E-Book, Deutsch, 396 Seiten
Lühmann Rachulle
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-86408-325-9
Verlag: Vergangenheitsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 396 Seiten
ISBN: 978-3-86408-325-9
Verlag: Vergangenheitsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie wird man ein deutscher Held? Fritz Eckhoff versucht sich daran. In einer Zeit, als man das von Jungen erwartete, in einer zerrissenen Epoche voller Widersprüche von Kaiserreich über Republik zur Diktatur. Fritz kämpft, glaubt, entwickelt sich, wird fallengelassen, verschwindet. Wir fiebern mit Fritz, lachen mit ihm, erkennen seine unheilvolle Welt: Die Berliner Familie Eckhoff gehört zum deutschen Bildungsbürgertum, das einen engen Kulturkanon pflegt. 'Moderne Musik', Bertolt Brecht, Thomas Mann werden abgelehnt. Eckhoffs fremdeln mit der Republik, schwärmen von deutscher Größe und von der Weltbedeutung des deutschen Geistes, der sich für sie in der Weimarer Klassik offenbart hat. Und doch entgleitet ihnen das Leben.
Bildungsbürgerlicher Kosmos und Nationalsozialismus
Meisterhaft erzählt Hinrich Lühmann von den Träumen, Brüchen und Verletzungen einer 'guten deutschen Familie', er fächert eine sensible Geschichte auf, die den Abgrund nachempfinden lässt, auf den alle 'Helden' dieses Romans hinsteuern. Lühmann, langjähriger Berliner Schuldirektor und Psychoanalytiker, gelingt es dabei, die Feinheiten eines Familiensystems in Zeit und Raum mit beeindruckender Sprachgewalt herauszuarbeiten. Eine deutsche Familiensaga. Ein Roman über die Lebenswirklichkeit von Ideologien und die Zerstörungskraft absolut gesetzter Ideale.
Memoir, Collage, Roman
Hinrich Lühmann gelingt eine vielschichtige Erzählung, in der er die Sprache seiner Protagonisten aus den realen Quellen herleitet und so eine verblüffende Authentizität herstellt. Quelle und Erfindung, Briefe und Roman verschmelzen. Hinrich Lühmanns Ich-Erzähler erklärt: 'Ich bin der Enkel, ich heiße Hans-Christian Eckhoff, ich weiß von nix. Die Großeltern haben geschwiegen. Mutter machte den Mund nicht auf. Jetzt sind sie tot, ich bin übrig. Ich habe gesucht, gefunden, habe erfunden. Ich erzähle, was sie mir hätten erzählen müssen.'
Wieviel Verständnis kann man für einen jungen Menschen und Nazi haben?
Die meisten Handlungsorte des Romans befinden sich in Berlin-Frohnau und auf der Schulinsel Scharfenberg, einer reformpädagogischen Schulgründung von 1920, auf der auch Lühmanns 'Held' prägende Zeiten verbringt, eh er sich von Familie und Freunden trennt und auf einem Gut in Schlesien eine Lehre antritt, besoffen von der NS-Ideologie, getrieben davon, als 'Mann' Hitlers 'Reich' seine Dienste zu erweisen, gleichzeitig angezogen vom Glauben und den Ideen der Bekennenden Kirche - letztlich ein Konflikt, der unauflösbar dasteht, Lühmanns Geschichte aber umso komplexer werden lässt. Fritz ist ein Verführter, ein Suchender, ein Glaubender, kein Gottloser, ein 'kleiner' Täter, in dem man so vieles von den schlechten deutschen Eigenschaften sieht, und der uns vorschnell moralisieren lässt: So verschlingen nationalistische Ideologien ihre Kinder. Aber Lühmanns Roman ist eben zu widersprüchlich. Gekonnt verwebt er klassische Bildungsideale, reformpädagogische Visionen, nationalistische Umtriebe, männerbündische Selbstspiegelungen und Irrungen, Kirche und Berlin als Bühnenbild so dicht, dass einfache Lehren eben nicht gezogen werden können und der Autor sogar das Kunststück vollbringt, seine Leserinnen und Leser Sympathie für einen Jungen, der Nazi wird, verspüren, sie selbst zu Verführten und schließlich Beschämten werden zu lassen. Nach einem solchen Wechselbad der Gefühle könnte man am Ende dieses bei aller Komplexität sprachlich so leichten Romans nicht nachdenklicher sein. Ein Buch, das ins Herz geht und den Kopf beschäftigt.
Hinrich Lühmann war Schulleiter des Berliner Humboldt-Gymnasiums, arbeitete 1983 bis 2010 auch als Psychoanalytiker in eigener Praxis und war 2011 bis 2018 Vorsteher der Bezirksverordnetenversammlung im Berliner Bezirk Reinickendorf.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1910: Auguste und ihr Bauer
Ich bin der Enkel, ich heiße Hans-Christian Eckhoff, ich weiß von nix. Die Großeltern haben geschwiegen. Mutter machte den Mund nicht auf. Jetzt sind sie tot, ich bin übrig. Ich habe gesucht, gefunden, habe erfunden. Ich erzähle, was sie mir hätten erzählen müssen. Beginnen wir mit der Großmutter, mit Auguste Eckhoff. 1910 hieß sie noch Auguste Schnoor und war, worauf sie entschieden Wert legte, Jungfrau. Die Schnoors lebten komfortabel in Potsdam, große Wohnung, Beletage, nicht weit vom Schloss. Die kleine Auguste sah mit aufgerissenen Augen den Vorbeiritt des Kaisers und seiner Paladine. Stählerner Gegenblick. Unvergesslich. Baucherschütternd, ohrenkitzelnd: Krachbumm-Tüdelüt. In schneeigen Wellen schäumen Federbüsche. Bonbonbeklebte Operettenuniformen, Schnüre gülden und grün, silberne Epauletten. Pferdekacke. Hurragebrüll, hoch in die Luft die Bürgerhüte! Ja, die Schnoors waren vermögend. Sie besaßen Mietshäuser und Wertpapiere. Die wurden von Friederike verwaltet. Vater Albert kümmerte sich nicht darum. Man sah ihn nur zum Abendbrot. Anscheinend war er hinreichend mit seiner Briefmarkensammlung beschäftigt – „Ich habe das ganze Empire in meinen Alben!“ Dass er auch über eine schöne Sammlung von Fotografien sizilianischer Knaben verfügte, sollte sich erst 1943 nach seinem Ableben herausstellen. Auguste hatte alle Hände voll zu tun, sie unbemerkt beiseitezuschaffen und zu verbrennen. Dabei ging auch die Briefmarkensammlung in Flammen auf. Dass sie wertvoll sein könne, zog die sonst so Praktische leider nicht in Betracht. An ihrem 18. Geburtstag, das war am 11. November 1910, wurde Auguste in das Schnoor’sche Schandgeheimnis eingeweiht. An einer kleinen Kaffee-Einladung zu ihren Ehren nahmen zwei Freundinnen mit ihren Müttern teil. Vater Albert durchirrte kurz den Raum – „lasst mich, ich störe hier nur!“ – und verschwand wieder. Ihr Bruder Konrad, zwei Jahre älter, Medizinstudent, war nicht dabei. „Habe Verpflichtungen!“ Wahrscheinlich war er bei seiner Burschenschaft. Stramm im Wichs. Schmisse. Kaiserlich-national. Man saß im Salon am runden Tisch, der mit besticktem Damast und Meissener Porzellan gedeckt war, in der Mitte prangte ein Kuchen, den die Perle des Hauses bereitet und an den Mutter Friederike letztgestaltende Hand angelegt hatte. Dem kunstvollen Aufbau hatte sie eine Zuckergusslilienblüte aufgesetzt, schneeweiß, umrandet von grünen Ranken. Als die Gäste gegangen waren, setzte sie sich mit Auguste in einen Erker des Salons. Was sie zu sagen hatte, war heikel und verstörend. Sie drückte das Kreuz durch und sagte: „Auguste! Queen Victoria ist deine Tante.“ Englands Königin war seit zehn Jahren tot. Auguste erinnerte sich sehr gut, wie erschüttert alle waren. „Die Queen ist tot! In des Kaisers Armen gestorben!“ – den Aufschrei ihrer Mutter vergaß sie nicht. Die Trauer im Haus. Die leisen Schritte. Die zuckenden Schultern. Das an den Mund gepresste Taschentuch. Der Vater versteinert am Fenster. Friederike informierte ihre Tochter, dass Albert Schnoor, Augustes Vater, die Frucht eines Seitensprunges sei. „Queen Victorias Gatte, Prinzgemahl Albert, der Frühverstorbene, er hatte einen Bruder: Ernst, Herzog von Coburg-Gotha. Der hat sich, zu Besuch in Potsdam, hier nebenan, sagen wir: vergessen, und zwar mit einer leider sehr einfachen Bediensteten des Hofes. Nun ja, einem Zimmermädchen aus dem Brandenburgischen. Ein Malheur, dessen Ergebnis dein lieber Vater ist. Er ist fürstlichen Geblüts, wenn auch nur zur Hälfte. Herzog Ernst, der Bruder des britischen Prinzgemahls Albert, ist dein Großvater. Du bist eine Coburg-Gotha, unseres Kaisers Cousine.“ Zu einem Viertel, präzisierte Auguste, zu einem anderen Viertel Brandenburger Landei, behielt diese Berechnung aber für sich. Friederike fuhr fort: Die gastgebende Hohenzollernfamilie habe das für diese Fälle übliche Verfahren angewandt, und einen mittleren Hofbeamten, Tobias Schnoor mit Namen, dem in seinem langen Leben aus eigener Kraft keine Eheverbindung und auch kein Kind geglückt waren, dafür gewonnen, das verführte Mädchen zu ehelichen, das leider bald nach der Geburt ihres Sohnes Albert verstarb. „Coburg-Gotha trug Sorge, dass der Vaterstellvertreter und nach seinem Hinschied sein Ziehsohn, dein Vater, sehr großzügig alimentiert wurden. Albert heißt er nach dem Prinzgemahl der Queen, Schnoor nach dem beamteten Ersatzpapa.“ Auguste, die die planende Resolutheit ihrer Mutter längst übernommen hatte, nahm diese Eröffnung gefasst auf. Ihre Hoffnung, in die Ebene des Potsdamer Rates hineinzuheiraten, ganz nach oben – der Sohn des Bürgermeisters suchte ihre Nähe –, hatte sich erledigt. Ihr Familienschaden bedeutete eine nicht durch Geld zu heilende Ehrengrenze und machte sie in den höchsten Kreisen als Partie unmöglich. Auguste weinte nicht. Sie sagte leise vor sich hin: „Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann.“ Und nach einer Pause: „Also dann der Bauer?“ „Dann wohl der Bauer!“, antwortete ihre Mutter, „Bettelmann ist er hoffentlich nicht.“ Bälle waren der Potsdamer Heiratsmarkt. Sie wurden reihum in den Salons der führenden Familien veranstaltet. Auguste war in Begleitung ihrer Mutter eine der vielen jungen Damen, die dort auf geeignete Ehekandidaten warteten. Unter dem Gesichtspunkt der Einheirat in das Potsdamer Patriziat war sie am Sohn des Bürgermeisters interessiert, der sich sehr um sie bemühte. Das Schnoor’sche Vermögen war ein starkes Motiv seiner Zuneigung. Ein sehr stämmiger, blonder Offizier. Körperlich passten die beiden nicht zueinander, sie war zu hüfthoch. Mit ihrem Vogelköpfchen blickte sie auf ihn nieder, er glupschte zu ihr auf. Weniger interessiert, obwohl sie seine kräftige Körperlichkeit mochte, war sie am Oberlehrer Dr. Johannes Eckhoff, dem es gelungen war, zu einem dieser Bälle eingeladen zu werden. So recht passte er dort nicht hin, wer für seine Einladung gesorgt hatte, blieb im Verborgenen. Vielleicht war es Augustes Mutter Friederike gewesen, die sich in realistischer Einschätzung der Chancen ihrer Tochter frühzeitig nach geeigneten Kandidaten umsah und dabei der Tatsache Rechnung trug, dass dieser noch unbeweibte Lehrer am Potsdamer Oberlyzeum immerhin ein Doktor und Staatsbeamter und bereits Oberlehrer war. Auguste schwärmte von seiner würdigen Erscheinung und seiner klugen Suada, als er vertretungsweise für einige Stunden die Unterprima des Lyzeums übernommen hatte. Unter den taxierenden Blicken ihrer Mutter hatte er Auguste zu einigen Tänzen aufgefordert und mit ihr unfallfrei die Tanzfläche umrundet. Ein Tänzer war er nicht, seinen Schritten war das schnell Einstudierte anzumerken: stampfendes Schreiten. Er wirkte gleichwohl durch seine Körpergröße sowie durch einen hervorstehenden tiefschwarzen Kastenbart, hinter dem sich ein kleingekrümmtes Mündchen verbarg, und die Fähigkeit zu weitausgreifender, überwiegend belehrender und fromm grundierter Konversation. Ein Lehrer, und sei er auch bereits Oberlehrer, war nicht Augustes Wunschkandidat, auch wenn sie für seinen Unterricht schwärmen mochte und ihn sehr ansehnlich fand. Zudem stammte er, wie Friederike erkundet hatte, aus einer Bauernfamilie. Der also kam für Auguste nicht infrage. Eigentlich. Nun aber doch. Er würde wollen. Ein Lehrer, dazu noch Bauernsohn, musste dankbar sein, in eine so wohlsituierte Familie, wie es die Schnoors nun einmal waren, einheiraten zu dürfen. Die Problematik ihrer Herkunft wäre da wohl zu vernachlässigen. Und so kam es denn auch. Der Oberlehrer Dr. Johannes Eckhoff wurde zu einem Besuch ermuntert. Nachdem er der Mutter einen etwas zu üppigen Blumenstrauß in die Hand gedrückt hatte – sie lobte das Gebinde und reichte es rückwärts an das Dienstmädchen weiter –, und nachdem er eine halbstündige Kaffeetischkonversation mit ihr und Auguste hinter sich gebracht hatte, wurde Auguste in ihr Zimmer geschickt, und er wurde von Friederike nach der Ernsthaftigkeit seiner Absichten befragt. Sie nahm seinen Antrag mit Kopfnicken entgegen, sie hatte nichts anderes erwartet. Dann sagte sie: „Bevor Sie sich mit Ihrem Anliegen an meinen Gatten wenden, der natürlich darüber zu entscheiden hat, muss ich Sie unter dem Siegel der Verschwiegenheit noch über einen besonderen Umstand in Kenntnis setzen.“ In wenigen Worten informierte sie ihn über den Familienmakel. Er sagte, dass er für das Vertrauen danke, aber in dem mehr als fünfzig Jahre zurückliegenden Fehltritt des fürstlichen Großvaters kein Ehehindernis sehe. Was daran sündhaft sei, möge der seit Langem verblichene Fürst Ernst mit seinem Herrgott ausmachen, Albert Schnoor, dem Sohn des Fürsten, und seiner Tochter, dem verehrten Fräulein Auguste, sei das nicht...