Lottmann | Happy End | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 436 Seiten

Lottmann Happy End


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-942989-91-6
Verlag: Haffmans & Tolkemitt
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 436 Seiten

ISBN: 978-3-942989-91-6
Verlag: Haffmans & Tolkemitt
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Johannes Lohmer hat es geschafft. Jahrzehntelang hat er als Schriftsteller um Anerkennung gekämpft, jetzt ist er endlich im Literaturbetrieb angekommen: Die Leserschaft liebt ihn, das Feuilleton singt sein Lob. Zu allem Überfluss findet er in Wien auch noch die Frau seines Lebens. Doch das Glück ist der Tod jedes ernsthaften Schriftstellers, das weiß Lohmer nur zu gut. Er würde liebend gern aufs Schreiben verzichten, wenn es nicht einen Ruf zu wahren gälte - vor Kollegen und Journalisten, vor dem Hausverlag und nicht zuletzt vor der Ehefrau. So beschließt Lohmer, den Schein des Schriftstellers zu wahren und macht sich daran, aufs Geratewohl einen Text in den Computer zu hacken. Was entsteht, ist ein grandios komischer Monolog wider Willen - über alles und nichts, über das Leben, die Liebe und die Literatur - sowie über seine verflixte Aufgabe, nebenbei einen würdigen Nachfolge-Preisträger für den renommierten Wolfgang-Koeppen-Preis zu bestimmen, was sich als schwieriger herausstellt als zunächst gedacht.

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Meine Frau und ich fuhren ins Hotel Kronprinz und sahen zu zweit das Fußballspiel. In der Halbzeit gingen wir in die Vier-Sterne-Hotel-Sauna, dann in den Ruheraum, und schließlich sahen wir im Zimmer wieder das Fußballspiel, nun in der Verlängerung befindlich. Nach dem Elfmeterschießen schlief ich ein, meine Frau bereits früher. Tags darauf brachte uns ein Eurocity zum Ostseebad Binz, das auf der Insel Rügen lag. Das Wetter wurde von Tag zu Tag und nun sogar von Stunde zu Stunde schlechter. Ich hatte mit der Aufbauleistung in den neuen Bundesländern nie etwas anfangen können, sah überall nur Zerstörung, oder besser gesagt: Ich sah nicht die Zerstörung, sondern das Neue, und das war überall von atemberaubender Häßlichkeit. Oder Normalität. In den ersten Jahren nach dem Mauerfall war ich oft rübergefahren, um das schöne Alte ein letztes Mal zu sehen, mich zu verabschieden. Schon nach fünf Jahren war alles weg. Und jetzt, nach dreiundzwanzig Jahren, war nicht nur das Alte weg und durch das neue Häßlichnormale ersetzt, sondern darüber hinaus war alles noch mit zusätzlichen Häßlichkeiten zugebaut, die gar nicht nötig und von niemandem für möglich gehalten wurden. Hinzu kam, daß die dort lebenden Menschen noch widerwärtiger geworden waren als vor der Wende. Vielleicht hatte Sibylle Berg, die nahe Greifswald aufgewachsen war, von dort ihren Menschenhaß her. Wie sehr ich sie verstehen würde! Die Leute starrten einen verbiestert, mißtrauisch, humorlos und vorwurfsvoll an. Im Gesicht hatten sie eine Blödigkeit, für die mir die Worte fehlen. Und im Schnitt war diese Population gefühlte siebenundsechzig Jahre alt. Einmal saßen wir in einem Strandrestaurant, und die Strandspaziergänger kamen an uns vorbei. Ich konnte ihre Gesichter sehen, während Elisabeth hinter einem Paravent saß und nur mich sah. Ich machte nun für sie den jeweiligen Gesichtsausdruck jedes vorbeikommenden Spaziergängers nach. Es war gar nicht schwer. Sie lachte sich sofort schlapp. Ich erwartete, daß die Rentner es merkten und mit ihren Windjacken und Lederimitatblousons auf mich losgingen, aber sie merkten es nicht. Das Hotel war ziemlich luxuriös. Es gab nicht nur eine Sauna, sondern drei, dazu unzählige Wellness- und so weiter -Bäder, die wir alle benutzten, ehe wir fluchtartig nach Berlin zurückfuhren. Der Zug war leer, das Zug-personal in Ordnung, der IC-Chef alias Zugführer eine Frau, die Hochdeutsch sprach. In Berlin erlebten wir das übliche Elendsbild. Seitdem ich von diesem kaputten Riesenhaufen weggezogen war, hatte der Verfall um weitere zwanzig Prozent zugenommen. In den U-Bahnen existierten nun noch mehr Penner, Tätowierte, schräge Vögel, altgewordene Studenten und Blödmänner aller Art. Es war nicht das Elend, das mir so gegen den Strich ging, sondern der gemeinsame Ausdruck des Dünkels. Diese Leute dachten unentwegt, daß sie etwas Besseres seien als ihr großes eingebildetes Feindbild, »der Spießer«. Außerdem hatte keine Wirtschaftskrise sie ins Nichtstun getrieben. Deutschland war seit Jahren die Wachstumslokomotive Europas und der Arbeitsmarkt leergefegt. Allein während des letzten, noch andauernden Booms waren weitere 250 000  Idioten aus der Provinz nach Berlin gezogen und dort zu selbstverliebten, dünkelhaften Aussteigern mutiert: junge Jugendkultur-Junkies, die sich begeistert den schon vorhandenen alten, zerstörten, gehirnentkernten Jugendkultur-Wracks anschlossen. Ich sah fürchterliche Szenen, wohin ich auch blickte. Der alte Obdachlose, dessen Hund Erbrochenes von der Park-bank schleckte, während Herrchen mit dem Kinn rollte wie ein Geistesgestörter und hilflos ohne Korkenzieher eine Flasche Rotwein zu öffnen versuchte, sitzend neben einer Gruppe »Grufties«, die zu beschreiben mir nun die Kraft fehlt, da ich das alles schon in früheren Büchern beschrieben habe. Nur soviel: Es war wie immer, nur ärger und zahlreicher. Ich sehnte mich von Minute zu Minute mehr nach Wien. Ich hatte es schon im Ohr, sprach es schon leise vor mich hin, dieses »Jawohl, Herr Professor, schön, daß Sie wieder da sind, Herr Professor, was darf ich Ihnen bringen, wieder wie letztes Mal, lieber Professor?«. Und dann verbrachten wir die Nacht erneut bei Elena Plaschg. Auch sie war im Laufe des letzten Jahres abgestiegen, wie alle in Berlin. In ihrer Wohnung stapelte sich kniehoch der Haus- und Unrat. Im Bad lagen nasse Hand-tücher auf dem noch nasseren Boden, die braun und grau waren vor Schmutz, als wären sie seit Jahren nicht gewaschen worden. Dafür stand neben dem zerwühlten Lotterbett ein neuer Laptop, der säuberlich hergerichtet und freigeschaltet war. Hier sah man sie, die Kultur gehobener Gastfreundschaft à la Berlin-Mitte: Dem Gast wurde sofort ermöglicht, online zu gehen. Darum ging es. Damit er chatten, googeln, surfen, skypen und daten konnte. Auch ein anonymer Bettpartner für die Nacht ließ sich auf diese Weise umgehend organisieren. Was zählten dagegen frische Bettlaken und hygienische Zahnputzbecher? Unangenehmer war schon das Radio, das sich im Bad befand. Ein Jugendsender spielte vierundzwanzig Stunden am Tag rebellische, gitarrenintensive, aufmüpfige Jugendmusik aus den neunziger Jahren. Auch die Sprecher waren rebellisch, aufgekratzt, gut drauf und aus der Altersgruppe »Die Toten Hosen«. Um ehrlich zu sein, hatte Elena Plaschg noch vor wenigen Jahren bessere Musik gehört, nämlich aktuellen Trash. Damals hatte sie auch ein Mode-Label, einen Verkaufsladen, ein kreatives, schwules Mode-Genie als Geschäftspartner, eine Total-depression pro Quartal und einen Aufenthalt in der Psychiatrie nach erfolgreichem Nervenzusammenbruch jährlich. Jetzt, nur zwölf Monate später, spielte sie Iggy Pop statt Amy Winehouse, hatte den Verkaufsladen geschlossen, den kreativen Kopf in die Wüste geschickt, sich mit einem achtundvierzigjährigen Gastronomen aus Amerika liiert und war in ein Loft nahe dem Hauptbahnhof gezogen. In ein Loft! Schon bei dem Wort mußte ich mir auf die Lippen beißen und schmerzverzerrt die Augen schließen. Wer dachte bei dem Wort »Loft« nicht an Jim Jarmusch, schlechte New-York-Filme, Graffiti an verfallenen Fabrikwänden und verlassenen Klinkerbauten, sinnloses Saxophon-Gesäusel in U-Bahn-Schächten oder Hinterhöfen, blöde Kriminal- und Drogen-Zusammenhänge, an Fotografen, die man einmal gekannt hatte und nun lieber nie wiedertreffen möchte, nicht für zwei Minuten? Nun lebte Elena also in einem »Loft«, und der amerikanische Freund fand das total »spannend«. Er hatte gerade ein Baby bekommen, äh, eine Frau hatte es für ihn bekommen, und er war mit fast fünfzig erstmals Vater geworden. Da die Frau gleich wieder woanders engagiert war, eben eine richtige Berlin-Mitte-Frau, wollte er nun Elena Plaschg dazu bringen, ebenfalls ein Baby für ihn auszutragen und anschließend beide Babys zu versorgen. Elisabeth, die das alles mitbekam, erzählte mir das. Sie war sehr besorgt. Alle Zeichen deuteten darauf hin, daß dieser Plan realisiert wurde. Das wäre das Aus gewesen für Elena Plaschg. Mit aller Macht drängten wir darauf, zurück nach Wien zu kommen. Hätte ich Wien nicht gekannt, wäre ich ins Grübeln gekommen. Was war denn nun besser, hätte ich mich gefragt: die todesbedrohlich langweilige Öko-Welt der Sara-Rebecka Werkmüller, dieses spaßlose Martyrium zwischen faulenden Apfelbutzen und quälenden Lesungen in Provinzbuchhandlungen  – oder das ewige Beziehungsgequake in einer promisken, von der Welt abgekoppelten Szene, die vereinsmeiernd nur sich selber wahrnimmt und dabei verblödet? Ich hätte mich nicht entscheiden können und mich für einen ungerechten Misanthropen gehalten, einen Rentner, einen Querulanten. »Nun sieh doch nur, wie schön die Autorin die Sätze gedrechselt hat, mit höchster Kunstfertigkeit!« hätte ich mir vielleicht selbst zugerufen. Und Elena hätte ich – wie früher schon – für eine Frau mit einem aufregenden Leben gehalten. Doch nun gibt es Wien. Es gibt ein Happy-End in meinem Leben. Ich weiß, daß die Welt schön sein kann: die Häuser, die Gegenstände, die Verhaltensweisen, der Umgang untereinander, die Liebe, der Beruf, der Alltag. Kein zynischer Gott hat uns dazu verurteilt, in der Häßlichkeit zu leben, der inneren wie äußeren. Wir müssen nicht häßlich, untreu, unverbindlich, promisk sein. Wir müssen nicht auf der Baustelle vor dem Hauptbahnhof »wohnen«. Wir müssen auch nicht Bücher über Komposthaufen und Senkgruben lesen. Oder gar schreiben. Ja, ich sage es noch einmal, unser Leben kann schön sein, und ein Happy-End ist möglich, nicht nur für mich, sondern tatsächlich für alle. Nun gut. Wollen wir nicht weiter schwadronieren. Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr, sagte Martin Walser, und ein Spiel dauert neunzig Minuten. Wie ging es...


Joachim Lottmann (*1959 in Hamburg) verliebte sich vor vier Jahren in eine Wiener Journalistin und heiratete sie auf der Stelle. Er gewann den Wolfgang-Koeppen-Preis, sie den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Sein Roman "Endlich Kokain" wurde daraufhin zum Bestseller.



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