E-Book, Deutsch, Band 6470, 205 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Lüders Hybris am Hindukusch
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-406-78491-0
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie der Westen in Afghanistan scheiterte
E-Book, Deutsch, Band 6470, 205 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-78491-0
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nach 9/11 stürzten die USA die Taliban in Kabul. Es war der Auftakt im 'Krieg gegen den Terror'. Allein in Afghanistan gab Washington dafür in 20 Jahren mehr als 2000 Milliarden Dollar aus. Doch jetzt sind die Taliban erneut an der Macht. Wie konnte es soweit kommen? Michael Lüders zieht eine schonungslose Bilanz des Desasters am Hindukusch und erklärt, warum der Westen dort scheitern musste.
Es ist keine gute Idee, in Afghanistan einzumarschieren. Dagegen sprechen die Geografie und historische Fakten. Im 19. Jahrhundert erlitten die Briten dort die vielleicht größte Niederlage ihrer Kolonialgeschichte. In den 1980er Jahren scheiterte die Sowjetunion bei dem Versuch, das Land zu unterwerfen. Diese selbstverschuldete Niederlage trug zu ihrem Untergang bei. Doch die USA und ihre Verbündeten haben aus der Vergangenheit nichts gelernt. Ohne Plan und klare Ziele besetzten sie 2001 Afghanistan. Sie finanzierten ein korruptes Regime in Kabul, während Tausende Zivilisten bei Drohnenangriffen und nächtlichen Razzien starben. Ein Land verändern zu wollen, ohne es zu verstehen – das ist Größenwahn. Hybris am Hindukusch.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politik: Sachbuch, Politikerveröffentlichungen
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Militärwesen Nationale und Internationale Sicherheits- und Verteidigungspolitik
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Geopolitik
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Entwicklungspolitik, Nord-Süd Beziehungen
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Militärwesen Friedenssicherung, Krisenintervention
Weitere Infos & Material
Die Russen kommen: Das Britische Empire und sein «Großes Spiel» in Afghanistan
Afghanistans Schicksal ist seine Lage, seine Geografie. Mehr als 2500 Jahre diente das heutige Afghanistan als Durchgangsland für Eroberer aus allen Himmelsrichtungen, die es vor allem auf Macht und Beute im jetzigen Indien abgesehen hatten – angefangen mit Alexander dem Großen. In der Neuzeit wurde Afghanistan zum geostrategischen Spielball erst kolonialer, dann imperialer Interessen, zuletzt im Zuge der sowjetischen Besatzung und des «Krieges gegen den Terror» nach 9/11. Geografie ist der Schlüssel zum Verständnis des Landes – wer diesen Zusammenhang übersieht oder ignoriert, wie zuletzt die Militärplaner in Washington, versteht weder die Geschichte noch die Gegenwart der Region, auch nicht den Siegeszug der Taliban. In Afghanistan geht das Iranische Hochland über in das Faltengebirge des Himalaja – der Hindukusch ist dessen westlicher Ausläufer. Die wenigen Landverbindungen, Flusstäler und Passstraßen sind Nadelöhre, gleichzeitig aber auch die wichtigsten Handelswege (Seidenstraße) und Invasionsrouten. Seit Alexander dem Großen sind alle Imperatoren auf denselben Wegen gekommen und auch wieder gegangen – meist unter großen Verlusten. Vor allem die Gebirgspässe erwiesen sich oft genug als Todesfallen, wobei sich Eiseskälte und Schnee als nicht weniger tödlich erwiesen denn Kampfhandlungen. Bis zum Ende der Kolonialzeit bestimmten drei rivalisierende Machtzentren das Schicksal Afghanistans: die nach Osten drängenden Perser im Westen, die nach Zentralasien vorstoßenden Inder (nach ihnen die Briten) im Osten und die in alle Richtungen ausgreifenden nomadischen Steppenkrieger im Norden (nach ihnen das Zarenreich). Die bei uns bekanntesten dieser Krieger und Heeresführer sind Timur und Dschingis Khan. Die grandiose landschaftliche Schönheit, die selbst die Schweiz oder Norwegen in den Schatten stellt, ist die eine Seite Afghanistans. Die Kehrseite sind die Unzugänglichkeit weiter Teile des Landes, ihre extreme Abgeschiedenheit und vielfach Rückständigkeit, vor allem aber die überaus harten Lebensbedingungen der Bevölkerung in den Bergregionen, die oft genug über Subsistenzwirtschaft bis heute nicht hinausweisen. Wer etwa von Jalalabad aus Richtung Norden fährt, findet sich bald wieder in einer Welt, die sich seit der Zeit des Propheten Mohammed kaum verändert haben dürfte. Es gibt weder Strom noch fließend Wasser, nicht aus dem Wasserhahn jedenfalls, die Männer beackern das karge Land, meist mit bloßer Muskelkraft. Die Frauen hüten die schlichten Lehmhütten unscheinbarer Weiler und sind weitgehend unsichtbar, sie kümmern sich um das Essen und die Kinder. Die Straße ist gerade noch als staubige Piste zu erkennen, wenige Fahrzeuge verirren sich hierher. Es gibt weder Schulen noch ärztliche Versorgung, jedenfalls nicht unterhalb eines Tagesmarsches. Kaum jemand kann lesen und schreiben. Aus dieser Geografie folgt zweierlei. Es ist relativ leicht, nach Afghanistan einzumarschieren. Das Land zu beherrschen dagegen erscheint auf Dauer unmöglich. Die Topografie des Landes eignet sich, anders als etwa im Irak oder in Syrien, hervorragend für einen endlosen Guerillakrieg. Wenn es in Afghanistan eines im Überfluss gibt, so sind es von Bergen gut geschützte Rückzugsräume. Gleichzeitig hat die Macht der Zentralregierung nie bis in die Tiefe der Provinzen gereicht. Die Bergwelten Afghanistans verhindern eine starke Zentralmacht ebenso wie fehlende staatliche Ressourcen. Gesellschaftlich wie politisch prägend sind Stämme und ethnische Gruppen, feudalstaatliche Verhältnisse haben sich vielfach bis heute bewahrt. Die Ersten, denen es jemals gelungen ist, das gesamte Land vollständig zu unterwerfen, sind die Taliban. Deren Machtbasis liegt jedoch nicht in Kabul oder den Städten, sondern im Hinterland. Die Geschichte Afghanistans ist geprägt von dauerhafter Kriegsführung und Gewalt. Nicht allein mit Blick auf äußere Invasoren, auch untereinander bekämpften sich afghanische Akteure, im Wettstreit um Weide und Wasser, Vorherrschaft oder Beute. Einigkeit unter den Afghanen gab es, wie die jüngere Geschichte unterstreicht, vor allem dann, wenn es einer ausländischen Bedrohung entgegenzutreten galt. Diese Erfahrung machten nacheinander die Briten, die Sowjets und zuletzt die USA/NATO. 1747 hielten Vertreter der Abdali-Stammesgruppen unweit von Kandahar, der zweitgrößten Stadt Afghanistans, eine Ratsversammlung, eine Jirga, ab. Zu ihrem neuen Anführer wählten sie den gerade einmal 25-jährigen Ahmed Khan, was einigen Unmut hervorrief. Doch ein lokaler Heiliger bescheinigte ihm, die größte Persönlichkeit unter den Anwesenden zu sein, und setzte ihm ein Weizenbündel als Krone auf. Dieses Bündel fand später symbolisch Eingang in die afghanische Nationalflagge. Gleichzeitig ernannte der Heilige den Gekrönten zur «Durr-i-Durran», zur «Perle der Perlen», woraufhin die Abdali ihren Stammesnamen in Durrani änderten. Diese Krönungsszene gilt vielen Afghanen als Geburt des neuzeitlichen Afghanistans, wenngleich dessen heutige Grenzen erst später, Ende des 19. Jahrhunderts, gezogen wurden – maßgeblich von der britischen Kolonialmacht. Bis zum kommunistischen Staatsstreich 1973 und der Abschaffung der Monarchie sollten die Durrani, wenngleich seit 1842 in einer Nebenlinie, die Könige des Landes stellen. Die Durrani gehören zur größten ethnischen Gruppe der Paschtunen. Wie heute die mehrheitlich ebenfalls paschtunischen Taliban sahen auch sie keinen Anlass, Nicht-Paschtunen an der Macht zu beteiligen. Das betraf und betrifft vor allem Tadschiken, Usbeken und Turkmenen im Norden und Westen sowie die schiitischen Hazara im Zentrum, Nachfahren turko-mongolischer Invasoren und die einzigen Nicht-Sunniten in Afghanistan von demografischer Bedeutung. Die Paschtunen sprechen das indogermanische Paschtu, die übrigen Bevölkerungsgruppen überwiegend Dari-Persisch, neben ihren jeweiligen Regionalsprachen. Paschtu und Dari sind die beiden Amtssprachen im heutigen Afghanistan. Ungeachtet der militärischen Erfolge Ahmed Khans, dessen Reich von Mashhad im Iran bis nach Delhi reichte und so auch das gesamte heutige Pakistan umfasste, war die Zeit plündernder Reiterheere abgelaufen. Europa stand am Vorabend der Industriellen Revolution, der Handel zwischen China und Europa verlagerte sich zunehmend auf die Weltmeere, während die jahrhundertelangen Überfälle auf die urbanen Zentren Zentral- und Mittelasiens weite Landstriche verwüstet und zerstört hatten. Auch die Seidenstraße war an Banditen gefallen und verlor ihre wirtschaftliche Bedeutung. Für knapp 100 Jahre war Afghanistan weitgehend sich selbst überlassen, interessierte sich die Weltpolitik nicht für das isolierte Bergland. Doch ihre Kampfbereitschaft und ihr Streben nach Autonomie gaben die afghanischen Stämme auch in dieser «Zwischenzeit» keineswegs auf – eine Folge nicht zuletzt ihrer vielfach noch nomadischen Lebensweise. Die Briten und ihre East India Company
Bis die Briten aktiv wurden. Nach dem Verlust ihrer nordamerikanischen Kolonien und dem Sieg über Napoleon bei Waterloo 1815 richtete sich das Interesse Londons verstärkt auf Indien, der späteren Kronkolonie und wichtigsten Ressource der werdenden Weltmacht. Anders als frühere Eroberer, die mit Waffengewalt fremde Territorien unterwarfen, war das Geschäftsmodell des britischen Imperiums in Indien ein ganz anderes – dort setzte man auf die wirtschaftliche Durchdringung des Landes, mit brachialen, frühkapitalistischen Methoden, die jeden Konkurrenten vom Markt verdrängten, nötigenfalls unter Einsatz von Kriegsschiffen und Kanonenbooten. Großbritannien war damals die führende Seemacht. Die ersten, die das zu spüren bekamen, waren die Franzosen und die Portugiesen, die ihre Besitzungen in Indien bereits im späten 18. Jahrhundert aufgeben mussten. Die entscheidenden Wegbereiter der britischen Unterwerfung Indiens waren Kaufleute und Großunternehmer, in Gestalt der Honourable East India Company. Sie interessierten sich vor allem für Rohstoffe, Gewürze und Tee und schafften es mittels einer ebenso durchdachten wie skrupellosen Politik des «teile und herrsche», mit nur wenigen Tausend Briten ein Hundert-Millionen-Volk zu unterwerfen. Insbesondere die Rekrutierung einheimischer militärischer Hilfstruppen, der Sepoys, erwies sich als kluger Schachzug. Jahrzehntelang blieb die Ostindien-Gesellschaft die treibende wirtschaftliche und politische Kraft. Britische Soldaten hielten sich im Hintergrund und griffen nur ein falls erforderlich, der Zustimmung Londons gewiss. Zugute kam diesen eng mit der britischen Oberschicht verwobenen Freibeutern, dass das...