E-Book, Deutsch, Band 3, 550 Seiten
Reihe: Lost Land
Maberry Lost Land 3: Lost Land
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-522-62109-0
Verlag: Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Finsternis
E-Book, Deutsch, Band 3, 550 Seiten
Reihe: Lost Land
ISBN: 978-3-522-62109-0
Verlag: Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jonathan Maberry (geboren 1958) hat nach einer beachtlichen Karriere als Jiujitsu-Kämpfer eine Reihe von übernatürlichen Horror-Romanen verfasst, ist New-York-Times-Bestseller-Autor und wurde mehrfach mit dem Bram-Stoker-Award ausgezeichnet. Er verfasst Graphic Novels für Marvel Comics und Drehbücher für Spielfilme wie 'Wolfman'. Mit 'Lost Land - Die erste Nacht' startet er eine post-apokalyptische Serie für Jugendliche. Jonathan Maberry lebt in Warrington, Kentucky.
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Eine Viertelstunde zuvor hatte noch nichts und niemand versucht, Benny Imura zu töten.
Benny hatte auf einem flachen Stein gesessen, sein Schwert geschärft und gegrübelt. Er war sich der Tatsache bewusst, dass er grübelte. Er hatte sogar eine grüblerische Miene parat, für den Fall, dass andere Leute in seine Nähe kamen. Aber jetzt, da er sich unbeobachtet fühlte, ließ er seine Maske fallen. Die melancholischen Gedanken gingen tiefer und waren sinnvoller, wenn er mit sich allein war, doch sie machten auch weniger Spaß. Wenn man mit sich allein ist, kann man keinen Witz reißen, um den Augenblick erträglicher zu machen.
Seit er von zu Hause fort war, hatte es für Benny nur wenige Augenblicke gegeben, die sich gut anfühlten.
Im Moment stand er auf einer Straße, etwa eine Meile von einem Wald aus knorrigen Wüstenbäumen entfernt, tief im Süden Nevadas, wo er und seine Freunde kampiert hatten. Mit jedem Schritt, den er auf der Suche nach dem Flugzeug machte, das er und Nix gesehen hatten, entfernte er sich weiter von zu Hause als jemals zuvor.
Die Vorstellung, Mountainside zu verlassen, war ihm immer verhasst gewesen. Die kleine Stadt hoch oben in den Bergen der Sierra Nevada, im Herzen Kaliforniens, war sein Zuhause und bedeutete ein Bett, fließendes Wasser und frisch gebackenen Apfelkuchen auf der Veranda. Aber dieses Zuhause hatte er mit seinem Bruder Tom geteilt. Ganz Mountainside war seine Heimat gewesen, zu der auch Nix und ihre Mutter gehört hatten.
Doch jetzt waren Nix’ Mutter und Tom tot. Sein Zuhause existierte nicht mehr.
Während sich nun die Straße vor Benny, Nix, Chong und Lilah erstreckte und hinter ihnen zur Erinnerung wurde, hatte sich die weite Welt hier draußen verändert. Sie war nicht länger etwas Hässliches, vor dem man sich fürchten musste, sondern wurde allmählich zu Bennys neuem Zuhause.
Er war sich nicht sicher, ob ihm das gefiel, aber seltsamerweise schien es, als ob er genau das gebraucht, vielleicht sogar verdient hatte. Kein Komfort. Kein sicherer Zufluchtsort. Die Welt war brutal, diese Wüste unerbittlich, und Benny wusste: Wenn er hier überleben wollte, musste er wesentlich härter werden. Sogar noch härter als Tom, denn sein Bruder war nicht mehr am Leben. Darüber grübelte Benny nach, während er auf dem Stein saß und sorgfältig sein Kami Katana schärfte, das lange Schwert, das einst Tom gehört hatte.
Das Schärfen eines Schwerts ließ sich perfekt mit dem Grübeln verbinden. Die Klinge musste gepflegt werden und das erforderte Konzentration. Ein konzentrierter Geist war wesentlich agiler, wenn er sich durch den Hindernisparcours aus Gedanken und Erinnerungen bewegte. Auch wenn Benny bis in sein tiefstes Inneres hinein traurig war, so fand er doch eine gewisse Befriedigung in den Entbehrungen der Straße und in der Geschicklichkeit, die es erforderte, diese tödliche Klinge zu schleifen.
Während er sich seinem Schwert widmete, schaute er gelegentlich auf. Er hatte noch nie eine Wüste gesehen und die Schlichtheit der Landschaft gefiel ihm. Sie war unendlich weit und leer und unglaublich schön. So viele Bäume und Vögel, die er nur aus Büchern kannte. Und … keine Menschen. Das war einerseits schlecht, andererseits aber auch gut: Zwar konnten sie niemanden nach dem Flugzeug fragen, aber seit fast einem Monat hatte auch niemand mehr versucht, sie zu erschießen, zu foltern, zu verschleppen oder aufzufressen. Benny verbuchte diese Tatsache eindeutig auf der Habenseite.
An diesem Morgen hatte er das Lager verlassen und war allein in die Wildnis gegangen – zum Teil, um die vielen Fertigkeiten zu trainieren, die Tom ihm beigebracht hatte: Aufspüren, Tarnen, Beobachten. Aber auch deshalb, weil er mit seinen Gedanken allein sein wollte.
Benny war nicht glücklich über das, was in seinem Kopf vor sich ging. Toms Tod zu akzeptieren, hätte einfach sein sollen. Okay, vielleicht nicht einfach, aber doch natürlich. Schließlich war nach Bennys Geburt die ganze Welt gestorben, über sieben Milliarden Menschen seit der Ersten Nacht. Viele waren den Zombies zum Opfer gefallen. Den Toten, die wiederkehrten, die Lebenden angriffen und sich von ihnen ernährten. Andere starben infolge der wilden Panik und Brutalität, die während des Zusammenbruchs der Regierung, des Militärs und der Gesellschaft von der Menschheit Besitz ergriffen hatte. Viele waren in den Kämpfen umgekommen oder zu radioaktivem Staub zerfallen, als man im verzweifelten Versuch, die Legionen der lebenden Toten aufzuhalten, Atombomben abgeworfen hatte. Und noch mehr Menschen waren in den Tagen danach ganz gewöhnlichen Infektionen, Verletzungen, Hunger oder Krankheiten erlegen, die sich durch den allgegenwärtigen Tod rasend schnell ausgebreitet hatten. Cholera, Staphylokokken und Grippe, Tuberkulose, HIV und zahlreiche andere Seuchen, die nicht eingedämmt werden konnten, weil es keine Infrastruktur und keine funktionstüchtigen Krankenhäuser mehr gab.
In Anbetracht all dessen und weil fast jeder, den Benny kannte, auf die eine oder andere Art mit dem Tod in Berührung gekommen war, hätte er eigentlich in der Lage sein sollen, Toms Tod zu akzeptieren.
Hätte. Aber …
Tom war zwar im Kampf um Gameland gefallen, doch er war nicht als Untoter zurückgekehrt. Das war extrem ungewöhnlich. Es hätte ein Segen sein sollen, für den Benny eigentlich Dankbarkeit hätte empfinden müssen … aber das war es nicht. Das Ganze verwirrte und ängstigte ihn vielmehr, weil er nicht wusste, was es zu bedeuten hatte.
Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. Nicht nach dem, was Benny in seinen fast sechzehn Jahren auf dieser Erde gelernt hatte. Seit der Ersten Nacht war jeder, der starb – egal auf welche Weise – als Zombie zurückgekehrt. Jeder, ohne jede Ausnahme. So war es einfach.
Bis es plötzlich nicht mehr so war.
Tom war nicht zu jener schrecklichen Farce eines Lebens zurückgekehrt, das die Leute den »lebenden Tod« nannten. Ebenso wenig wie der ermordete Mann, den sie an jenem Tag im Wald gefunden hatten, als sie die Stadt verließen, oder einige der Kopfgeldjäger, die im Kampf um Gameland umgekommen waren. Benny wusste nicht, warum. Niemand wusste es. Das Ganze blieb ein Rätsel, das gleichzeitig Angst und Hoffnung weckte. Die ohnehin schon seltsame und schreckliche Welt war nur noch seltsamer geworden.
Eine plötzliche Bewegung riss Benny aus seinen Gedanken: Etwa fünfundzwanzig Meter entfernt trat oben am Hang über ihm eine Gestalt aus dem Wald. Er rührte sich nicht und wartete, ob der Zombie ihn bemerkte.
Aber es war kein Zombie.
Die Gestalt war schlank, groß, eindeutig weiblich und mit ziemlicher Sicherheit noch am Leben. Sie war ganz in Schwarz gekleidet – sie trug ein weites, langärmliges Hemd und eine Hose – und hatte Dutzende von dünnen roten Stoffstreifen um Fußgelenke, Beine, Taille, Oberkörper, Arme und Hals gebunden. Die leuchtend roten Bänder flatterten im Wind, sodass es für einen Moment, bevor sie ins Sonnenlicht trat, so aussah, als hätte sie überall schlimme Schnittwunden, aus denen helles Blut spritzte. Auf ihrer Hemdbrust bemerkte Benny eine weiße Stickerei, doch er konnte nicht erkennen, was sie darstellen sollte.
Seine Freunde und er hatten seit Wochen keinen lebendigen Menschen mehr gesehen, und hier draußen im Ödland begegnete man wahrscheinlich eher einem feindseligen, gewalttätigen Einzelgänger als einem freundlichen Fremden. Benny blieb also regungslos sitzen. Ob die Frau ihn bemerkt hatte?
Sie trat ein paar Schritte hinaus auf das Feld und schaute den Hang hinab zu einer Reihe hoher Kiefern. Selbst auf diese Entfernung konnte Benny erkennen, dass sie sehr schön war – majestätisch, wie eine der Königinnen, deren Bilder er in alten Büchern gesehen hatte. Olivfarbene Haut und dichtes, glänzend schwarzes Haar, das genauso im Wind flatterte wie die scharlachroten Bänder.
Im nächsten Moment blitzte etwas silbrig im Sonnenlicht auf: ein Gegenstand, den die Frau an einer Kette um den Hals trug und jetzt hochhielt. Benny war zu weit weg, um ihn genau zu erkennen, vermutete jedoch, dass es sich um eine Pfeife handelte. Als die Frau den Gegenstand an den Mund führte und hineinblies, war nichts zu hören. Doch plötzlich begannen die Vögel und Affen in den Bäumen aufgeregt zu schnattern und zu kreischen.
Was danach passierte, ließ alle anderen Gedanken schlagartig aus Bennys Kopf verschwinden. Drei Männer traten hinter der Frau aus dem Wald. Auch ihre Kleidung flatterte im Wind, aber sie war durch Gewalteinwirkung, Witterung und den unerbittlichen Zahn der Zeit zerfetzt worden.
Zombies.
Benny kam ganz langsam auf die Füße, denn schnelle Bewegungen erregten die Aufmerksamkeit der lebenden Toten. Kaum noch drei Meter entfernt, wankten sie von hinten auf die Frau zu, die ihre Gegenwart gar nicht zu bemerken schien: Sie blies einfach weiter in ihre Pfeife, so als versuche sie, ihr Töne zu entlocken.
Weitere Zombies kamen aus dem Schatten unter den Bäumen hervor. Einer nach dem anderen trat ins Licht, als würde Bennys zunehmende Angst jeden Einzelnen von ihnen aus seinen schlimmsten Albträumen heraufbeschwören. Nur noch wenige Schritte, dann hatten sie die Frau erreicht. Benny blieb keine andere Wahl, als sie zu warnen.
»Lady!«, rief er. »Laufen Sie weg!«
Der Kopf der Frau schnellte hoch und sie schaute über das wogende Gras hinweg zu ihm hinüber. Einen Augenblick erstarrten alle Zombies und suchten nach der Quelle der lauten Stimme.
»Laufen Sie!«
Die Frau drehte sich um und schaute zu den Zombies hinüber. Es waren mindestens vierzig, und aus der Dunkelheit unter den Bäumen...