Lovecraft / Joshi Das übernatürliche Grauen in der Literatur
Neuübersetzung
ISBN: 978-3-944720-22-7
Verlag: Golkonda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 241 Seiten
ISBN: 978-3-944720-22-7
Verlag: Golkonda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
H. P. Lovecraft (1890?1937) ist der einflussreichste Horror-Autor der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Neben einem schmalen Werk aus Erzählungen und Kurzromanen, auf dem sein ganzer Ruhm beruht, verfasste er vor allem zahllose Briefe und Essays, die es im deutschsprachigen Raum erst noch zu entdecken gilt. S. T. Joshi (* 1958) ist, ohne jede Einschränkung, der führende Lovecraft-Experte weltweit. Als Herausgeber seiner sämtlichen Werke und Briefe sowie als Biograph und Interpret hat er, auch wenn er keinesfalls unumstritten ist, nicht seinesgleichen.
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I. Einführung
Angst ist die älteste und stärkste Empfindung des Menschen, und die älteste und stärkste Angst ist die Furcht vor dem Unbekannten. Diese Tatsachen werden wenige Psychologen bestreiten, und gibt man zu, dass sie der Wahrheit entsprechen, muss dies den Anspruch der unheimlichen Horrorgeschichte als ernsthafte literarische Gattung von Rang endgültig begründen. Gegen dieses Argument schießen sowohl eine materialistische Sophisterei, die an alltäglichen Emotionen und sichtbaren Ereignissen festhält, als auch ein naiver und fader Idealismus, der das ästhetische Motiv verurteilt und nach einer belehrenden Literatur ruft, die den Leser auf ein angemessenes Niveau von einfältigem Optimismus erhebt, alle ihre Pfeile ab.[1] Doch die unheimliche Erzählung hat trotz aller Anfeindungen überlebt, sich weiterentwickelt und zu bemerkenswerten Höhen der Perfektion aufgeschwungen, denn sie basiert auf einem grundlegenden und elementaren Prinzip, dessen Wirkung zwar nicht immer universell ist, aber auf hinreichend empfindsame Gemüter zwangsläufig einschneidend und dauerhaft wirkt.[2]
Die Anziehungskraft des gespenstisch Makabren ist im Allgemeinen beschränkt, weil es vom Leser ein gewisses Maß an Vorstellungskraft und die Fähigkeit verlangt, den Alltag hinter sich zu lassen. Vergleichsweise wenige sind ausreichend frei vom Bann des Alltagstrotts, um auf Klopfzeichen aus einer anderen Welt zu hören, und Geschichten über normale Gefühle und Ereignisse oder über gewöhnliche emotionale Abweichungen von solchen Gefühlen und Ereignissen werden stets den ersten Rang im Geschmack der Mehrheit einnehmen – vielleicht zu Recht, da diese alltäglichen Dinge natürlich den größeren Teil der menschlichen Erfahrung ausmachen.
Doch es wird immer empfindsame Menschen geben, und manchmal dringt ein merkwürdiger Anflug von Phantasie in einen dunklen Winkel sogar des härtesten Schädels, sodass keine noch so große Anstrengung der Vernunft, keine Reform oder freudsche Analyse[3] den Schauder des Flüsterns der Kaminecke oder des einsamen Waldes gänzlich aufheben kann. Hier wirkt eine psychologische Anlage oder Tradition, die so real und so tief in der mentalen Erfahrung verwurzelt ist wie jede andere Anlage oder Überlieferung der Menschheit. Sie ist ebenso alt wie das religiöse Empfinden, eng verwandt mit vielen seiner Aspekte und viel zu sehr Teil unseres innersten biologischen Erbes, um ihre ausgeprägte Macht über eine sehr wichtige, wenn auch kleine Minderheit unserer Spezies zu verlieren.
Die ersten Instinkte und Gefühle des Menschen prägten seine Reaktion auf die Umwelt, in der er existierte.[4] Eindeutige, auf Lust und Schmerz basierende Gefühle[5] entstanden rund um Phänomene, deren Ursachen und Wirkungen er verstehen konnte, während um jene, die er nicht verstand – und in der Frühzeit wimmelte das Universum von ihnen –, natürlicherweise solche Verkörperungen, wundersamen Interpretationen und Gefühle der Ehrfurcht und Angst gewoben wurden, auf die eine Rasse, die über wenige und schlichte Vorstellungen sowie begrenzte Erfahrungen verfügt, unweigerlich verfällt. Das Unbekannte, das eben auch unvorhersehbar war, wurde für unsere primitiven Vorväter eine schreckliche und allmächtige Quelle der Wohltaten und Katastrophen, welche die Menschheit aus rätselhaften und vollkommen unirdischen Gründen heimsuchten und somit zweifellos zu Existenzsphären gehörten, von denen wir nichts wissen und an denen wir keinen Anteil haben. Auch das Phänomen des Traums trug dazu dabei, die Vorstellung einer unwirklichen oder spirituellen Welt aufzubauen, und ganz allgemein führten alle Bedingungen des wilden, urzeitlichen Lebens so zwingend zu einem Gefühl für das Übernatürliche, dass wir uns nicht darüber wundern müssen, wie gründlich das ureigene ererbte Wesen des Menschen mit Religion und Aberglauben durchsetzt ist. Als schlichte wissenschaftliche Tatsache betrachtet ist diese Durchdringung, insofern sie das Unterbewusste und die Instinkte betrifft, im Grunde eine Konstante des menschlichen Daseins. Denn obwohl das Reich des Unbekannten seit Tausenden von Jahren stetig geschrumpft ist, überflutet ein unerschöpfliches Reservoir des Geheimnisvollen immer noch einen Großteil des äußeren Kosmos,[6] während all den Dingen und Prozessen, die einst geheimnisvoll waren, ein riesiger Bodensatz machtvoller ererbter Assoziationen anhaftet, wie gut sie inzwischen auch erklärt sein mögen. Darüber hinaus sind die alten Instinkte in unserem Nervengewebe physiologisch fixiert, wo sie untergründig selbst dann weiterwirken würden, wenn unser Bewusstsein von allen Quellen des Staunens gereinigt wäre.
Weil wir uns an Schmerz und Todesgefahr lebhafter erinnern als an angenehme Empfindungen, und weil unsere Gefühle für die wohltätigen Aspekte des Unbekannten von Anbeginn an durch konventionelle religiöse Rituale gebunden und formalisiert wurden, fanden die dunkleren und bösartigeren Seiten der kosmischen Geheimnisse ihren Ort hauptsächlich in unserer populären übernatürlichen Folklore. Auch diese Tendenz wird durch die Tatsache verstärkt, dass Unsicherheit und Gefahr stets eng miteinander verbunden sind, wodurch aus jeder unbekannten Welt eine Welt wird, in der die Gefahr und das Böse lauern. Fügt man diesem Gefühl der Angst und des Bösen die unvermeidliche Faszination des Staunens und der Neugier hinzu, so entsteht eine Mischung aus heftigen Emotionen und Anregungen der Phantasie, die zwangsläufig so lange wirksam bleiben muss, wie die menschliche Rasse existiert. Kinder werden sich immer vor der Dunkelheit fürchten, und Männer, deren Gemüt empfindsam auf ererbte Impulse reagiert, werden stets bei dem Gedanken an die verborgenen und unermesslichen Welten voll seltsamen Lebens zittern, die vielleicht in den Abgründen jenseits der Sterne pulsieren oder scheußlich auf unserem Erdball lasten, in gottlosen Dimensionen, die nur von den Toten und Mondsüchtigen erblickt werden können.
Vor diesem Hintergrund ist die Existenz einer Literatur des kosmischen Grauens nicht verwunderlich. Sie hat seit jeher existiert und wird immer existieren, und man kann keinen besseren Beweis für ihre Zählebigkeit anführen als den Impuls, der damals wie heute Schriftsteller mit vollkommen unterschiedlichen Neigungen dazu treibt, sich in einzelnen Geschichten an ihr zu versuchen, so als wollten sie gewisse unwirkliche Gebilde aus ihrem Geist austreiben, die ihnen sonst keine Ruhe lassen würden. So schrieb Dickens mehrere Gruselgeschichten, Browning das erschreckende Gedicht »Childe Roland«, Henry James The Turn of the Screw, Dr. Holmes den feinsinnigen Roman Elsie Venner, F. Marion Crawford »The Upper Berth« und eine Reihe weiterer Texte dieser Art, die Sozialreformerin Mrs Charlotte Perkins Gilman verfasste »The Yellow Wall Paper«, während der Humorist W. W. Jacobs jene vortreffliche kleine melodramatische Geschichte mit dem Titel »The Monkey’s Paw« fabrizierte.
Diese Art von Literatur des Grauens darf nicht mit jener verwechselt werden, die oberflächlich betrachtet ähnlich erscheint, doch in psychologischer Hinsicht völlig verschieden ist – die Literatur der lediglich physischen Angst und des alltäglichen Grauens.[7] Solche Texte haben natürlich ihren Platz, ebenso wie die konventionelle oder sogar schrullige oder humorvolle Geistergeschichte, in der die Formelhaftigkeit der Handlung oder das wissende Zwinkern des Autors das wahre Gefühl des morbiden Unwirklichen außer Kraft setzen.[8] Doch zählen solche Werke nicht zur Literatur der kosmischen Angst im reinsten Sinne. Die echte unheimliche Erzählung bietet etwas mehr als heimtückischen Mord, blutige Knochen oder eine von Bettlaken umhüllte Gestalt, die der Regel entsprechend mit den Ketten rasselt. Eine bestimmte Atmosphäre atemloser und unerklärlicher Furcht vor äußeren, unbekannten Mächten muss vorhanden sein, und es muss eine Andeutung jener schrecklichsten Vorstellung des menschlichen Verstandes geben, welche mit einem dem Thema gebührenden Ernst und auf ahnungsvolle Weise zum Ausdruck gebracht wird – eine bösartige und einzigartige Aufhebung oder Überwindung jener feststehenden Naturgesetze, die unseren einzigen Schutzwall gegen die Angriffe des Chaos und der Dämonen des unergründlichen Weltalls darstellen.
Wir können natürlich nicht erwarten, dass alle unheimlichen Erzählungen vollkommen irgendeinem theoretischen Modell entsprechen. Kreative Geister sind unstet, und die besten Stoffe haben ihre Schwachstellen. Darüber hinaus entsteht die beste unheimliche Literatur oft unbewusst. Sie findet sich, in Form von einzelnen denkwürdigen Fragmenten, in Texten, die in ihrer Gesamtwirkung auf etwas ganz anderes zielen können. Atmosphäre ist das Allerwichtigste, denn der maßgebliche Prüfstein der Glaubwürdigkeit ist nicht die Gliederung einer Handlung, sondern das Erzeugen bestimmter Gefühle. Im Allgemeinen kann man sagen, dass eine unheimliche Erzählung, die belehren oder eine gesellschaftliche Wirkung erzielen möchte,[9] oder eine, in der letztlich eine natürliche Erklärung für das Grauen gefunden wird,[10] keine wirkliche Geschichte kosmischen Grauens ist. Allerdings enthalten solche Geschichten in einzelnen Abschnitten oft stimmungsvolle Szenen, die jede Bedingung der echten übernatürlichen Literatur des Grauens erfüllen. Deswegen dürfen wir eine unheimliche Geschichte nicht nach der Absicht des Autors oder dem bloßen Aufbau der Handlung beurteilen, sondern nach dem emotionalen Niveau, das sie an...




