E-Book, Deutsch, 2960 Seiten
Lovecraft H. P. Lovecraft - Das Gesamtwerk
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-86552-889-6
Verlag: Festa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Sämtliche Erzählungen und Zusammenarbeiten
E-Book, Deutsch, 2960 Seiten
ISBN: 978-3-86552-889-6
Verlag: Festa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
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Das Tier in der Höhle Die entsetzliche Schlussfolgerung, die sich meinem verwirrten und zögerlichen Verstand allmählich aufgedrängt hatte, war nun schreckliche Gewissheit. Ich war verloren, vollkommen, hoffnungslos verloren in den gewaltigen und labyrinthischen Tiefen der Mammuthöhle. In welche Richtung ich mich auch wendete, nirgends konnten meine angestrengten Augen einen Gegenstand ausmachen, der mir als Hinweis für einen Weg nach draußen hätte dienen können. Dass ich nimmermehr das gesegnete Licht des Tages und die schönen Hügel und Täler der herrlichen Außenwelt sehen würde, daran konnte mein Verstand mittlerweile nicht mehr zweifeln. Ich verlor jegliche Hoffnung. Doch da ich mein ganzes Leben lang philosophische Studien betrieben hatte, empfand ich eine gewisse Befriedigung über mein gefasstes Verhalten, denn ich hatte schon häufig darüber gelesen, dass Opfer ähnlicher Situationen in eine irre Raserei geraten, doch ich selbst blieb davon verschont – ich verharrte ruhig, sobald mir klar bewusst wurde, dass ich die Orientierung verloren hatte. Die Vorstellung, dass ich wahrscheinlich viel zu weit vom Weg abgekommen war, um von einem Suchtrupp entdeckt zu werden, brachte mich ebenfalls keine Sekunde aus der Fassung. Wenn ich also sterben musste, grübelte ich, dann war diese schreckliche und zugleich majestätische Höhle mir als Grabstätte ebenso willkommen wie jeder Friedhof, und diese Vorstellung hatte eher etwas Beruhigendes als etwas Verzweifeltes. Der Hunger würde mir zum Verhängnis werden, dessen war ich mir sicher. Einige Menschen, das wusste ich, waren unter diesen Umständen wahnsinnig geworden, doch ich spürte, dass mir ein solches Ende nicht beschieden sein sollte. An meinem Verhängnis trug allein ich die Schuld, denn ich hatte mich ohne Wissen unseres Führers von der übrigen Besichtigungsgruppe getrennt und über eine Stunde lang die verbotenen Wege der Höhle erforscht, und jetzt war ich nicht mehr in der Lage, den Rückweg durch die wirren Windungen, die ich durchlaufen hatte, zu finden. Das Licht meiner Taschenlampe verblasste bereits; nicht mehr lange, und mich würde die völlige, fast greifbare Schwärze der Eingeweide der Erde umfangen. So stand ich im fahlen, unsteten Licht und stellte müßige Überlegungen über die genauen Umstände meines bevorstehenden Endes an. Ich erinnerte mich an die Berichte über die Kolonie der Schwindsüchtigen, die sich in dieser gigantischen Grotte niedergelassen hatte, um an der vermeintlich heilsamen, reinen Luft der unterirdischen Welt, den gleichmäßigen Temperaturen und der friedlichen Stille zu genesen, doch die stattdessen ein merkwürdiger und grausiger Tod ereilt hatte. Ich hatte die Überreste ihrer grob gezimmerten Hütten gesehen, als wir mit der Besuchergruppe daran vorbeigingen, und mich gefragt, welchen unnatürlichen Einfluss ein langer Aufenthalt in dieser gewaltigen und stillen Höhle auf jemanden wie mich, der gesund und kräftig ist, ausüben würde. Und jetzt, so sagte ich mir finster, hatte ich die Gelegenheit, diese Frage zu beantworten, vorausgesetzt, dass der Mangel an Nahrung mich nicht zu schnell aus diesem Leben beförderte. Während die letzten, zitternden Strahlen meiner Taschenlampe vergingen, fasste ich den Entschluss, bei der Suche nach einem möglichen Ausweg jeden Stein umzudrehen und keine Möglichkeit zu entkommen außer Acht zu lassen. Als Erstes nahm ich alle Kräfte meiner Lunge zusammen und stieß mehrere laute Schreie aus, in der vergeblichen Hoffnung, dadurch den Führer auf mein Los aufmerksam zu machen. Doch noch während ich schrie, wusste ich bereits, dass meine Bemühungen sinnlos waren und dass meine von den unzähligen Wällen des schwarzen Labyrinths verstärkte und zurückgeworfene Stimme von keinen außer meinen Ohren vernommen wurde. Doch dann wurde meine Aufmerksamkeit abrupt auf etwas anderes gerichtet, denn ich glaubte, das Geräusch sanfter, sich nähernder Schritte auf dem felsigen Boden der Höhle zu hören. Sollte ich so schnell Rettung finden? Waren all meine schrecklichen Vorahnungen also müßig gewesen? Hatte der Fremdenführer mein eigenmächtiges Entfernen von der Gruppe bemerkt und suchte er mich jetzt in diesem Irrgarten aus Sandstein? Als diese freudigen Gedanken in mir aufstiegen, wollte ich erneut rufen, um schneller gefunden zu werden, als sich beim Lauschen meine Freude innerhalb eines Augenblickes in Entsetzen verwandelte, denn mein gutes Gehör, das in der völligen Stille der Höhle noch an Schärfe gewonnen hatte, trug meinem betäubten Verstand das unerwartete und erschreckende Wissen zu, dass diese Schritte nicht wie die eines sterblichen Menschen klangen. In der unweltlichen Stille dieses unterirdischen Reiches hätten die Schritte des gestiefelten Fremdenführers wie scharfe, durchdringende Schläge klingen müssen. Diese Laute klangen jedoch sanft und verstohlen, wie von den Pfoten einer Katze. Bei genauerem Hinhören schien es mir außerdem, als vernähme ich die Schritte von vier statt von zwei Füßen. Ich war nun überzeugt, dass ich durch meine Rufe ein wildes Tier, einen Berglöwen vielleicht, auf mich aufmerksam gemacht hatte, der zufällig in dieser Höhle umherstreunte. Vielleicht, so überlegte ich, hatte der Allmächtige ein schnelleres und gnädigeres Ende als das Verhungern für mich vorgesehen. Doch in meiner Brust regte sich der nie völlig unterdrückte Selbsterhaltungstrieb, und obwohl eine Flucht vor der sich nähernden Gefahr für mich bloß ein härteres und langwierigeres Ende bedeutete, war ich dennoch fest entschlossen, mein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. So sonderbar das auch erscheinen mag, mein Verstand vermochte dem sich nähernden Besucher ausschließlich böse Absichten zu unterstellen. Daher verhielt ich mich ganz still, in der Hoffnung, dass sich das unbekannte Tier in Ermangelung eines Geräusches, das es zu mir zu führte, ebenso verlaufen würde wie ich – und so an mir vorbeilaufen würde. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Die seltsamen Schritte kamen stetig näher, da das Tier offenkundig meine Witterung aufgenommen hatte, was in einer von allen äußeren Ablenkungen freien Atmosphäre wie der in dieser Höhle zweifellos selbst aus großer Entfernung möglich war. Da ich mich also gegen einen unheimlichen und unsichtbaren Angriff aus dem Dunkeln wappnen musste, sammelte ich tastend die größten Felsstücke ein, die in meiner Nähe auf dem Höhlenboden lagen. Ich nahm in jede Hand eines, um sofort reagieren zu können, und wartete ergeben auf das, was unausweichlich geschehen musste. In der Zwischenzeit näherte sich das scheußliche Tapsen der Pfoten. Das Verhalten der Kreatur war sehr merkwürdig. Die meiste Zeit über schienen die Schritte die eines Vierfüßers zu sein, der sich mit einem seltsamen Mangel an Einklang zwischen den Vorder- und Hinterläufen bewegte, doch mehrmals meinte ich, dass gelegentlich nur zwei Füße für das Vorankommen sorgten. Ich fragte mich, mit welcher Tiergattung ich es gleich zu tun haben würde; es musste sich, stellte ich mir vor, um ein unglückliches Geschöpf handeln, das seine Neugier, einen der Eingänge zu der fürchterlichen Grotte zu erkunden, mit lebenslanger Haft in den unendlichen Weiten bezahlte. Es ernährte sich wohl von den augenlosen Fischen, Fledermäusen und Ratten der Höhle, sicherlich auch von den gewöhnlichen Fischen, die bei jedem Hochwasser des Green River hereingespült werden, die ihn über verborgene Wege mit den Gewässern in der Höhle verbinden. Ich füllte mein entsetzliches Warten mit grotesken Mutmaßungen darüber aus, welche körperlichen Veränderungen das Höhlenleben bei dem Tier ausgelöst haben mochte, und erinnerte mich an einige örtliche Überlieferungen, die darüber berichteten, wie grausig die Schwindsüchtigen ausgesehen hatten, die nach langem Aufenthalt in der Höhle gestorben waren. Dann fiel mir plötzlich ein, dass ich, selbst wenn ich mich erfolgreich gegen meinen Gegner wehren konnte, niemals seine Gestalt sehen würde, denn meine Taschenlampe war doch längst erloschen und Streichhölzer trug ich keine bei mir. Die Anspannung in meinem Hirn wurde unerträglich. Meine aufgewühlte Fantasie beschwor die abstoßendsten und grässlichsten Erscheinungen aus der mich umgebenden Finsternis herauf, die mich regelrecht körperlich anzugreifen schien. Näher, näher kamen die furchtbaren Schritte. Ich hatte das Gefühl, einen durchdringenden Schrei ausstoßen zu müssen, doch selbst wenn ich diesem Drang nachgegeben hätte, wäre meine Stimme wohl kaum dazu in der Lage gewesen. Ich stand wie versteinert, auf die Stelle genagelt. Ich bezweifelte, ob mein rechter Arm im entscheidenden Moment wirklich fähig war, dem sich nähernden Wesen den Gesteinsbrocken entgegenzuschleudern. Nun war das stete Tapp-tapp der Schritte nahe – jetzt ganz nahe. Ich konnte den mühsamen Atem des Tieres hören, und angsterfüllt, wie ich war, bemerkte ich doch, dass es aus beträchtlicher Entfernung hergekommen sein musste und deshalb erschöpft war. Mit einem Mal brach der Bann. Meine rechte Hand, von meinem immer verlässlichen Gehör geleitet, warf mit ganzer Kraft den spitzen Kalkstein ins Dunkel, in die Richtung, aus der das Atmen und Tapsen kam. Es ist erfreulich, berichten zu können, dass der Stein beinahe sein Ziel erreichte, denn ich hörte das Wesen zur Seite springen und wieder landen, wo es dann zu warten schien. Ich zielte wieder und warf den zweiten Stein, dieses Mal mit mehr Erfolg, denn mit Freude hörte ich, wie das Geschöpf, den Geräuschen nach, zusammenbrach und offenbar regungslos liegen blieb. Die...