropole bewegten, rund um die Uhr Hansom-Taxis, Clarence-Kutschen und Pferdeomnibusse zur Verfügung. Ein einträgliches Geschäft. Aber er hielt nichts davon, diesen Reichtum mit seiner Tochter zu teilen. Was sie brauchte, pflegte er zu sagen, hatte sie zu Hause. Geld für Handschuhe, Hüte und Kleidung auszugeben war vollkommen überflüssig, wenn eine junge Frau über zwei brauchbare Tageskleider, einen Hausmantel und ein Abendkleid verfügte. Seiner Meinung nach spielte es auch keine Rolle, dass besagtes Abendkleid einst ihrer Mutter gehört hatte und der Mode einer komplett anderen Epoche entsprach. Hatties Vater sagte, wenn sie mehr wollte, sollte sie gefälligst heiraten.
Hattie wollte nichts lieber als das und sehnte sich nach dem Tag, an dem sie und ihr Verlobter, Mr. Rupert Masterson, endlich die Räumlichkeiten über seinem Geschäft beziehen würden. Da ihre Verlobung jedoch noch nicht offiziell war – obwohl Rupert beabsichtigte, so schnell wie möglich bei ihrem Vater vorzusprechen –, hatte Hattie Arbeit angenommen, um sich die paar Dinge, die sie gerne hätte, leisten zu können. Und war nun stolze Besitzerin von vier ordentlichen Tageskleidern, einem zeitgemäßen Abendkleid und zwei Hausmänteln, vielen Dank auch.
Flora und Queenie kamen zu dem Schluss, dass sie dringend achtknöpfige Handschuhe aus Seide und Leinen benötigten, für den Fall, dass sie diesen Sommer zu einer Wochenendgesellschaft auf dem Land eingeladen wurden. Hattie verfügte über exakt zwei Paar Handschuhe, die ebenfalls von ihrer Mutter stammten, mit jeweils nur drei Knöpfen. Da ihr mageres Budget nicht erlaubte, sich neue zuzulegen, folgte sie den anderen beiden einfach nur durch den Laden und faltete die Modelle, die Flora und Queenie ihr, wenn sie das Interesse daran verloren, gedankenlos reichten, um sich dem nächsten Paar zu widmen.
Plötzlich kam eine Frau herein, derart ungestüm, dass sie sämtliche Türglocken zum Klirren brachte. „Mrs. Perkins!“
Die Ladeninhaberin stürzte so hastig hinter dem Vorhang hervor, der den Eingang zum Hinterzimmer verdeckte, als fürchtete sie, ihr Geschäft stünde in Flammen. „Was ist los? Was ist passiert?“
Die Frau lief zum Schaufenster, vor dem Flora und Queenie standen, und drängte sie beiseite, um nach draußen zu schauen. „Um Himmels willen!“, rief Queenie indigniert.
„Er ist hier!“
„Wer ist hier?“, wollte Queenie wissen, die sich nie scheute, Antworten einzufordern.
„Hier?“ Mrs. Perkins schnappte nach Luft und sprang dann, einer Gazelle gleich, ans Fenster. „Wo?“
Stumm deutete die Frau zur gegenüberliegenden Straßenseite. Queenie packte Floras Arm. „Sieh doch!“
„Du tust mir weh“, sagte Flora.
„Wirst du ausnahmsweise mal tun, was ich dir sage?“, verlangte Queenie. „Sieh dir das an!“
Verwirrt starrte Hattie auf die vier Damen im Schaufenster, die sich emsig vorbeugten und über die ausgelegten Handschuhe hinweg spähten. „Du liebe Zeit. Du liebe Zeit“, stieß Flora hervor und winkte dann hektisch nach Hattie. „Komm her, komm her, das musst du sehen!“
Es gab vor dem Fenster nicht genug Platz für alle fünf Frauen, daher stellte Hattie sich auf die Zehenspitzen, um über Floras Schulter zu schauen. „Ich kann nichts Besonderes erkennen.“
Die anderen ignorierten sie. „Wo?“, rief Mrs. Perkins noch einmal. Sie klang panisch.
Ihre Freundin zeigte nach draußen.
Hattie reckte ihren Hals, soweit es ging, erspähte aber nichts anderes als den Kurzwarenladen auf der anderen Straßenseite. Davor standen drei Gentlemen und unterhielten sich. „Meint ihr diese Herren dort?“, fragte sie und sank zu ihrer normalen Größe zusammen.
„Nein, nicht die“, erwiderte die Frau. „Den Viscount.“
Da draußen auf der Regent Street trieben sich an jedem beliebigen Tag mindestens ein Dutzend Viscounts herum. „Welchen?“
„Welchen?“, wiederholte Flora entrüstet und funkelte sie über ihre Schulter hinweg missbilligend an. „Viscount Abbott natürlich.“
„Natürlich“, murmelte Hattie. Sie kannte keinen Viscount Abbott. Und hatte auch keine Ahnung, warum die anderen Frauen sich so brennend für ihn interessierten.
„Der gleichzeitig der Herzog von Santiava ist“, fügte Queenie hinzu.
Hattie blinzelte verständnislos.
„Warum weißt du so was nie, Hattie?“, echauffierte sich Queenie. „Es ist, als ob du irgendwo in einer Höhle leben würdest.“
Sie wusste nie von solchen Dingen, weil sie in dieser Hinsicht gänzlich unbeleckt war. Hattie verkehrte nicht direkt in denselben gesellschaftlichen Kreisen wie Flora und Queenie. Sie wusste nur das, was die beiden ihr erzählten, und von diesem Viscount hatten sie ihr nichts erzählt.
Plötzlich packte Flora ihre Hand und drückte sie so fest, dass Hattie zusammenzuckte. Queenie kippte eine komplette Handschuhauslage zur Seite, um Platz zu schaffen, und die vier Frauen klebten förmlich an der Fensterscheibe. Flora zerrte Hattie mit sich.
Ein Mann kam aus dem Kurzwarengeschäft. Seinen Hut hielt er in der Hand. Er war hochgewachsen, mit sonnengebräunter Haut. Seine Garderobe saß wie angegossen und ließ keinerlei Zweifel an seiner durchtrainierten, athletischen Gestalt. Das Haar reichte ihm bis zum Kragen. Als einer der anderen Gentlemen eine Bemerkung machte, hob er den Blick und lächelte. Nur ein wenig, doch es war ein Lächeln, das durch Hattie hindurchglühte wie ein Sonnenstrahl. Dieser Gentleman war höchstwahrscheinlich der schönste Mann, den sie je im Leben gesehen hatte – elegant, kraftvoll und von erstaunlich angenehmer, liebenswerter Erscheinung.
Einen Augenblick lang sagte niemand etwas.
Dann fuhr eine Kutsche zwischen den Geschäften vor und blockierte die Aussicht auf den Kurzwarenladen. Als sie weiterrollte, waren die Gentlemen verschwunden.
Die Damen beruhigten sich wieder. Seufzend trat Queenie vom Fenster zurück. Die achtlos beiseitegeschobenen Ausstellungsstücke ließ sie liegen. Hattie sammelte die verstreuten Handschuhe zusammen und richtete sie wieder ordentlich im Fenster aus.
„Du stehst sicher ganz oben auf dieser Liste, Flora“, erklärte Queenie bestimmt.
Sie war klein und rundlich, mit weichen goldblonden Locken, die sich anmutig um ihre Schultern schmiegten. Queenie hielt sich nicht nur wie eine Königin, sondern benahm sich gelegentlich auch so. Flora war groß und schlank, mit kastanienbraunen Haaren – und definitiv hübsch, ganz gleich, welche Maßstäbe man anlegte. Wenn Hattie mit den beiden unterwegs war, fühlte sie sich oft wie die unscheinbare Cousine vom Dorf, die zu Besuch in der großen Stadt war. Ihr Haar war von stumpfem Braun, ihre Figur...




