Lüscher / Zichy | Der populistische Planet | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 6437, 191 Seiten

Reihe: Beck Paperback

Lüscher / Zichy Der populistische Planet

Berichte aus einer Welt in Aufruhr

E-Book, Deutsch, Band 6437, 191 Seiten

Reihe: Beck Paperback

ISBN: 978-3-406-76706-7
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Hat die "Elite" tatsächlich den Kontakt zum "Volk" verloren? Was bedeutet es wirklich, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen? Was verbirgt sich hinter der Floskel "Das muss man doch noch sagen dürfen"? Eine internationale Gruppe von Denkerinnen und Denkern stellt die gängigen Erzählungen der Populisten in unterschiedlichen Ländern zur Debatte.

Rechte und linke Populisten auf der ganzen Welt eint dieselbe Erzählung: Der Staat befinde sich in der Hand einer abgehobenen, globalistisch denkenden, meist urbanen Elite, die den Kontakt zu den "normalen" Bürgerinnen und Bürgern längst verloren habe und die alltäglichen Sorgen des "Volkes" gar nicht mehr nachvollziehen könne. Sie aber, die Populisten, gehörten nicht zu dieser Elite und sie würden daher als einzige die Ängste der Bürgerinnen und Bürger verstehen, offen artikulieren und ernst nehmen. Der Schriftsteller Jonas Lüscher und der Philosoph Michael Zichy haben eine diverse Gruppe zusammengestellt, um den Gemeinsamkeiten, aber auch den Unterschieden zwischen den vielen Erscheinungsformen des Populismus unter den Vorzeichen unterschiedlicher gesellschaftlicher, ökonomischer und religiöser Bedingungen nachzuspüren. In globalen Gesprächen zwischen Budapest, Kairo, Brasilia, Nairobi, Moskau, Salzburg und Zürich ist so ein Buch über einen populistisch infizierten Planeten entstanden. Es zeigt, warum sich die Welt vielerorts in Aufruhr befindet – und was es konkret bedeutet, in einem bestimmten Land unter einer populistischen Regierung leben zu müssen. Mit Beiträgen von Jonas Lüscher, Michael Zichy, Maria Stepanova, Youssef Rakha, Yvonne Owuor, Carol Pires, Naren Bedide und Ágnes Heller.

Mit Beiträgen von Jonas Lüscher, Michael Zichy, Maria Stepanova, Youssef Rakkha, Yvonne Owuor, Carol Pires, Naren Bedide und Ágnes Heller.
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Yvonne Adhiambo Owuor:
Der undurchdringliche Schatten unserer Existenzkrise
Nairobi, 23. April 2019 Liebe Freundinnen und Freunde, darf ich Euch in zwei Teilen antworten? Der erste ist eine allgemeine Erörterung des metaphorischen Terrains, der zweite ist ein wenig persönlicher, und dazwischen liegen mehr Fragen als Anregungen. Zunächst, ein Geständnis. Die Position, aus der ich mich dem Thema annähere? In einem Wort: schadenfreud’sch. Warum? Der Ort, der Raum und die Zeit, die das Thema hervorbrachten; die Tatsache, dass man ein Geschöpf aus einer jener nachaufklärerischen, von der Welt erdachten Alteritäten ist, der Orte, deren tatsächliche Existenz- und Bedeutungsnarrative überschrieben und dann anderswo beharrlich neugestaltet worden sind, mit einer auferlegten Sprache, die nicht von ihnen stammt, deren Lebenserfahrungen als «exotisch» oder «absurd» behandelt werden, deren Erleben des sogenannten Populismus als menschliche Anomalien abgetan wurden und nicht als Anzeichen dafür, was sich in jeder menschlichen Gesellschaft und zu jeder Zeit entfalten kann; deren Bevölkerung zu lange endlose Predigten von mehrheitlich europäischen oder amerikanischen weltlichen Missionaren erduldet hat, die ihnen die Vorzüge einer säkularen Dreifaltigkeit aus «Demokratie», «Menschenrechten» und «Rechtsstaatlichkeit» darlegten, und die in vergeblicher, zorniger Hilflosigkeit zusehen musste, wie jene unheilige Dreifaltigkeit Ländern wie Irak, Libyen oder Afghanistan von ähnlich gesinnten Predigern gewaltsam auferlegt worden ist, und das ohne jedes Verständnis für die Ironie, dass Millionen Menschen dabei den Tod fanden und finden … nun, da ich von so einem Ort stamme …, bin ich zutiefst erstaunt über die Vielfalt des menschlichen Widerstands, der sich gegen das, was einst als Zustand einer «progressiven», «normalen» Weltordnung verstanden wurde, regt. Es muss sich eine philosophische oder theologische Bestätigung dafür finden, dass es eine Grenze gibt, bis zu der der menschliche Geist Heuchelei ertragen kann, bevor er nach einem Ausweg sucht und jedem beliebigen Menschen folgt, der ihm diesen neuen Weg verspricht. Wie dem auch sei, nun zum Thema Populismus. Zunächst einmal, warum sind wir hier? Nein, nicht «wir», die flüchtige digitale Gemeinschaft von Ideen, sondern Wir, die Menschheit? Ja, ja, ich werde jetzt ein wenig ontologisch. Um es noch komplizierter zu machen, widme ich mich auch noch der Axiologie: Was wertschätzen wir? Was halten wir für besser? Ferner, wenn ich «wir» sage, gehe ich dann davon aus, dass «unser» aller Empfinden und Wahrnehmen von und Denken über bestimmte Werte, Prinzipien und Ideale gleich ist? Was ist mit denen unter uns, die sich mehr und mehr der Ansicht einer «Pluriversalität» verschreiben (wie sie etwa Franz Hinkelammert, Enrique Dussel, Raymundo Pannikar und natürlich Walter Mignolo nahelegen, also im Wesentlichen der Auffassung, die die Vorstellung des vermeintlich «Universalen» ablehnt)? Sollte der derzeit einen Teil unseres Pluriversums beherrschende «Populismus» uns überhaupt interessieren? Warum sollen wir uns mit etwas auseinandersetzen, das in jedem Ausmaß und zu jedem Zweck lediglich eines von einer Reihe verstörender Phänomene ist, die dieses scheinbar apokalyptische Zeitalter prägen? Ist das derzeitige Unbehagen über den Populismus in Anbetracht dessen gerechtfertigt, dass er schließlich der kollektiven Menschheitserfahrung keineswegs fremd ist? Was genau liegt diesem Unbehagen der kollektiven Seele zugrunde? Die Angst vor der Rückkehr und dem Aufmarsch eines nur allzu vertrauten ruhelosen Geistes oder die unterdrückte Trauer über den Verlust scheinbarer Gewissheiten? Dem allgemeinen Verständnis nach ist der Populismus unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass sich zu irgendeinem Zeitpunkt ein Demagoge auf ein Podium schwingt und im Namen «des Volkes» zumeist rechtswidrige Parolen schreit. Das «Schreien» ist ein Thema an sich und muss gesondert betrachtet werden. Es scheint, als ob der schnellste Weg des politischen Aufstiegs selbst in Europa und Amerika darin bestünde, den Glaubenssätzen und Prinzipien der politischen Korrektheit eine lange Nase zu drehen. Da muss man sich fragen, ob ein Teil der Ausbreitung dessen, was heutzutage in der liberalen Presse als Geschwür wahrgenommen wird, der Abwesenheit von Foren geschuldet ist, in denen man sich direkt äußern kann, ohne vorherige Prüfung auf Anzeichen allgemeiner Unruhestiftung. Es ist einfacher, sich zur Menge derer zu gesellen, die ihre Liebe zur «Demokratie» verkünden, als dem inneren Verlangen nachzugeben, von einem Caudillo regiert zu werden, besonders wenn der, der dieses Verlangen hegt, ebenfalls ein gebildeter Mensch ist. Als afrikanische Weltenbummlerin, die sich in verschiedene Räume menschlicher Begegnungen vorwagt, augenscheinlich freundlich gesinnt ist und für niemanden Partei ergreift, sah ich einige in der Öffentlichkeit aufrechterhaltene Fassaden im privaten Umfeld bröckeln. Vor zwei Jahren speiste ich mit einem Evolutionsbiologen, der später in sarkastischem Tonfall gestand, er habe Mr. Donald John Trump gewählt und wünsche dem 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten ein langes Leben. Das hätte er nie gefahrenlos in der Öffentlichkeit oder gegenüber Gleichgestellten einräumen können. Er wusste, dass er dann diffamiert, abgestempelt und ausgebuht worden wäre und anschließend seine Stelle verloren hätte. Aufgestauter Druck wird ein Ventil finden, selbst wenn er dadurch eine schreckliche Explosion auslöst, oder etwa nicht? Nun stellt sich eine weitere Frage: Trägt so etwas dazu bei, die Vorstellung von «Demokratie» zu begrenzen? Und ist ebendies denn nicht der Samen für eine Auflehnung gegen Einschränkungen, ist es nicht das, was in «Populismus» (oder Ethnochauvinismus, Ethnonationalismus, Tribalismus) umschlägt? «Alles ist miteinander verbunden», heißt es oft, und nichts ist mehr verbunden oder zusammenhängend als die Vergangenheit mit der Gegenwart. Jenseits des Anspruchs, jenseits von dessen Synonymen, welch verstörende Frage lauert da im menschlichen Kollektivbewusstsein? Was fürchten die Menschen so, dass jeder falsche Prophet nicht nur Gehör, sondern auch eine Wählerstimme findet? Was hat eine Gesellschaft, die sich vom Populismus gestört fühlt, als Gegennarrativ oder Erkenntniskritik zu bieten, die machtvoll und inspirierend genug sind, um diese Energie zu zerstreuen? Und die Betrachtung dieser Fragen birgt eine weitere Wahrheit in sich, die ans Tageslicht kommen muss – nämlich unsere beständigste Menschheitsangst, die Angst vor dem Fremden. Die Angst, die unsere wundervolle Welt an den Abgrund geführt hat. Der bescheidene Umfang dieses Briefes gestattet es mir nicht, mich in und durch die Wunden der Menschheit zu graben und zu deren Ursache vorzudringen, zur Wurzel, aus der sich die derzeitige Existenzkrise speist. Was nun als Populismus (Ethnochauvinismus, Ethnonationalismus, Tribalismus) bezeichnet wird, kommt nicht von irgendwo, sondern ist das Ergebnis vererbter Denkmuster, der Vorstellung von Regierungshandeln und der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit damit. Seine Ausprägung unterscheidet sich je nach Kontext. Im angloamerikanischen Raum fallen die aggressivsten Reaktionen mit dem Zustrom derer zusammen, die als «fremd» betrachtet und in schöner Regelmäßigkeit verzerrt dargestellt werden. Aber warum ist das so? Welchem Erkenntnissinn entspringt dieser Impuls? Wenn sich das herausfinden ließe, könnte man dann direkt benennen, welches «Unbehagen» das Symptom im Menschen verursacht, das wir heute als «Populismus» kennen? Und welchen Sinn hätte das? Was ist das beste zur Verfügung stehende «Angebot», das es aus sich heraus vermag, die positiven Sehnsüchte jener zu wecken, die nun auf der Suche nach volksverhetzenden Erlösergestalten sind, die ihren Träumen (und anderer Leute Albträumen) Ausdruck verleihen? Ist das überhaupt möglich? Dennoch ist es faszinierend zu lesen, wie sich Absicht und Bedeutung des Populismus schneller als die Versprechen eines kenianischen Politikers gewandelt haben, seit der Begriff erstmals 1891 bei der Gründung der Populist Party in den USA auftauchte. Seine Existenz wurde von innerem Tribalismus, Rassismus und Exklusivismus korrumpiert – plus ça change, plus c’est la même chose (Was sich auch ändert, es bleibt doch alles gleich). Das machte ihn dafür anfällig, dass andere jederzeit und auf jede Art von ihm Besitz ergriffen. Seine Kernbestandteile werden noch immer durch die Unzufriedenheit des Volkes aufgerüttelt, durch empfundene Ungleichheiten, er spricht die heimlichen Sorgen der Menschen an,...


Jonas Lüscher ist Schriftsteller. Seine Novelle "Frühling der Barbaren" entwickelte sich zum Bestseller, stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und war nominiert für den Schweizer Buchpreis. Sie wurde inzwischen in rund 20 Sprachen übersetzt. Lüschers Roman "Kraft" gewann den Schweizer Buchpreis. Jonas Lüscher erhielt außerdem u.a. den Hans-Fallada-Preis und den Prix Franz Hessel.

Michael Zichy ist Außerordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Salzburg.


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