E-Book, Deutsch, Band 2, 349 Seiten
Longworth Mord in der Rue Dumas
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8412-0592-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Provence-Krimi
E-Book, Deutsch, Band 2, 349 Seiten
Reihe: Verlaque und Bonnet ermitteln
ISBN: 978-3-8412-0592-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mary L. Longworth lebt seit 1997 in Aix-en-Provence. Sie hat für die »Washington Post«, die britische »Times«, den »Independent« und das Magazin »Bon Appétit« über die Region geschrieben. Außerdem ist sie die Verfasserin des zweisprachigen Essay-Bandes »Une Américaine en Provence«. Sie teilt ihre Zeit zwischen Aix, wo sie schreibt, und Paris, wo sie an der New York University das Schreiben lehrt. Im Aufbau Taschenbuch sind ihre Kriminalromane »Tod auf Schloss Bremont«, »Mord in der Rue Dumas«, »Tod auf dem Weingut Beauclaire«, »Mord auf der Insel Sordou«, »Mord im Maison Cézanne«, »Tod am Cours Mirabeau« und »Das Geheimnis von La Bastide Blanche« lieferbar.
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1. Kapitel
Eindruck machen
Die Freundschaft zwischen Yann Falquerho und Thierry Marchive wurde an der ganzen Universität mit Verwunderung gesehen. Die beiden wetteiferten nicht nur um dasselbe Doktorandenstipendium, sondern unterschieden sich auch nach ihrer äußeren Erscheinung und sozialen Stellung stark voneinander. Yann, blond und hochgewachsen, war Sohn geschiedener Eltern – eines Pariser Fernsehproduzenten und einer Innenarchitektin. Thierry, dunkelhaarig und untersetzt, kam aus bescheideneren Verhältnissen: Sein Vater arbeitete als Französischlehrer an einem Gymnasium in Marseille und seine nach wie vor mit ihm verheiratete Mutter als schlechtbezahlte Diätköchin in einem Krankenhaus der Stadt.
Die beiden Studenten schritten rasch aus, wobei sie laut und ohne Unterlass miteinander redeten. Beide waren das jüngste von drei Geschwistern – etwas, das sie miteinander teilten – und daher gewohnt, sich an einem lebhaften Abendbrottisch Gehör zu verschaffen. »Mach hin«, rief Yann seinem Freund über die Schulter zu. »Sonst sind die besten Happen weg, ehe wir dort ankommen.«
»Ich kann doch nichts dafür, dass ich nicht solche Storchenbeine habe wie du«, gab sein Freund zurück und suchte verzweifelt Schritt zu halten. »Wir wären längst da, wenn du nicht noch das Telefon abgenommen und ohne Ende mit der – wie hieß sie doch gleich? – gequatscht hättest.«
»Suzanne«, antwortete Yann nachdenklich. »Den Namen haben sie ihr nach dem Song gegeben.«
»Richtig ... deine Sandkastenliebe ... Die Tochter des Arztes in Carnac an der Bretagneküste, wo du mit deiner bürgerlichen Familie so idyllische Sommerferien verbracht hast.« Thierry blieb stehen, um auf der Luftgitarre ganz passabel Leonard Cohen nachzumachen.
»Und sie gibt Orangen dir und Tee,
der von weit her aus China kommt ...«,
sang er, hüpfte von dem schmalen Bürgersteig herunter und lief mitten auf der Straße.
»Hör auf, Blödmann«, rief Yann lachend. »Ja, idyllisch waren diese Sommer wirklich. So sehr, dass meine Eltern sich getrennt haben. Vielleicht lag es ja am Regen im August ... Da war kein Entkommen aus unserem perfekt eingerichteten Strandhaus.« Das war eines der Dinge, die Yann an Thierry mochte: Der ließ sich von keinem noch so perfekt eingerichteten Strandhaus beeindrucken, und wenn man es ihm auf einem silbernen Tablett servierte. Beim Weitergehen dachte Yann mit gerunzelter Stirn an seine Mutter und seinen Vater mit ihren neuen Partnern, von denen ihn keiner interessierte.
Inzwischen hatten die beiden jungen Männer eine mit reichem Schnitzwerk verzierte Haustür an dem Place des Quatre Dauphins erreicht und drückten den Klingelknopf, der in ein blankpoliertes Messingschild mit dem Namen »Professor Moutte« eingelassen war. Der Türöffner summte, und das Schloss klickte. Thierry hielt seinem Freund die Tür auf. »Nach Ihnen, Monsieur!« Er hatte bemerkt, dass Yann plötzlich still geworden war, wie immer, wenn es um seine Eltern ging. Dann bemühte sich Thierry stets, das Thema zu wechseln. Er stellte sich Familie Falquerho vor, wie sie in einem Wohnzimmer hockte, dessen schneeweißes Mobiliar überhaupt nicht in ein Ferienhaus passte, und schweigend zusah, wie graue Wellen an den Strand rollten. Er musste Yann auf andere Gedanken bringen. »Du denkst immer nur ans Essen. Und natürlich an Suzanne.« Yann musste lachen und trat in das kalte, feuchte Vestibül des großen Wohnhauses. Er freute sich auf das kostenlose Essen an diesem Abend und dachte an Suzanne, die er in den Weihnachtsferien besuchen wollte.
Thierry hatte seit seinem Eintritt ins Gymnasium auf sein Gewicht achten müssen und dort nie eine Freundin gehabt. Seine erste intime Begegnung mit einer Frau hatte erst im zweiten Jahr an der Universität stattgefunden. Und was für eine Begegnung! Ulla war eine schwedische Austauschstudentin – ein Klischee, das selbst Thierry kannte, der noch nie aus Frankreich herausgekommen war. Er lächelte in sich hinein, als er die geräumige Steintreppe zu Professor Mouttes Wohnung im dritten Stock hinaufstieg. Aber das Bild von Ulla – nackt in seinem Bett – verblasste, während er sich in dem Bau aus dem 17. Jahrhundert umsah. Vor allem bestaunte er die Eingangshalle, die so ganz anders war als bei seinen Eltern und auch dort, wo er jetzt mit Yann hauste. Ihre Treppe aus rotem Backstein war so schmal, dass man einen Sessel oder selbst ein Fahrrad nur mit größter Mühe in ihre Bleibe befördern konnte. In diesem aristokratischen Bauwerk jedoch, das drei elegante Appartements beherbergte, genoss er jede Stufe, die reiche Bürger von Aix und deren Diener über die Jahrhunderte ausgetreten hatten.
»Ich rieche schon den Duft der Vorspeisen«, bemerkte Yann und nahm zwei Stufen auf einmal. »Blätterteigpastete, Minipizza, vielleicht eine gemischte Aufschnittplatte und ein, zwei Briekäse aus dem Supermarkt. Warum gibt es bei betuchten Leuten oft so billiges Zeug zu essen?« Er blieb stehen und blickte zu seinem Freund hinunter, der gerade aus einem Tagtraum zu erwachen schien. »Hörst du mir überhaupt zu? Ich wette, der Wein ist auch aus dem Tetrapak.« Er schaute zu, wie sein Freund seinen breiten Fuß in eine Kuhle der Steinstufen setzte.
»Bettler dürfen nicht wählerisch sein«, gab Thierry zurück. »Ich kenne mich sowieso nur mit Fasswein aus.« Yann musste lachen. Dann klopfte er an die Tür. Seinem Marseiller Freund zugewandt, der grade schnaufend die letzten Stufen nahm, sagte er rasch: »Ich schwöre, wenn ich erst einmal eine Stelle habe, hoffentlich bald, dann kommt mir kein Käse oder Wein aus dem Supermarkt auf den Tisch.«
Thierry nickte amüsiert und brummte: »Ist notiert.« Beim Lehrergehalt seines Vaters hatte sich seine Familie nur industriell hergestellten Käse leisten können. Dank seines Pariser Freundes wusste er aber nun, wie handgemachter Käse schmeckte, und hoffte insgeheim, auch er werde einmal in der Lage sein, Essen und überhaupt alles in bester Qualität zu kaufen. Die letzten Osterferien, die er mit Yann im Pariser Penthouse von dessen Vater mit Blick auf den Invalidendom verbracht hatte, waren ein Höhepunkt in seinem vierundzwanzigjährigen Leben gewesen. Noch nie hatte er in so vielen feinen Restaurants gegessen, wo Vater und Sohn Falquerho stets den besten Tisch erhielten und mit Besitzern, Kellnern und Köchen engbefreundet zu sein schienen. Monsieur Falquerho imponierte Thierry enorm, denn obwohl er eine Menge Geld und viele berühmte Freunde hatte, bekam Yann von ihm keinen Euro mehr als seine Mitstudenten.
Die Wohnungstür öffnete eine hochgewachsene, schöne Frau Mitte vierzig mit dichtem schwarzen Haar und großen braunen Augen. Erfreut sah Thierry, dass sie das tiefausgeschnittene schwarze Wollkleid trug, in dem sie ihm besonders gefiel, denn es brachte nicht nur ihre perfekte olivfarbene Haut, sondern auch ihren üppigen Busen zur Geltung. »Das grausige Paar«, sagte sie lachend in Anspielung auf den bekannten Horrorfilm The gruesome twosome. »Herein mit euch! Ihr kommt genau richtig!«, raunte sie ihnen mit einem Augenzwinkern zu. »Es ist serviert!«
»Danke, Professor Leonetti!«, antworteten sie wie aus einem Munde. Zwar schätzten Thierry und Yann die Gelehrsamkeit des Gastgebers, Dr. Georges Moutte, aber die lebhaften, humorvollen Vorlesungen der jüngeren Dr. Annie Leonetti waren ihnen eindeutig lieber. Doch wenn es um das Dumas-Stipendium ging, hatte Dr. Moutte das letzte Wort. Das war der Grund, weshalb sie diesmal auf ihr gewohntes Freitagabendvergnügen verzichtet hatten, in den Bars von Aix-en-Provence mit amerikanischen Touristinnen anzubändeln, und stattdessen hier mit ihren Professoren vorliebnahmen.
Dr. Leonetti führte die Studenten dem Hausherrn zu und zog sich dann zurück. »Pass auf, dass du nicht wieder alles rundherum mit offenem Mund anglotzt«, raunte Yann seinem Freund zu. Das ließ Thierry nicht auf sich sitzen. »Solange du nicht nach jedem Satz des Dekans ›in der Tat‹ flötest.«
»Bonsoir, Professor Moutte«, ließ Yann hören, als er den älteren Herrn mit dem weißen Haar begrüßte.
»Guten Abend, Herr Doktor«, sagte Thierry und drückte seinerseits dessen dürre, von Altersflecken bedeckte Hand. »Danke für die Einladung.«
»Keine Ursache, keine Ursache«, kam es von Dr. Moutte. »Meine Lehrer haben das Gleiche getan, als ich in Ihrem Alter war. Aber Sie haben ja auch einen guten Grund, heute hier zu erscheinen, nicht wahr?« Er kicherte über seinen eigenen Witz. Thierry konnte kaum darüber lächeln, dass Dr. Moutte in dieser Weise auf das Dumas-Stipendium anspielte. Auch Yann war etwas betreten, wollte sich aber nichts anmerken lassen. Er wünschte sich das Stipendium sehr (das ihm lediglich den baldigen Übergang zu einem Betriebswirtschaftsstudium erleichtern sollte) und sah keinen Grund, das zu verhehlen.
»Hmm ... in der Tat«, sagte Yann und musste nun doch grinsen, als er bemerkte, dass Thierry die Augen verdrehte und zur Decke schaute, wo ihn die in kräftigen Farben gemalten mythologischen Figuren zu interessieren schienen. Die schwebenden Götter und Göttinnen waren von Blumen- und Tiermotiven in feinem Stuck umgeben. Er wollte Yann danach fragen, denn der kam nicht nur aus einer reichen Familie, sondern liebte auch die Kunst und war nur zu bereit, das bei jeder Gelegenheit unter Beweis zu stellen. Aber Yann blickte über Dr. Mouttes Schulter hinweg zu dem langen Tisch, der sich unter der Last der Speisen bog. Thierry sah, dass der Freund mit seiner Vermutung recht gehabt hatte. Dort gab es...