E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Lucarelli / Fleischanderl Léon
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-99037-135-0
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
ISBN: 978-3-99037-135-0
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der Leguan, ein Serienkiller, ist entflohen - und will sich an derjenigen rächen, die ihn hinter Gitter gebracht hat.
Grazia Negro liegt auf der Entbindungsstation, noch benommen von der Narkose, aber glücklich. Endlich ist sie, was sie immer sein wollte: Mutter. Keine Ermittlungen mehr, keine Mordfälle, keine Jagd nach Psychopathen. Doch ein normales Leben scheint ihr verwehrt. Kaum hat sie ihre Zwillinge gesehen, berichtet ihr ein Kollege vom Massaker, das der Leguan in der Psychiatrie angerichtet hat. Negro muss jetzt mit ihren Kindern an einen sicheren Ort gebracht werden, doch dort fühlt sie sich wie eine Löwin im Käfig. Die Gefahr, die auf sie lauert, könnte noch bedrohlicher sein, als sie glaubt.
Lucarelli schickt seine Kultkommissarin auf eine Tour de Force.
Carlo Lucarelli, 1960 in Parma geboren, lebt bei Bologna. Er ist Schriftsteller, Journalist, Regisseur und Fernsehmoderator. International bekannt wurde er durch seine preisgekrönten und verfilmten Kriminalromane, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Mitbegründer des 'Gruppo 13' und Lehrer an der 'Scuola Holden' für kreatives Schreiben.
Zuletzt erschienen bei Folio Bestie (2014), Italienische Intrige (2018), Hundechristus (2020) und Der schwärzeste Winter (2021).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Teil eins:
Der Leguan
Teil zwei:
Ray Cooper
Teil drei:
Die Maus
In Monteombraro war es bereits kalt. Grazia hatte umsonst versucht, die Heizung anzumachen, und die Zwillinge bis zu den Ohren zugedeckt, doch Ersilia, die untersetzte Polizistin, die Chefin der Eskorte, die man ihr zugeteilt hatte, die drei Kinder großgezogen hatte, hatte ihr gesagt, dass Babys sich im Schlaf bewegen und die Decken wegstrampeln, deshalb sollte man sie warm anziehen und nicht zu fest zudecken, und so kalt sei es nun auch wieder nicht. Jetzt schliefen sie in der Mitte des großen Betts, das man mit einer Seite an die Wand geschoben hatte, während es auf der anderen Seite von den Rückenlehnen zweier Stühle begrenzt wurde, sie trugen die Strampelanzüge des Krankenhauses, denn auf dem Weg zu dieser kleinen Villa im Apennin hatte die Zeit nicht gereicht, zu Hause vorbeizufahren. Grazia hatte sie lange betrachtet, bevor sie beschlossen hatte, sie allein zu lassen. Dennoch hatte sie die Decken hochgezogen und sie unter den Kissen fixiert, die sie so hinter die Rücken der Babys gestopft hatte, dass sie, mit dem Gesicht einander zugewandt, seitlich schliefen. Die Villa war gar nicht schlecht. Allein mitten im Wald, mit nur einer Zufahrtsstraße, einer mit einem Balken versperrten Schotterstraße, im oberen Stockwerk befand sich eine Art Arbeitszimmer mit einem großen Glasfenster, das den Blick aufs Tal freigab. Grazia hatte allerdings darauf bestanden, dass die Sitzung in der Küche stattfand, denn sie befand sich direkt neben dem Zimmer, in dem die Babys schliefen, genau hinter der halb offenen Tür. Was sie bald bereute. Vicequestore Carlisi, der ihr Chef bei der Einsatzpolizei in Bologna gewesen war, bevor sie in Mutterschutz gegangen war, sprach laut, ließ es sich nicht nehmen zu rauchen, wenn auch auf dem Fensterbrett sitzend, von wo aus er allerdings noch lauter schrie. An dem weißen Resopaltisch saßen zwei Unbekannte und warteten auf den Kaffee, den Ersilia im Espressokocher zubereitete. Ein kleiner, glatzköpfiger Mann, der nervös hin und her rutschte, seine Wangen waren so rot, als hätte er Fieber. Persichetti, der Psychiater, der die Anstalt leitete, in der der Leguan untergebracht gewesen war. Die Art und Weise, wie Carlisi seinen Titel ausgesprochen hatte, Dottore Persichetti, mit gerolltem r, hatte ihm wohl die Röte ins Gesicht getrieben. Die zweite Person war eine Frau, eine Rothaarige mit sehr kurzen Haaren, die der Vicequestore nicht hatte vorstellen können, weil sie sofort mit dem Dottore zu streiten begonnen hatte. – Alessio Crotti hat eine ungewisse Anzahl von Personen umgebracht, wir haben nie herausgefunden, wie viele, aber viele, mindestens acht. Und nicht einfach umgebracht, sondern massakriert, mit unglaublicher Brutalität … – Ich weiß, Dottoressa … Auch Persichetti betonte den Titel, mit lang gezogenem t. – Eine Bestie, die bei jedem Mord eine andere Identität annahm, weshalb man ihn Leguan nannte, er veränderte die Hautfarbe … – Das weiß ich, Dottoressa, das weiß ich sehr gut, aber … – Und ihr entlasst ein derartiges Subjekt aus dem psychiatrischen Vollzug und steckt ihn in eine Wohngruppe? Alessio Crotti? Den Leguan, verdammt noch mal, den Leguan! Grazia beobachtete die halb offene Tür. Sie wollte die beiden mit einer Geste auffordern, leiser zu sprechen, doch Persichetti sprach mit leisem Zischen, die Wut schnürte ihm den Hals zu. – Seit fast zehn Jahren war der Patient stabil und unter Kontrolle. Er hat immer die verschriebenen Medikamente genommen und hat nie, ich wiederhole, nie, Anlass zu einer negativen Prognose gegeben … – Na so was, Dottore, ein vorbildlicher Patient. – Ja, Dottoressa! Tatsächlich haben wir ihn für geeignet befunden, von einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher in eine Institution überstellt zu werden, die seinen Fortschritten entsprach … – Gemeinsam mit zwei anderen Irren … – Gemeinsam mit zwei unabhängigen Insassen! – Persichettis Wangen glühten. – Euer Leguan ist außerdem blind, verdammt noch einmal, blind! – Und außerdem … Persichetti hob den Zeigefinger und ließ ihn in der Luft kreisen, womit er sagen wollte, dass ihr Leguan auch klein und dünn war. Er wollte noch etwas hinzufügen, presste jedoch die Lippen aufeinander, denn Carlisi grinste hinterhältig, er wusste bereits, was die Dottoressa sagen würde. – Sicher doch, ein vorbildlicher Patient, sediert und ruhig, der gerade mal fünfzig Kilo wiegt und außerdem blind ist. Egal, dass er ein Serienmörder ist und sich wie mit einem Radar bewegt, denn er ist geheilt! Aber dann, Überraschung!, bringt er seine Mitbewohner um, dem einen schneidet er mit einem Plastikmesser die Kehle durch, keine Ahnung, wie er das geschafft hat, und der Frau stülpt er eine Plastiktüte über den Kopf, wirft sie auf den Boden und erstickt sie. Und wahrscheinlich hätte er auch die Krankenschwester umgebracht, wenn er sie gefunden hätte oder wenn die Carabinieri ihm nicht dazwischengekommen wären. Genau, Dottore, ein vorbildlicher Patient. Sagen Sie ihr das, sie hat ihn ja festgenommen und dabei fast ins Gras gebissen! Alle Blicke richteten sich auf Grazia. Sie saß etwas abseits vom Tisch, hatte die Beine hochgezogen, mit den Fersen am Rand des Stuhls, und einen Arm um die Knie geschlungen. Sie trug Flipflops, weil ihre Füße noch zu geschwollen waren, um Schuhe zu tragen, und massierte sie mit der freien Hand. – Haben Sie keine Schmerzen, wenn Sie so sitzen?, fragte die Rothaarige mit den kurzen Haaren. – Sie hatten doch gerade einen Kaiserschnitt. Grazia schüttelte den Kopf, obwohl die andere offensichtlich recht hatte. Vielleicht hielt die Wirkung des Kreuzstichs noch an, denn körperlich fühlte sie sich sehr gut, bloß etwas müde. Doch sie war durcheinander, konnte sich nicht konzentrieren, obwohl sie angesichts der Ereignisse, die sie noch nicht zur Gänze einschätzen konnte, einen Haufen Fragen hätte stellen müssen, einen Haufen präziser Fragen. Sie beschloss, bei der Frau anzufangen, die sie vom anderen Ende des Tischs aus beobachtete. Aufgrund der kurzen Haare und der Farbe, die vielleicht sogar echt war, war sie möglicherweise älter oder jünger, als sie aussah. Die hohen, glatten Backenknochen waren vielleicht operiert. Die Haut war vom Joggen im Freien gebräunt, und die Muskeln, die man unter dem Ausschnitt des Pullovers sah, waren vom Schwimmen und vom Pilates gut definiert. Zweifellos eine schöne Frau. – Sind Sie die Staatsanwältin?, fragte Grazia. – Nein, sagte Carlisi. – Wir haben keinen Staatsanwalt. Die Staatsanwaltschaft hat die Carabinieri mit der Untersuchung betraut. Der Staatsanwalt ist im Augenblick wohl bei ihnen. – Ich heiße Anna Maria Cescòn, sagte die Frau. Sie hatte einen leichten venezianischen Akzent. – Ich gehöre zum UACV, der Einheit zur Aufklärung von Gewaltverbrechen. Ich habe hier das Kommando. Der Vicequestore machte die Zigarette am Fensterbrett aus, ließ die Kippe inmitten eines schwarzen Kreises liegen. – Eigentlich hat diese Einheit vor allem Beratungskompetenzen … – Er wirkte resigniert. – Die Dinge haben sich geändert. Und vergessen wir nicht, dass niemand anderer als unsere Abteilung den Leguan gefasst hat, als Kommissarin Negro noch bei uns war. Oder irre ich mich? Grazia schüttelte den Kopf. Sie irrte sich nicht. Der Kaffee gurgelte im Espressokocher. Grazia verwechselte das Geräusch mit einem Wimmern der Zwillinge und stand auf. Ein leichter stechender Schmerz im Unterbauch erinnerte sie daran, dass die Frau vom UACV vielleicht doch recht hatte und sie sich lieber schonen sollte. Barfuß ging sie zur Tür und warf einen Blick auf die schlafenden Zwillinge, die mit geballten Fäusten und halb offenen Mündchen dalagen. Als sie sich wieder setzte, nahm sie dieselbe Haltung wie davor ein, mit angezogenen Knien, weil sie schon wieder darauf vergessen hatte. – Ich hätte gern ein Gitterbett, sagte sie zu Ersilia, die ihr Kaffee eingoss. – Und außerdem brauche ich dringend ein Fläschchen, Sterilisierapparat … Windeln. – Wir verstecken hier für gewöhnlich Mafia-Kronzeugen, das ist ja kein Kindergarten … Grazia überging die Bemerkung und sah Ersilia an, die nickte, ja, ich kümmere mich darum. Der Geruch des Kaffees verursachte ihr Übelkeit. Während der Schwangerschaft hatte sie nie Kaffee getrunken, obwohl von Kaffee nicht wie von so vielem anderen abgeraten worden war. Plötzlich stellte sie fest, dass Schinken ihr am meisten fehlte, allein beim Gedanken daran lief ihr das Wasser im Mund zusammen, sie musste schlucken. Anna Maria Cescòn hatte ihre Tasse bereits...