E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: Um/Welt
Ludwig Unserer Zukunft auf der Spur
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-218-01309-3
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wer wir waren, wer wir sind, wer wir sein können
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: Um/Welt
ISBN: 978-3-218-01309-3
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Menschliche Verhaltensmuster, soziale Regeln und gesellschaftliche Strukturen, die wir als universell hinnehmen, sind dies nicht. Und ja, manche von ihnen können wir ändern."
Es kursieren eine ganze Menge Annahmen und Überzeugungen darüber, was den Menschen ausmacht. Wir wollen immer mehr, als wir haben. Wir sind eine gewalttätige Spezies. Wir sind getrieben und haben niemals genug Zeit. Hinter diesen Glaubenssätzen lauert die Idee von der "Natur des Menschen".
Die Kulturanthropologin Bettina Ludwig stellt mit ihren Forschungen unser Welt- und Menschenbild auf den Kopf. Sie nimmt uns mit zu Jäger-Sammler*innen-Gesellschaften, in denen Zeit, Besitz und Hierarchien anders funktionieren, als wir es gewohnt sind. Sie erklärt, warum Spurenlesen die Urform der Wissenschaft ist und zeigt schlüssig auf, dass Menschen vor allem kulturell bedingt handeln, und nicht, "weil sie eben so sind". Aus dem Blick zurück entwickelt Ludwig eine Vision für eine Gemeinschaft, in der Diversität der Normalfall ist, und bricht damit eine Lanze für Optimismus und eine gute Portion Realismus.
Autoren/Hrsg.
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Fallstudie:
Jäger-SammlerInnen-Gesellschaften
In diesem Buch geht es um die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft des Menschen. Es führt also kein Weg an Jägern und SammlerInnen vorbei. In der Vergangenheit hat der Mensch den Großteil seiner Zeit vom Jagen und Sammeln gelebt. Unsere Gegenwart ist geprägt von einer Diversität, die Jäger- und SammlerInnentum und viele andere gesellschaftliche Organisationsformen auf einem Planeten vereint. Und unsere Zukunft? Es scheint, als würden wir den jagenden und sammelnden Lebensstil nicht in unsere Zukunft mitnehmen, so zumindest die Prognosen der internationalen ForscherInnen-Community. Ob das tatsächlich eintrifft – wir werden sehen. Fest steht, dass es sich hierbei nicht (nur) um weit entfernte, steinzeitliche Praktiken handelt, sondern dass dieser Lebensstil, in all seinen Facetten, tatsächlich sehr viel mit unserem Leben im Hier und Jetzt zu tun hat. Homo sapiens, also uns, mit unserer aktuellen kognitiven und physiologischen Grundausstattung, gibt es mittlerweile seit etwa 300.000 Jahren. Wir sind Teil der Gattung Homo, die bereits seit zwei Millionen Jahren existiert. Die Evolution formt uns also schon seit geraumer Zeit, und wir haben in dieser Zeitspanne unendlich viel gelernt. Wir richteten uns von einer gebückten in die aufrechte Haltung auf, wir entwickelten Sprache, um uns über komplexe Themen auszutauschen, und wir lernten zu verstehen, dass technologische Hilfsmittel unsere Sinne und Physiologie erweitern können. Während AnthropologInnen, BiologInnen, LinguistInnen, PsychologInnen und WissenschaftlerInnen aus anderen Bereichen versuchen, die Evolution des Menschen zu rekonstruieren und zu verstehen, wurde dabei ein Aspekt noch nicht ins Zentrum der Diskussion gerückt: das Spurenlesen. Ja, ein zentraler Aspekt in unserer Entwicklung war und ist das Lesen und Interpretieren von Spuren. Warum? Zum einen ergibt sich aus der Beschäftigung mit dem Spurenlesen die Theorie, dass dieser Skill mit der spezifisch menschlichen Fähigkeit des wissenschaftlichen Schlussfolgerns in Zusammenhang steht, und zum anderen war Spurenlesen der Grundstein für die menschliche Fähigkeit, Zeichen in Symbole zu verwandeln. Spannt man den Bogen auf einer Metaebene, kann geschlussfolgert werden, dass Spurenlesen die Grundlage für die kulturelle Diversität ist, in und mit der wir heute leben. Denn egal ob Bildung, Religion, Politik, Ökonomie, Ideologie – für all diese Aspekte menschlicher Organisation ist symbolhafte Kommunikation ein zentraler Punkt. WIE UND WARUM DEFINIERT MAN JÄGER-SAMMLERINNEN-GESELLSCHAFTEN?
Als Teilgebiet der Kultur- und Sozialanthropologie kann die Jäger-SammlerInnen-Forschung aus zwei Gründen helfen, menschliche Kultur besser zu verstehen. Zum einen haben wir die längste Zeit als Jäger und SammlerInnen gelebt, und so können moderne Jäger-SammlerInnen-Gesellschaften uns in Teilaspekten etwas über unser aller Vergangenheit verraten. Zum anderen hat die für Jäger-SammlerInnen-Gesellschaften charakteristische, kleine Gruppengröße Einfluss auf die Struktur und den Aufbau der Gesellschaft. In der Anthropologie spricht man in diesem Fall von einer simplen Gesellschaftsstruktur. Diese Tatsache erleichtert die Analyse im Sinne einer Makrosoziologie2. Gewisse Fragestellungen lassen sich in der Kulturanthropologie einfacher auf kleinere Gesellschaftssysteme anwenden als auf jene mit mehreren Millionen Mitgliedern. Die Forschung mit und über Jäger und SammlerInnen geht ferner über die Grenzen des Faches hinaus. Nicht nur Kultur- und SozialanthropologInnen, sondern auch ArchäologInnen, GenetikerInnen, LinguistInnen und viele andere ExpertInnen arbeiten zusammen, um das Spektrum menschlicher Organisationsformen zu beleuchten. Jäger-SammlerInnen-Gesellschaften werden von der Altsteinzeit bis hin in die Moderne untersucht. Vorausgeschickt sei hierbei, dass in der Kulturanthropologie nicht die einzelnen Menschen selbst, also die Individuen Gegenstand der Forschung sind, sondern ihre Lebensform. Würde man nämlich versuchen, Jäger und SammlerInnen generell zu beschreiben, wäre das, als würde man versuchen, die EuropäerInnen zu beschreiben oder die Frauen oder die Jugendlichen. Mit derartigen Kategorisierungen läuft man schnell Gefahr, Verallgemeinerungen als universell gültig darzustellen. Warum leben Menschen in den verschiedensten Teilen der Welt auf unterschiedlichste Arten und Weisen zusammen? Wie kommt es zu unserer globalen, kulturellen Diversität? Das sind die zentralen Fragen des Faches. Demzufolge ist es in der Jäger-SammlerInnen-Forschung nicht Ziel, das archetypische Individuum innerhalb einer Jäger-SammlerInnen-Gesellschaft darzustellen, sondern den gemeinschaftlichen Lebensstil der jeweiligen Gruppe zu verstehen. Je nach Forschungsschwerpunkt setzt man sich also beispielsweise mit der Ökonomie, der politischen Struktur, dem Sozial- beziehungsweise Verwandtschaftsgefüge, den Jagd- und Sammelstrategien, der Mobilität oder der Technologie auseinander. Fakt ist außerdem, dass diese Gruppen keineswegs homogen, sondern heterogen sind. Das bedeutet, dass die Mitglieder innerhalb dieser Gruppen unterschiedlichste Neigungen, Eigenschaften und Prägungen haben. Jäger-SammlerInnen-Gesellschaften weisen zusätzlich in unterschiedlichen Regionen der Welt teils unterschiedliche kulturelle Merkmale auf. Es handelt sich letztlich um ein Spektrum.III Innerhalb der Wissenschaft geht es dennoch darum, Phänomene einzuordnen und zu analysieren. Kategorien sind für WissenschaftlerInnen Werkzeuge, um Realität fassbarer zu machen und sie zu strukturieren. Man kategorisiert, um bestimmte Phänomene unterscheidbar zu machen. Diese Einordnung hilft dabei, nicht Gefahr zu laufen, zwei Forschungsgegenstände miteinander zu vergleichen, die keine wirkliche Entsprechung haben. So hilft eine derartige Einteilung zum einen dabei, Jäger-SammlerInnen-Gesellschaften untereinander vergleichen zu können. Und zum anderen hilft sie, die Entwicklungen einer Gesellschaft über einen gewissen Zeitraum zu beobachten. Die Forschungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass gewisse Eigenschaften trotz aller spezifischen Eigenheiten in jeder Jäger-SammlerInnen-Gruppe vorkommen und diese definieren. James Woodburn, dessen frühe Arbeiten dazu bis heute als Standardwerke gelten, beschreibt in seinem Artikel Egalitarian Societies folgende Aspekte als charakteristisch: „eine verwandtschaftsbasierte soziale Organisation, ein dezentrales und nicht-hierarchisches politisches System, Teilprinzip statt Besitztum, Jagen und/oder Fischen und Sammeln als Haupt-Versorgungstrategie, sowie eine geringe Bevölkerungsdichte und kleine Gruppengrößen.“IV WIE WIRD GEFORSCHT?
Nun stellen sich zwei große Fragen. Da wäre zum einen die Frage, ob und wie es WissenschaftlerInnen eigentlich möglich ist, Lebensformen zu beschreiben, in denen sie selbst nicht aufgewachsen sind? Und zum anderen, wie es an sich funktioniert, andere Formen des Zusammenlebens zu erforschen? Widmen wir uns zuerst der Frage, ob es denn grundsätzlich möglich sei, Lebenswelten zu verstehen, die man nur als außenstehende Person wahrnehmen wird können. Diese Frage führt uns rasch zu den Grundfesten der Wissenschaft. Die Antwort ist: Ja, das ist möglich. Zumindest bis zu einem gewissen Grad. In der Wissenschaft unterscheidet man dazu zwei verschiedene Perspektiven. Man spricht von der emischen und der etischen Perspektive. Die emische Perspektive ist die des Insiders, also eines Mitglieds der zu untersuchenden Gesellschaft. Es geht dabei um Beschreibungen, die für, in unserem Fall, die Jäger- und SammlerInnen sinnvoll sind. Es geht um die Sichtweisen, die im Einklang mit ihren Welt- und Wertevorstellungen sind. Ihnen, sowie allen Menschen, wird durch die Sozialisierung innerhalb ihrer Gruppe die emische Perspektive auf die eigene Gesellschaft oder Kultur sozusagen in die Wiege gelegt. Diese spezifische Sozialisierung führt zu Interpretationen der einen umgebenden Welt und zu bestimmten Handlungen. AnthropologInnen versuchen, diese Sichtweisen zu dokumentieren. Dazu braucht es Aufenthalte bei den Menschen, viel Zeit und die Bereitschaft, den eigenen Ethnozentrismus abzulegen. Das heißt, die persönliche Sicht auf die Dinge, die man als Anthropologin natürlich auch mitbringt, hintenanzustellen. Bei der etischen Perspektive geht es dagegen um Beschreibungen eines Beobachters von außen. Die Informationen werden verwissenschaftlicht. Das bedeutet, sie werden in eine Form gebracht, in der sie universell für weitere anthropologische Analysen verwendet werden können. Beide Zugangsweisen liefern dementsprechend unterschiedliche Erkenntnisse, jede in ihrem Rahmen wertvoll für anthropologische Forschungen. Außerhalb der Wissenschaft haben Menschen meist keine etische Perspektive auf andere Kulturen, sondern eine ethnozentristische.3 Das heißt, sie erklären sich die Phänomene in anderen Kulturen aus ihrem eigenen...