Lower Hitlers Helferinnen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24717-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Deutsche Frauen im Holocaust
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-446-24717-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wendy Lower ist John K. Roth Professor für Geschichte am Claremont McKenna College und Direktorin des dortigen Zentrums für Menschenrechte. Zuvor war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der LMU München und am U.S. Holocaust Memorial Museum. 'Hitlers Helferinnen' stand auf der Shortlist für den National Book Award 2013.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Militärgeschichte
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Gewalt und Diskriminierung: Soziale Aspekte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Gewalt Völkermord, Ethnische Säuberung, Kriegsverbrechen
- Sozialwissenschaften Ethnologie | Volkskunde Ethnologie Sozialethnologie: Familie, Gender, Soziale Gruppen
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Mentalitäts- und Sozialgeschichte
- Geisteswissenschaften Jüdische Studien Geschichte des Judentums Antisemitismus, Pogrome, Shoah
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte Deutsche Geschichte: Holocaust
Weitere Infos & Material
Einleitung
Im Sommer 1992 kaufte ich mir ein Flugticket nach Paris, erstand einen alten Renault und fuhr mit einer Freundin über holprige Sowjetstraßen Hunderte von Kilometern in die Ukraine. Unsere abenteuerliche Reise mussten wir häufig unterbrechen. Die Schlaglöcher ließen die Reifen platzen, es gab kein Benzin, und neugierige Bauern und LKW-Fahrer wollten unbedingt einen Blick unter die Motorhaube eines westlichen Gefährts werfen. An der einzigen Schnellstraße, die Lwiw mit Kiew verband, besuchten wir die Stadt Schytomyr, ein Zentrum jüdischen Lebens im ehemaligen Ansiedlungsrayon, wo während des Zweiten Weltkriegs Heinrich Himmler, der Architekt des Holocaust, sein Hauptquartier namens »Hegewald« aufgeschlagen hatte. Südlich der Route, in Winnyzja, lag Adolf Hitlers Führerhauptquartier, der Werwolf. Die gesamte Region war einst Tummelplatz der Nazis gewesen, mit all seinem Schrecken.
In seinem Bestreben, ein »Tausendjähriges Reich« zu errichten, kam Hitler in diese fruchtbare Gegend der Ukraine – die begehrte Kornkammer Europas – und hatte ganze Legionen von Entwicklern, Verwaltern, Sicherheitsbeamten, »Rassenkundlern« und Ingenieuren im Gepäck, die dieses Gebiet kolonialisieren und ausbeuten sollten. Die Deutschen trieben ihren »Blitzkrieg« 1941 Richtung Osten voran, verwüsteten und plünderten das eroberte Territorium und suchten 1943 und 1944 geschlagen Richtung Westen das Weite. Als die Rote Armee die Gegend besetzte, stellten sowjetische Offizielle Unmengen an Material sicher: seitenweise offizielle deutsche Berichte, ordnerweise Fotos und Zeitungen und ganze Schachteln voller Filmspulen. Sie bewahrten diese Kriegsbeute auf und werteten die Dokument-»Trophäen« in staatlichen und regionalen Archiven aus, wo sie jahrzehntelang hinter dem Eisernen Vorhang blieben. Genau deshalb war ich in die Ukraine gefahren: um mich mit diesem Material zu beschäftigen.
Im Archiv von Schytomyr stieß ich auf Papiere, auf denen Stiefelabdrücke zu sehen und die an den Rändern verkohlt waren. Die Dokumente hatten zwei Angriffe überstanden: den Rückzug der Nazis mit ihrer Politik der verbrannten Erde, zu der auch die Vernichtung von belastendem Beweismaterial gehörte, und die Zerstörung der Stadt während der Kämpfe im November und Dezember 1943. Die Aktenordner enthielten lückenhafte Briefwechsel, Papierfetzen, auf denen die Tinte verblasst war, Erlasse mit der ausladenden, unleserlichen Unterschrift von kleinen Beamten des NS-Staates und polizeiliche Verhörprotokolle mit dem zittrigen Gekritzel verängstigter ukrainischer Bauern. Ich hatte schon zuvor zahlreiche NS-Dokumente zu Gesicht bekommen, allerdings im komfortablen Ambiente des Mikrofilmraums in den National Archives in Washington. Nun aber saß ich in den Gebäuden, die von den Deutschen besetzt gewesen waren, und entdeckte neben dem »Rohzustand« des Quellenmaterials noch etwas anderes. Zu meiner Überraschung fand ich auch die Namen junger deutscher Frauen, die in der Region als Hitlers Reichsgründerinnen aktiv gewesen waren. Sie standen auf harmlosen Listen, auf denen die Behörden Kindergärtnerinnen verzeichnet hatten. Mit diesen Hinweisen kehrte ich in die amerikanischen und deutschen Archive zurück und suchte systematischer nach Dokumenten über deutsche Frauen, die gen Osten geschickt worden waren, insbesondere über solche, die den Holocaust als Augenzeuginnen erlebt oder als Täterinnen aktiv daran mitgewirkt hatten. Der Aktenberg wuchs und wuchs, und so langsam wurden darin einzelne Geschichten erkennbar.
Bei der Durchsicht von Untersuchungsberichten aus der Nachkriegszeit fiel mir auf, dass Hunderte von Frauen als Zeuginnen befragt worden waren und dass viele von ihnen ausgesprochen mitteilsam gewesen waren, denn die Strafverfolger interessierten sich vor allem für die abscheulichen Verbrechen ihrer männlichen Kollegen und Ehemänner und weniger für die der Frauen. Viele Frauen erzählten unbewegt und freimütig von dem, was sie erlebt hatten. So sprach eine ehemalige Kindergärtnerin in der Ukraine von einer »Judensache während des 2. Weltkrieges«. Sie und ihre Kolleginnen seien instruiert worden, als sie 1942 die Grenze Deutschlands zu den besetzten Gebieten im Osten überquerten. Wie sie sich erinnerte, habe ein NS-Beamter in »gelb, bzw. brauner Uniform« ihnen versichert, sie müssten keine Angst haben, wenn sie Gewehrfeuer hörten – da würden »lediglich ein paar Juden erschossen«.1
Wenn die Erschießung von Juden während des Krieges kein Grund zur Aufregung sein sollte, wie reagierten die Frauen dann, als sie auf ihrem Posten eintrafen? Schauten sie weg, oder wollten sie mehr sehen oder gar tun? In den bahnbrechenden Untersuchungen von Historikerinnen wie Gudrun Schwarz und Elizabeth Harvey fand ich meinen Verdacht bestätigt, wonach deutsche Frauen bei der Eroberung Osteuropas durch die Nationalsozialisten dabei waren, aber es blieben offene Fragen nach einer breiteren und tieferen Verstrickung in die dortigen Verbrechen.2 Schwarz hatte gewalttätige Frauen von SS-Führern ausfindig gemacht. Eine von ihnen hatte beispielsweise im polnischen Hrubieszów ihrem Mann die Pistole aus der Hand genommen und während eines Massakers auf dem örtlichen Friedhof Juden erschossen. Doch den Namen dieser Mörderin nannte Schwarz nicht. Harvey hatte herausgefunden, dass Frauen als Lehrerinnen in Polen aktiv waren und bei dieser Gelegenheit die Ghettos besuchten und jüdisches Eigentum stahlen. Unklar jedoch blieb, inwieweit Frauen an den Massakern in den Ostgebieten beteiligt gewesen waren. Offenbar hatte niemand die Dokumente aus der Kriegs- und Nachkriegszeit auf diese zentralen Fragen hin untersucht: Hatten sich gewöhnliche deutsche Frauen an den Massenerschießungen von Juden beteiligt? Waren deutsche Frauen an Orten wie der Ukraine, Weißrussland oder Polen in den Holocaust verstrickt, und zwar auf eine Weise, die sie nach dem Krieg nicht eingestehen wollten?
Bei den Nachkriegsuntersuchungen in Deutschland, Israel und Österreich identifizierten jüdische Überlebende deutsche Frauen als Täterinnen, nicht nur als fröhliche Gafferinnen, sondern als gewalttätige Peinigerinnen. In den meisten Fällen jedoch konnten die Überlebenden diese Frauen nicht namentlich benennen, oder die Beschuldigten hatten nach dem Krieg geheiratet und einen anderen Namen angenommen, sodass man sie nicht ausfindig machen konnte. Zwar war die Quellenlage bei meinen Nachforschungen eingeschränkt, aber mit der Zeit wurde deutlich: Die Liste mit Lehrerinnen und anderen Parteiaktivistinnen, auf die ich 1992 in der Ukraine gestoßen war, war nur die Spitze des Eisbergs. Hunderttausende deutscher Frauen gingen in die von den Nazis besetzten Gebiete im Osten – also nach Polen und in die westlichen Regionen dessen, was viele Jahre lang die Sowjetunion war, darunter auch in die heutige Ukraine, Weißrussland, Litauen, Lettland und Estland – und waren tatsächlich integraler Bestandteil von Hitlers Vernichtungsmaschinerie.
Eine dieser Frauen war Erna Petri. Ich stieß im Sommer 2005 auf ihren Namen, und zwar im United States Holocaust Memorial Museum. Dort hatte man nach längeren Verhandlungen Mikrofilmkopien von Akten der früheren DDR-Staatssicherheit erhalten. Darunter waren auch die Vernehmungs- und Prozessprotokolle des Gerichtsverfahrens gegen Erna Petri und ihren Mann Horst, denen man vorwarf, auf ihrem Privatgrundstück im besetzten Polen Juden erschossen zu haben. Glaubhaft detailliert schilderte Erna Petri, wie die halbnackten jüdischen Jungen wimmerten, als sie ihre Pistole zückte. Als der Vernehmungsbeamte fragte, wie sie als Mutter diese Kinder habe ermorden können, sprach Petri vom Antisemitismus des Regimes und ihrem eigenen Wunsch, sich gegenüber den Männern zu profilieren. Hier hatte keine gesellschaftliche Außenseiterin gemordet. Für mich standen Petris Verbrechen beispielhaft für das NS-Regime.
Dokumentierte Fälle von Mörderinnen waren in gewisser Weise repräsentativ für ein viel umfassenderes Phänomen, das unterdrückt, übersehen und viel zu wenig erforscht worden war. Angesichts der ideologischen Indoktrination der jungen Kohorte von Männern und Frauen, die während des »Dritten Reiches« erwachsen wurden, angesichts ihrer massenhaften Mobilisierung für den Feldzug im Osten und angesichts der Kultur genozidaler Gewalt, die in die Eroberung und Kolonisierung durch die Nationalsozialisten eingebettet war, kam ich zu dem Schluss – als Historikerin, nicht als Strafverfolgerin –, dass es jede Menge Fälle von Frauen gab, die Juden und andere »Feinde« des Reiches umgebracht hatten, mehr jedenfalls, als während des Krieges dokumentiert oder danach strafrechtlich verfolgt worden waren. Zwar sind nicht viele Fälle unmittelbaren Tötens dokumentiert, aber diese gilt es ernst zu nehmen und nicht einfach als Anomalien abzutun. Hitlers Helferinnen waren keine randständigen Soziopathinnen. Sie waren der Überzeugung, ihre Gewalttaten seien als Racheakte an Feinden des Reiches gerechtfertigt; in ihren Augen waren solche Taten ein Ausdruck von Loyalität. Für Erna Petri waren nicht einmal hilflose jüdische Jungen unschuldig, die aus einem Güterwaggon geflohen waren, der sie zu den Gaskammern bringen sollte; für sie waren es Menschen, die fast davongekommen wären.
*
Es war kein Zufall, dass der Massenmord der Nazis und ihrer Helfershelfer in Osteuropa geschah. Die Gegend war seit je Heimat der größten jüdischen Bevölkerung, die in den Augen der Nationalsozialisten vielfach gefährlich »bolschewisiert« worden war. Die westeuropäischen Juden wurden in entlegene Gegenden in Polen, Weißrussland, Lettland und Litauen deportiert, wo sie am...