E-Book, Deutsch, 619 Seiten
Loth Europas Einigung
3. Auflage 2025
ISBN: 978-3-593-45924-0
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine unvollendete Geschichte
E-Book, Deutsch, 619 Seiten
ISBN: 978-3-593-45924-0
Verlag: Campus Verlag GmbH
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Wilfried Loth ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.
Autoren/Hrsg.
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1.Gründerjahre 1948–1957
Der Druck, den die europäische Bewegung bis zum Frühjahr 1948 entwickelte, war vor allem der französischen Regierung sehr willkommen. Hier hatte die Überzeugung, dass ein westeuropäischer Zusammenschluss sowohl für den Wiederaufbau als auch zur Lösung des Deutschlandproblems unabdingbar sei, unterdessen erheblich an Boden gewonnen. »Mein ganzes Denken und alle meine Beobachtungen«, schrieb etwa der Chef des französischen Planungskommissariats Jean Monnet am 18. April 1948 von Washington aus an Ministerpräsident Robert Schuman, »führen mich zu dem Schluss, der jetzt zu einer tiefen Überzeugung geworden ist: Die Anstrengung der Länder Westeuropas, sich den Umständen, der Gefahr, die uns bedroht und der amerikanischen Bemühung gewachsen zu zeigen, muss zu einer wirklichen europäischen Bemühung werden, die allein durch die Schaffung einer Föderation des Westens möglich werden wird. Ich weiß um all die Schwierigkeiten, die sich aus einer solchen Perspektive ergeben, aber ich bin davon überzeugt, dass wir uns nur mit einer solchen Anstrengung retten können.«1 Die Verwirklichung der Föderation schien umso dringlicher, als die Gründung eines westdeutschen Staates, die von der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz am 7. Juni 1948 beschlossen worden war, die Franzosen unter Zugzwang setzte: Wenn die westeuropäische Einigung jetzt nicht rasch supranationale Qualität erreichte, drohten die Deutschen wieder ihre traditionelle Großmachtpolitik aufzunehmen. Vielleicht würden sie sich sogar mit der Sowjetunion verbünden, die über den Schlüssel zur deutschen Einheit verfügte. Noch sei die Gelegenheit zur europäischen Einbindung der Deutschen da, notierte Jean Laloy, politischer Berater beim französischen Besatzungskommandanten in Deutschland am 30. August 1948, aber: »Man muss sie schnell ergreifen; in einem Jahr wird es schon zu spät sein.«2
Das Ringen um den Europarat
Auf Drängen Ramadiers und anderer Regierungsmitglieder entschloss sich Außenminister Georges Bidault, das Einigungsprojekt in jener Weise voranzubringen, wie es der Haager Kongress vorgezeichnet hatte. Während der zweiten Sitzung des Konsultativrats des Brüsseler Pakts verlangte er am 19. Juli 1948 die Einberufung einer »Europäischen Parlamentarischen Versammlung« zum »Meinungsaustausch« über die Probleme eines europäischen Zusammenschlusses und die Vorbereitung einer Wirtschafts- und Währungsunion der Fünf. Die Versammlung sollte, wie in einer Instruktion des Quai d’Orsay an den französischen Botschafter in London erläutert wurde, zunächst konsultativen Charakter haben, nach einer Verständigung über das Europa-Projekt aber bald eigene Entscheidungsvollmachten erhalten und damit »den Kern einer föderativen Organisation Europas bilden«.3 Bidault selbst glaubte zwar nicht recht daran, dass sich ein solch ehrgeiziges Projekt verwirklichen ließe; mit Rücksicht auf die Kritik an den Londoner Deutschland-Vereinbarungen, die bei seinen christdemokratischen Parteifreunden laut geworden war, hielt er es aber für angebracht, sich jetzt an die Spitze der europäischen Bewegung zu stellen.4
Der britische Außenminister Ernest Bevin, der Bidaults Ankündigungen zunächst nicht ernst genommen hatte, war über den französischen Vorstoß alles andere als begeistert: Dem ehemaligen Chef der britischen Transportarbeiter-Gewerkschaft schwebte zwar, anders als seinen Genossen an der Spitze der Labour Party, durchaus die Schaffung einer »engen Assoziation« zwischen dem Vereinigten Königreich und den Ländern »des atlantischen und Mittelmeer-Ufers Europas« vor, die der wirtschaftlichen Sanierung aller Beteiligten ebenso wie ihrer Sicherheit dienen sollte.5 Mit dieser Perspektive hatte er die Bildung des Brüsseler Paktes mit Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg betrieben, der am 17. März 1948 unterzeichnet worden war und eine automatische Beistandsverpflichtung im Falle eines Angriffs einer dritten Macht in Europa enthielt. Der Ausbau dieses Paktes zu einer »Europäischen Union« sollte jedoch seiner Meinung nach in der Hand des Konsultativrats der Paktmitglieder bleiben, der zu diesem Zweck eingerichtet worden war. Eine Parlamentarier-Versammlung erschien ihm wie »eine Pandora-Büchse voller trojanischer Pferde«.6 Sie drohte demagogisch überzogene Einigungsforderungen zu produzieren, die in der britischen Regierung nicht durchsetzbar waren, und damit die Einbindung der Westeuropäer in eine von Großbritannien geführte Ordnung zu gefährden. Außerdem bot sie natürlich Churchill ein hervorragendes Forum, von dem aus er seine Attacken auf die europapolitische Untätigkeit der Labour-Regierung noch verstärken konnte. Ungehalten über das Ausmaß an Unverantwortlichkeit, das Bidault an den Tag gelegt hatte, verlangte Bevin darum zunächst einmal genauere Vorschläge, bevor er sich auf eine Diskussion des Projekts einließ. Da Bidault schlecht vorbereitet war, stimmte Paul-Henri Spaak als belgischer Außenminister der Forderung nach Vertagung zu: Nur so ließ sich verhindern, dass das Versammlungsprojekt sofort am britischen Widerstand scheiterte.
Wenn Bevin geglaubt haben sollte, mit der Vertagung sei das Projekt erledigt, wurde er rasch eines Besseren belehrt. Bereits am 29. Juli erklärte Spaak im belgischen Parlament seine Bereitschaft, das Vorhaben den verbündeten Regierungen zu unterbreiten, wenn das Koordinierungskomitee der Europa-Verbände dazu präzisere Vorschläge über Zusammensetzung und Aufgabenstellung mache. Wenige Tage später signalisierte Ramadier den Komitee-Führern Sandys und Retinger, dass die neue französische Regierung, der er selbst als Staatsminister angehörte, ebenso Blum und Teitgen als stellvertretende Ministerpräsidenten und Reynaud als Finanzminister, ebenfalls zu einem solchen Schritt bereit sei. Als Vorsitzender des Institutionellen Ausschusses, den das Komitee am 29. Mai eingerichtet hatte, arbeitete er daraufhin selbst zusammen mit Sandys und anderen einen Vorschlag aus, der die kurzfristige Einberufung einer Vorbereitungskonferenz aus 75 Vertretern vorsah, die von den Parlamenten der fünf Brüsseler Paktstaaten entsandt werden sollten. Am 19. August übermittelte das Exekutivkomitee diesen Vorschlag an alle OEEC-Regierungen; am 2. September verlangten die französische und die belgische Regierung gemeinsam, ihn im Ständigen Ausschuss des Brüsseler Paktes genau zu studieren, um bei der nächsten Sitzung des Konsultativrats darüber befinden zu können.
Bevin suchte zunächst auch diesen Vorstoß mit dilatorischer Taktik zu parieren: Im Ständigen Ausschuss ließ er einen Fragebogen vorlegen, der genaue Auskünfte über die Kompetenzen der Europäischen Versammlung, ihr Verhältnis zu den nationalen Regierungen, den übrigen internationalen Organisationen und den Übersee-Gebieten verlangte. Nachdem die französische Seite präzisiert hatte, die Versammlung solle zunächst nur Vorschläge ausarbeiten, über die dann die Regierungen zu befinden hätten, präsentierte er Schuman (der Bidault am 24. Juli als Außenminister abgelöst hatte) am 2. Oktober einen Gegenvorschlag: die Idee eines »Europarats«, der einmal im Jahr zusammentreten sollte, um der Öffentlichkeit die Intensität der westeuropäischen Kooperation vor Augen zu führen. Da es zu keiner weiteren Annäherung der Standpunkte kam, konnte der Konsultativrat am 25. Oktober nur einen sehr vordergründigen Kompromiss beschließen: Ein 18-köpfiges Studienkomitee wurde eingesetzt, das bis zur nächsten Sitzung des Rates über die beiden Vorschläge beraten sollte.
In diesem Studienkomitee, das seine Arbeit am 26. November aufnahm, prallten die gegensätzlichen Standpunkte erneut aufeinander. Während die Franzosen, um von der Idee der repräsentativen Vorbereitungskonferenz wenigstens noch etwas zu retten, hochrangige Europapolitiker entsandten (Herriot, Reynaud, de Menthon und Blum, der dann erkrankte und durch den SFIO-Generalsekretär Guy Mollet ersetzt wurde), stellten die Briten den dezidierten Europa-Gegner Hugh Dalton an die Spitze ihrer Delegation und schickten ansonsten nur Beamte. Ein Unterausschuss erarbeitete schließlich bis zum 16. Dezember einen Kompromissvorschlag, ...