Lussu | Ein Jahr auf der Hochebene | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Lussu Ein Jahr auf der Hochebene


2. Auflage 2017
ISBN: 978-3-99037-074-2
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-99037-074-2
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Das literarische Hauptwerk über den Dolomitenkrieg aus italienischer Sicht - mitfühlend, ungehorsam, demokratisch. Emilio Lussu befehligt als junger Offzier 1916/17 die 'Brigata Sassari' auf der Hochebene von Asiago, auf der italienischen Seite der Dolomitenfront. Er notiert frei von Pathos und Sentimentalität Ereignisse eines Kriegsjahres - mit den 'namenlosen' Soldaten als den eigentlichen Protagonisten. Der Roman erzählt den Militarismus in seinen tragischen und komischen ebenso wie in seinen irren Episoden, etwa in der Gestalt des Generals Leone, der den Krieg um des Krieges willen liebt und seine Soldaten in den sicheren Tod schickt, oder in Gestalt des sardischen Bauernburschen, der das erste Mal seine Insel verlassen hat. Eines der wichtigsten Bücher über den Ersten Weltkrieg - auch 100 Jahre danach.

Emilio Lussu, geboren 1890 auf Sardinien, 1915-1918 hochdekorierter Offzier, 1919 Mitbegründer der autonomistischen Sardischen Aktionspartei, 1921-1925 Abgeordneter im italienischen Parlament. Mitbegründer der antifaschistischen Widerstandsbewegung 'Giustizia e Libertà'. 1945-1948 Minister, bis 1968 Senator. Gestorben 1975 in Rom. Bei Folio erschienen: Marsch auf Rom und Umgebung.
Lussu Ein Jahr auf der Hochebene jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


1


Ende Mai 1916 lag meine Brigade – sie bestand aus den Regimentern 399 und 400 – noch im Karst. Seit dem Beginn des Krieges hatte sie nur an dieser Front gekämpft. Das Leben dort war für uns zur Qual geworden. Jede Handbreit Boden erinnerte uns an ein Gefecht oder an die Gräber gefallener Kameraden. Wir hatten Schützengräben, Schützengräben und wieder Schützengräben erobert. Zuerst jene der , dann jene der und schließlich jene der . Aber die Lage blieb unverändert. War ein Schützengraben genommen, musste der nächste erobert werden. Triest lag immer gleich fern, müde sich im Hafen spiegelnd. Unsere Artillerie wollte keinen Schuss auf die Stadt abfeuern. Doch unser Armeekommandant, der Herzog von Aosta, erwähnte Triest in all seinen Tagesbefehlen und Reden, um die Soldaten anzufeuern.

Der Herzog, ein Prinz des königlichen Hauses, war militärisch nicht sehr begabt, doch von einer großen literarischen Leidenschaft beseelt. Er und sein Generalstabschef ergänzten einander: Der eine verfasste die Reden, der andere trug sie vor. Der Herzog lernte sie auswendig und rezitierte sie in fehlerfreier Diktion, wobei er die Haltung altrömischer Redner annahm. Die ziemlich häufigen großen offiziellen Feiern wurden eigens für solche rednerischen Auftritte veranstaltet. Unglücklicherweise war der Generalstabschef kein Schriftsteller. So kam es, dass man in der Armee trotz allem den die Reden vortragenden General höher einschätzte als die Begabung des sie verfassenden Generalstabschefs. Der General hatte auch eine schöne Stimme. Davon abgesehen, war er reichlich unpopulär.

An einem Nachmittag im Mai erreichte uns die Nachricht, der Herzog habe – um die Brigade für die vielen Leiden und Opfer zu belohnen – angeordnet, uns für einige Monate zur Retablierung in die Etappe zu schicken. Auf diese Nachricht folgte der Befehl, wir sollten uns bereithalten, von einer anderen Brigade abgelöst zu werden. Die Nachricht musste also wahr sein. Die Soldaten nahmen sie freudig auf und ließen den Herzog hochleben. Endlich bemerkten sie, dass es gewisse Vorteile mit sich brachte, einen Prinzen des königlichen Hauses als Armeekommandanten zu haben. Nur einem solchen war es ja möglich, eine so lange Ruhezeit so fern der Front zu erwirken. Bis dahin hatten wir unseren Retablierungsturnus immer nur ein paar Kilometer hinter den Schützengräben, unter dem Feuer der feindlichen Artillerie verbracht. Der Koch des Divisionskommandanten habe es dem Diener des Obersten anvertraut – und das Gerücht hatte sich in Blitzeseile verbreitet –, dass die Retablierungszeit nach dem Willen des Herzogs in einer Stadt zu genießen sein werde. Zum ersten Mal während des ganzen Krieges begann der General populär zu werden. Sogleich erzählte man sich das Allerbeste über ihn, und es hieß sogar, der Herzog habe sich ernstlich mit dem General Cadorna gestritten, um die Ansprüche unserer Brigade zu verteidigen. Die Geschichte machte die Runde von Einheit zu Einheit und wurde überall geglaubt.

Die Brigade wurde abgelöst; noch in der gleichen Nacht stiegen wir in die Ebene hinunter. In zwei Etappen erreichten wir Aiello, ein Städtchen unweit der alten Grenze.

Unsere Freude war überwältigend. Endlich wieder leben! Was planten wir nicht alles! Nach Aiello würde es in eine große Stadt gehen. Vielleicht nach Udine – wer wusste das schon?

Zur Essenszeit rückten wir in Aiello ein, an der Spitze mein Bataillon, das dritte, dem die 12. Kompanie voranmarschierte.

Die 12. Kompanie wurde von einem Kavallerieoffizier geführt, dem Reserveoberleutnant Grisoni. Er war Ordonnanzoffizier unseres Brigadekommandeurs gewesen. Nachdem dieser, durch eine Granate verwundet, gestorben war, hatte Grisoni gebeten, in der Brigade bleiben zu dürfen. Nun diente er meinem Bataillon. Als Kavallerieoffizier konnte er nicht ohne Weiteres einer Infanterieeinheit zugeteilt werden, aber der Kavalleriebefehlshaber hatte ihm eine Sonderbewilligung erteilt und obendrein das Recht zugestanden, Pferd und Ordonnanz beizubehalten. Grisoni war in der ganzen Brigade bekannt. Am 21. August 1915 hatte er mit nur vierzig Freiwilligen in einem Handstreich den , eine feste, von einem Bataillon Ungarn verteidigte, vorgeschobene Grabenstellung erobert. Die Aktion hatte extreme Kaltblütigkeit erfordert. Seine Berühmtheit wurde indes durch ein anderes Unternehmen begründet. Grisoni war eines Abends – wir lagen gerade in Ruhestellung und hatten ohne übertriebene Mäßigung einige piemontesische Weine durcheinander getrunken – gleichfalls handstreichartig hoch zu Ross in den Saal des Offizierskasinos eingedrungen, in dem gerade der Oberst mit den Offizieren des Regimentsstabes speiste. Grisoni sprach dabei kein Wort, doch schien das Pferd mit der militärischen Hierarchie vollkommen vertraut. Es vollführte heftig wiehernd einige Volten rund um den Obersten. Der Vorfall wurde sehr unterschiedlich beurteilt, und um ein Haar wäre der Oberleutnant zur Kavallerie zurückgeschickt worden.

Das Bataillon defilierte im Gleichschritt über den Platz vor dem Rathaus. Auf der Rathausseite standen der Kommandant der Brigade, der Regimentskommandant und die Vertreter der zivilen städtischen Behörden.

Die Kompanie an der Spitze, in Viererreihen marschierend, machte einen martialischen Eindruck. Die Soldaten waren über und über verdreckt, doch gerade die Felduniform ließ die Parade noch feierlicher erscheinen. Auf der Höhe der Obrigkeit angelangt, richtete sich Grisoni in den Steigbügeln kerzengerade auf und befahl, zur Kompanie gewandt:

„Links schaut!“

Es war der Gruß für den Brigadekommandanten.

Es war aber auch das vereinbarte Zeichen für den ersten Zug, in Aktion zu treten. Sogleich erklang eine sorgsam einstudierte Marschmusik. Die Trompete, eine große, blecherne Kaffeekanne, schmetterte das Habtacht-Signal, und ein Akkord unterschiedlichster Instrumente fiel ein. In der Mehrzahl handelte es sich dabei um improvisierte Instrumente, die sehr viel Lärm erzeugten und solcherart den Marschtritt begleiteten. Als Tschinellen dienten die Deckel der Essgeschirre. Die Trommeln waren Reste alter, unbrauchbar gewordener Trainfässer, die fachmännisch zugerichtet worden waren. Statt der Klarinetten, Flöten und Kornette gab es nur die hohlen Fäuste: Aber die Spezialisten verstanden es, bald diesen, bald jenen Finger hebend, überaus eindrucksvolle Töne hervorzubringen. Insgesamt ergab dies eine wundervolle Komposition kriegerischer Heiterkeit.

Das Gesicht des Brigadekommandanten verfinsterte sich zunächst, aber schließlich lächelte er. Er war ein vernünftiger Mann. Also erschien es ihm nicht ungehörig, dass Soldaten, die das ganze Jahr in Dreck und Feuer gelebt hatten, sich ein derartiges Vergnügen erlaubten, wenn es auch gegen das Reglement verstieß.

Das ganze Regiment quartierte sich in Aiello ein.

Am Nachmittag lud der Bürgermeister die Offiziere zum Umtrunk. Mit bebender Stimme las er seine Ansprache ab: „Es ist mir eine große Ehre … Im ruhmreichen Krieg, den das italienische Volk kämpft, unter der genialen und heldenmütigen Führung Seiner Majestät des Königs …“ Beim Wort nahmen wir pflichtgemäß, unter knallendem, gleichzeitigem Zusammenschlagen der Hacken und Sporen, Habtacht-Stellung ein. Der plötzliche Lärm des militärischen Saluts hallte im Rathaussaal wie ein Schuss. Der Bürgermeister hatte als ahnungsloser Zivilist nicht voraussehen können, dass die beiläufige Erwähnung des Monarchen eine derart dröhnende Loyalitätsbekundung auslösen würde. Er war ein würdiger Mann und hätte, wäre er darauf vorbereitet gewesen, diesen patriotischen Akt sicherlich gebührend gewürdigt. Aber so wurde er völlig überrascht; er zuckte zusammen, vollführte einen kleinen Sprung, der ihn um einige Zentimeter über sein Körpermaß hinaushob, und wurde kreidebleich. Sein Blick ruhte unsicher auf der Gruppe der bewegungslosen Offiziere. Er wartete. Das Blatt mit der aufgesetzten Rede war ihm aus der Hand gefallen und lag wie ein armer Sünder zu seinen Füßen. Der Oberst lächelte; er tat es sichtlich aus ehrlicher Freude, befriedigt von der Tatsache, dass hier die Überlegenheit der militärischen Autorität über die zivile – wenn auch nur vorübergehend – in so eindeutiger Form bekundet worden war. Mit dem Ausdruck verhaltenen Stolzes, den keiner sich aneignen kann, der nicht lange Zeit Truppen befehligt hat, glitt sein Blick vom Bürgermeister zu uns und wieder zurück zum Bürgermeister. Der Oberst war entschlossen, jenem Funken Bosheit, der auch im Herzen des mildesten Menschen glimmt, nachzugeben und den Bürgermeister noch nachhaltiger zu beeindrucken. Er kommandierte:

„Meine Herren Offiziere, es lebe der König!“

„Es lebe der König!“, wiederholten wir. Wir...


Emilio Lussu, geboren 1890 auf Sardinien, 1915–1918 hochdekorierter Offzier,

1919 Mitbegründer der autonomistischen Sardischen Aktionspartei, 1921–1925 Abgeordneter im italienischen Parlament. Mitbegründer der antifaschistischen Widerstandsbewegung "Giustizia e Libertà". 1945–1948 Minister, bis 1968 Senator. Gestorben 1975 in Rom.
Bei Folio erschienen: Marsch auf Rom und Umgebung.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.