Lothar Der Engel mit der Posaune
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-552-05785-2
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman eines Hauses
E-Book, Deutsch, 544 Seiten
ISBN: 978-3-552-05785-2
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wien, Innere Stadt: Über dem Eingang des Hauses Seilerstätte 10 prangt ein Engel aus Stein, der die Posaune bläst. Im Haus lebt die weitverzweigte Klavierbauerfamilie Alt, deren Aufstieg und Untergang in einem Generationen umfassenden Bilderbogen erzählt wird. Das Zentrum bildet Henriette Alt, mit zwanzig Jahren Geliebte des Kronprinzen Rudolf, mit siebzig Opfer von Hitlers Gestapo. Inmitten von Katastrophen und Familienintrigen ist sie Sinnbild von Endzeit und Hoffnung. Am Schicksal von Henriette und ihrer Familie zeichnet Ernst Lothar das epochale Porträt des untergehenden Österreich – vom Selbstmord des Kronprinzen in Mayerling bis zum „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland.
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1
PRATERFAHRT
Die Räder des Fiakers rollten auf dem Boden der Prater-Hauptallee. Man hörte nichts als den Hufschlag der Pferde im Trab. Weich federte das offene Coupé, der Kutscher brauchte nur mit der Zunge zu schnalzen oder die Peitschenschnur über den Mähnen der beiden Rappen zu wirbeln, und das Tempo blieb schnell. Sie liebte das schnelle Fahren – es erhöhte das Lebensgefühl, alles zu überholen, Fußgänger und Wagen. Zu dieser Stunde gab es allerdings wenige Spaziergänger und noch weniger Wagen, man war fast allein mit den mächtigen Kastanienbäumen, die beiderseits der breiten, geraden Fahrbahn rosa und weiße Kerzen aufgesteckt hatten. Die Allee entlang, vom Praterstern zum Lusthaus, fuhr man durch ihr Schimmern. Die Luft roch nach Mai. Veilchen, wild in den nahen Auen wachsend, gaben ihr Süße. Wind, der von der Donau kam, ließ ihre Frische eine Liebkosung sein. Er sah sie mit dem anhimmelnden Blick an, der sie irritierte. »Schön die Kastanien?«, fragte sie daher. »Bist du abergläubisch, Hetti?« »Ich? Rasend. Warum?« »Das Ganze ist natürlich ein Unsinn. Aber wie ich heut’ dort g’sessen bin und sozusagen unsere Vorgeschichte g’lesen hab’ –« Er wusste nicht, wie er es ihr klarmachen sollte. Dann fand er etwas, das sich zumindest erzählen ließ, obwohl es nicht eigentlich das war, was ihn beschäftigte. »Es geht mir nicht aus dem Kopf, dass der Mozart, wie er bei der Einweihung von unsrem Haus die ›Zauberflöte‹ vorg’spielt hat, schon todkrank war. Paar Wochen später ist er gestorben.« »So?«, sagte sie, woanders mit ihren Gedanken. »Ah, lächerlich«, antwortete er seinen eigenen. »Was hast du heut’ den ganzen Tag g’macht?« Er hatte ihre Hand genommen. Wie ein Soldat mit seinem Mädchen, fand sie. »Nichts Besonderes. Erst war ich bei der Modistin, dann hab’ ich den Papa in die Herrengasse begleitet. Heut’ sind Staatsprüfungen.« »Dann hast du heut’ länger Zeit?« »Bis neun.« »Fein!« Die Pferde flogen. Beim Lusthaus, einem Pavillon für Pärchen, hielt der Kutscher, ließ seine Fahrgäste aussteigen – das gehörte zur Praterfahrt. Man fuhr zum Lusthaus und ließ den Wagen dann im Schritt folgen, während man bis zum »Zweiten Rondeau«, einem schattigen Rundplatz unter Kastanien, promenierte. »Schaust wieder entzückend aus!«, sagte er bewundernd. In ihrer Gegenwart verlor er seine Natürlichkeit, als hemme ihn das Bewusstsein seiner Erscheinung und als trachte er, durch konventionelle Ritterlichkeit zu ersetzen, was ihm an persönlichem Charme fehlte. Dass seine Schmeicheleien banal klangen, nahm er in Kauf. Sie sah ihn an. Nicht einmal gut angezogen war er! Ein einzelner Überzieher mit so viel Falten! Wenn man ihn verglich – ah, lieber nicht! Eines sprach trotzdem für ihn: Man konnte durch ihn schauen wie durch Glas, Trübes gab es da nichts. Auch nichts Vorgetäuschtes. Er würde einen nicht plötzlich im Stich lassen! Der nicht! »Gut, dass ich wenigstens dir gefall’«, antwortete sie. Er hielt es für ermutigend genug, den Arm um sie zu legen. »Wirst du nie lernen, dass es ungeschriebene Gesetze gibt? Man sitzt nicht Hand in Hand im offenen Wagen, und man geht nicht bras dessus, bras dessous auf der Straße!« »Woher weißt du das?«, erkundigte er sich sachlich. »Ich hab’ mich erkundigt«, antwortete sie lachend. »Du glaubst an die ungeschriebenen Gesetze?« »Ich halt’ sie sogar.« »So? Und mit den geschriebenen – wie steht’s damit? Man hat nämlich auch mir etwas erzählt.« Da er so leicht zu durchschauen war, sah sie sofort, dass hinter dieser beiläufigen Bemerkung ein Vorwurf lag. Sie zögerte, bevor sie fragte: »Was hat man dir erzählt?« Dabei raffte sie den Rock ihres dunkelblauen Samtkostüms, obwohl er nicht schleppte. Er genoss es sichtlich, die Oberhand zu haben; das kam zwischen ihnen selten vor. »Aha! Das möchtst gern wissen, was?« »Nicht die Spur!« »Dann sag’ ich’s dir nicht!« »Wie du willst.« »Also bitte. Dass du sehr verliebt warst«, erklärte er. In ihrem Gesicht veränderte sich nichts. Es war von einer Faszination, die auf den ersten Blick anzog. Tiefliegende schwarze Augen (merkwürdig prüfend unter langen Wimpern), sehr weiß leuchtende Haut unter weichem, dunklem Haar, der Mund sinnlich, trotzdem keusch, lachlustig, im nächsten Atemzug streng – Gegensätze. Ihre Lieblichkeit sprang zuerst in die Augen, die Gegensätze kamen dann. Wie viel weiß er?, überlegte sie. Er kann nichts wissen, sonst benähm’ er sich anders. »Steht das in der Vorgeschichte eures Hauses?«, gelang es ihr, unbefangen zu fragen. Sie lachte sogar dabei. Das oder etwas anderes brachte ihn auch zum Lachen. Er schaute sie von der Seite an, mehr sarkastisch als anhimmelnd. »Also du warst in den Kronprinzen verliebt, Hetti?« Dumm, rasend ungeschickt, jetzt an dem Veilchenstrauß zu riechen, den er ihr gebracht hatte. Trotzdem tat sie es. »Wer hat dir denn so was eingeredet?«, fragte sie, vernahm die Erschrockenheit der paar Worte. Er hörte sie anscheinend nicht. »Warum denn: Der Rudolf lauft ja den Weibern nach wie verrückt. Und du bist ein Snob. Pardon!« Seine gute Laune hatte nicht gelitten. Gottlob. »Wer hat dir das von mir erzählt?« Sie musste unbedingt wissen, woran sie war! »Jemand.« »Wann?« »Irgendwann. Ich weiß nicht mehr. Vor paar Wochen.« »Da fragst du mich erst heut’?« »Ja.« »So lang’ hat’s dich nicht interessiert?« »Interessiert schon. Ich hab’ mir nur gedacht, ich heb’s mir für den richtigen Moment auf. Bei den ung’schriebenen Gesetzen ist es mir eing’fallen. Übrigens schon bei den Dokumenten im Grundbuch. Also – ja oder nein? Stimmt’s?« Er war stehen geblieben. Sie ging weiter, ihr Herz schlug so schnell, dass sie Atem holen musste. »Natürlich nicht! Glaubst du vielleicht, ein Fräulein Stein hätt’ Chancen beim Kronprinzen?« »Es wär’ genug, wenn er Chancen bei ihr g’habt hätt’. Hat er?« Er wurde dringender. »Jetzt will ich unbedingt wissen, wer der Idiot war, der dir den Blödsinn eingeredet hat! Oder ist das ein Geheimnis?« »Absolut nicht! Der Otto Eberhard. Du weißt ja, Wiener Staatsanwälte haben Konfidenten, wenn es sich um Mitglieder des Kaiserhauses handelt.« »Ich lass’ deinen Bruder schön grüßen. Sag ihm, dass er miserable Konfidenten hat! An der G’schicht’ ist kein wahres Wort!« Er hatte sie die ganze Zeit beobachtet. »Merkst denn nicht, dass ich dich nur aufzieh’?«, sagte er schließlich. Das merkte sie keineswegs. Möglich, dass es nicht sein voller Ernst war. Aber Spaß war es nicht, darauf hätte sie geschworen! »Du glaubst, das hätt’ ich dir nicht erzählt – schon um mich interessant zu machen?« »Auf die Idee wär’ ich faktisch nicht gekommen!« Wieder sah er sie von der Seite an. Wieder lachte er. »Wo wollen wir essen? Im ›Dritten Kaffeehaus‹ oder beim ›Braunen Hirschen‹?« Als sie an einem der runden Tische des »Dritten Kaffeehauses« Platz genommen hatten und die Gaslampen sein Gesicht beleuchteten, legte sie die Hand auf seinen Arm. »Also gut, Franz. Eine Zeit lang hab’ ich ihn ang’schwärmt.« Er hatte die Speisekarte studiert. Das mit Tinte beschriebene lange Blatt hinlegend, antwortete er: »Siehst du! Genau das hab’ ich dem Otto Eberhard auch g’sagt! Möglich, dass sie ihn ang’schwärmt hat wie die Backfische auf der Burgtheatergalerie den Sonnenthal! Willst Backhendl oder Wiener Schnitzel?« »Den Sonnenthal hab’ ich auch ang’schwärmt. Das heißt, den schwärm’ ich noch immer an! Backhendl.« »Und den Kronprinzen nicht mehr?« Mit unwiderstehlicher Treuherzigkeit schüttelte sie den Kopf, auf dem ein Samtbarett mit blau glitzernden Flügeln saß. »Erdbeer- oder Waldmeisterbowle? Und Krebse natürlich. Wo hast ihn eigentlich kenneng’lernt?« »Waldmeister, bitte. In einer Gesellschaft beim Chefredakteur Szeps, zu der mich der Papa mitg’nommen hat.« Er wollte etwas sagen, doch war der Kellner an den Tisch getreten, akkurat gab Franz ihm an, was er wünschte. »Wo der Kronprinz überall hingeht!«, bemerkte er, als der Mann sich entfernt hatte. »Habts ihr zusammen g’sprochen?« »Viel.« »War’s interessant?« »Sehr.« »Hat er dir den Hof g’macht?« »Eher ja.« »Hat er dich geküsst?« »Bist du wahnsinnig! Bei einem Diner, wo der Papa dabei war!« Es klang absolut überzeugend. »Es muss ja nicht beim Diner g’wesen sein«, sagte er und lachte. Sie atmete auf. Kein Zweifel, jetzt glaubte er ihr. Als die Bowle kam, schöpfte er zwei Gläser voll, in denen die Blättchen des Waldmeisterkrautes dufteten. »Prosit!«, sagte er, ihr sein Glas entgegenhaltend. Sie stieß mit ihm an. »Beichte zu Ende?« Sie hatte auf einen Zug ausgetrunken. Er nickte. »Absolviert?« »Einen Rosenkranz.« »Danke, Hochwürden.« »Und einen Kuss!« »Ungeschriebene Gesetze!« »Pfeif’ drauf!« »Aber ich nicht.« »Aha! Du bist halt für das spanische Zeremoniell!« Da bot sie ihm für eine Sekunde die Lippen. In dem offenen Pavillon an der Stirnseite des Gartens hatte Blechmusik begonnen. Die Militärkapelle des Wiener Hausregiments »Hoch- und Deutschmeister Nr. 4« führte sie aus, die blau Uniformierten saßen steif hinter Trompeten, Tschinellen und Trommeln, von einem Kapellmeister dirigiert, der die linke Hand mit gespreiztem Ringfinger in der Hüfte hielt. Die...