E-Book, Deutsch, 380 Seiten
Machfus Anfang und Ende
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-293-30567-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 380 Seiten
ISBN: 978-3-293-30567-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.
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6
Am Abend des nächsten Tags war die Familie wieder für sich allein. Im Zimmer des Verstorbenen standen die Möbel, zum Teil übereinander gestapelt, in einer Ecke, und die Tür war geschlossen. Die Geschwister saßen bei der Mutter; ein jeder hatte das Gefühl, dass die Zeit gekommen war, ihr zuzuhören. Die Mutter wiederum wusste, dass sie jetzt reden musste. Was sie zu sagen hatte, war ihr klar, denn lange genug hatte sie darüber nachgedacht. Trotzdem gab es etwas, das sie verwirrt und zögerlich sein ließ, und zwar das Wissen um die Kluft, die sich zwischen ihrem entschlossenen Auftreten und dem unendlichen Mitleid mit ihrer unglücklichen Familie auftat. Sie schlug die Augen nieder, um den Blicken, die einzig auf sie gerichtet waren, auszuweichen.
»In unserem großen Unglück haben wir niemand anderes mehr als Gott, und Gott vergisst keinen seiner Diener.«
Sie wusste, dass sie nicht zu fragen brauchte, was nach Meinung der Kinder getan werden müsste; von keinem war eine Antwort zu erwarten, nicht einmal von ihrem Ältesten, Hassan. Und da war auch niemand, den sie hätte bitten können, mit ihr ihre Sorgen zu teilen. Sie hatte das Gefühl, in wüster Ödnis zu leben. Sie riss sich zusammen, kämpfte dagegen an, sich in Verzweiflung zu flüchten. Mit leiser Stimme hob sie an zu sprechen.
»Wir haben keine Verwandten, auf die wir uns stützen können, und unser teurer Verstorbener hat uns außer der Pension nichts hinterlassen. Sie fällt bestimmt geringer aus als sein Gehalt, und das hat schon kaum gereicht. Die Zukunft sieht düster aus, aber Gott vergisst keinen seiner Diener. Viele Familien, denen es ähnlich ergangen ist, haben sich in Geduld gefasst, bis Gott sie an die Hand nahm und sie auf sicheren Boden geleitet hat.«
Mit schluchzender Stimme flüsterte Nafisa: »Niemand stirbt vor Hunger in dieser Welt, Gott wird uns leiten und alles richten. Das einzige Unglück, über das wir nie hinwegkommen werden, ist Vaters Tod. Ach, mein armer Papa!«
Ihre Tränen beeindruckten die Brüder nicht sonderlich tief, denn aus den ersten Worten der Mutter war deutlich herauszuhören, dass es gleich um wichtige Dinge gehen würde. Also war höchste Aufmerksamkeit geraten.
»Wenn wir auch nicht an Gottes Gnade zweifeln dürfen«, fuhr die Mutter fort, »müssen wir uns klarmachen, woran wir sind, andernfalls stürzen wir ins Verderben. Wir müssen uns darauf einstellen, mit Geduld und Würde das zu ertragen, was uns das Schicksal beschieden hat. Gott ist mit uns.« Damit war das Allgemeine gesagt, nun war es an der Zeit, mit den Söhnen zu reden und sich jeden einzeln vorzunehmen. Am klügsten war sicherlich, mit einem kleinen Problem zu beginnen, bevor die schwer wiegenden Fragen an die Reihe kamen. Sie schaute Hussain und Hassanein an und sagte betont ruhig: »Es wird nicht mehr möglich sein, euch ein Taschengeld zu zahlen. Zum Glück habt ihr es ja immer nur für dummes Zeug ausgegeben.«
Dummes Zeug? Der Beitrag für den Fußballklub, das Kino, Romane – war das unwichtig? Bestürzt und ohne ein Wort zu sagen, versuchte Hussain die Entscheidung zu verarbeiten. Fieberhaft stellte er sich vor, wie das Leben ohne Taschengeld aussehen würde. Hassanein hingegen fühlte sich wie vom Blitz getroffen, und ohne lange nachzudenken, protestierte er auf der Stelle: »Überhaupt kein Taschengeld? Kein einziger Millim?!«
Die Mutter sah ihn eindringlich an. »Kein einziger Millim.« Seine Empörung tat ihr zwar weh, aber sie kam ihr auch zupass, weil sie nochmals bekräftigen konnte, dass an ihren Worten nicht zu rütteln war. Ihr Ältester, mit dem es die meisten Unannehmlichkeiten geben würde, sollte gut zuhören.
Hassanein machte den Mund auf, und nachdem er erst etwas Unverständliches gemurmelt hatte, sagte er betreten: »Dann sind wir die einzigen Schüler, die nichts in der Tasche haben.«
»Unsinn, bild dir das bloß nicht ein«, entgegnete die Mutter scharf. »Schicksalsschläge gibt es viele, auch andere Schüler sind davon betroffen. Könntest du in die Taschen gucken, sind sie bei vielen leer. Aber selbst wenn ihr die Einzigen wärt, die arm sind, ist das keine Schande. Ich bin nicht verantwortlich für das, was geschehen ist.«
Hassanein flüchtete sich in Schweigen, schließlich sprach er mit seiner Mutter. Beim Vater war er immer auf Nachsicht gestoßen, bei ihr nie. Der Vater hatte ihn sehr geliebt, höchstens Nafisa war er genauso zugetan gewesen. Jedenfalls konnte er sich nicht erinnern, wann die Mutter jemals nachgegeben hätte.
Im Gefühl, Hassaneins Widerspruch ausreichend beantwortet zu haben, fuhr die Mutter fort: »Und wehe, ihr esst euch bei der Schulspeisung nicht satt.«
Tatsächlich hatten sich die beiden Brüder mit ein paar Happen begnügt, denn richtig essen wollten sie lieber zu Hause. Über Schüler, die sich in der Schule satt aßen, machte man sich ein bisschen lustig.
»Warum sollen wir nicht wie sonst zu Hause essen?«, fragte Hassanein vorsichtig.
Die Mutter winkte ärgerlich ab. »Wer weiß, vielleicht gibt es zu Hause nichts, was du magst.«
Hassan, der die ganze Zeit über still zugehört hatte, hatte Mühe, nicht zu grinsen; angestrengt bemühte er sich, ernsthaft auszusehen. Der Mutter war es nicht entgangen, und deshalb entschloss sie sich, auf ihn zu sprechen zu kommen und ihn mit der neuen Lage zu konfrontieren. »Und du, Hassan?«, fragte sie traurig.
Der älteste Sohn; der Erste, der ihre Mutterinstinkte geweckt und den sie als Ersten geliebt hatte. Trotzdem war er der greifbare Beweis, dass mütterliche Liebe nicht ein für alle Mal gegeben, sondern den Widrigkeiten des Lebens ausgesetzt war. Natürlich bedeutete das nicht, dass sie ihn hasste, davon war sie weit entfernt. Aber sie zählte nicht mehr auf ihn, seit sie mit großer Wehmut hatte beobachten müssen, wie er sie in all ihren Hoffnungen enttäuschte. Nun nahm er nur noch einen dunklen Winkel ihres Herzens ein, und wann immer sich ein Fünkchen Liebe regte, war dieses Gefühl von Enttäuschung, Trauer und schmerzlichen Erinnerungen begleitet. Von Anfang an war er das größte Problem für die Familie gewesen. Noch in die damaligen ärmlichen Verhältnisse hineingeboren, wurde er trotzdem vom Vater verhätschelt. Er schickte ihn erst ziemlich spät zur Schule, und schon innerhalb kurzer Zeit zeigte sich, dass der Junge von der Schule nichts wissen wollte und immer häufiger den Unterricht schwänzte. Jahr um Jahr fiel er bei den Prüfungen durch, und schließlich weigerte er sich, überhaupt noch zur Schule zu gehen. Was es einst zwischen Vater und Sohn an Zuneigung gegeben hatte, war Zank und Streit gewichen, und schließlich artete es in richtige Feindschaft aus. Bisweilen warf ihn der Vater sogar aus dem Haus, aber nach ein paar Tagen Herumlungern kehrte Hassan, der noch keine zwanzig Jahre alt war, wieder zurück, jedes Mal mit neuen Lastern beladen und von Sünden und Süchten gezeichnet, eine Folge seiner Bekanntschaft mit üblen Ganoven. Als der Vater vor lauter Verzweiflung nicht mehr ein noch aus wusste, schickte er ihn zur Arbeit in einem Gemüseladen, doch nach einem Monat wurde er bereits entlassen, weil er den Besitzer so verprügelt hatte, dass der Mann fast umgekommen wäre. Danach begann er in einer Autowerkstatt zu arbeiten, aber auch dort wurde er nach einer handfesten Auseinandersetzung entlassen. Er kümmerte sich um nichts mehr; weder interessierte ihn, ob der Vater vor Zorn tobte, noch ob die Mutter resolut durchgreifen wollte. Mit einer tüchtigen Portion Selbstbewusstsein ausgestattet, zwang er sich der Familie einfach auf. Ihrem Ärger begegnete er mit lässiger, gar belustigter oder streitbarer Verachtung, lümmelte sich ungerührt zu Hause herum, ohne auch nur im Geringsten daran zu denken, sich eine Arbeit zu suchen. Um die Zukunft machte er sich keine Gedanken, er lebte unbekümmert in den Tag hinein, bis – ja, bis plötzlich der Tod des Vaters eintrat. Er begriff sofort den Ernst der Lage, denn er war der Einzige, der die Höhe des Gehalts des Vaters genau kannte und deshalb abschätzen konnte, wie hoch die Pension ausfallen würde. Er wusste, was die Mutter mit der Frage ›Und du, Hassan?‹ gemeint hatte. Am liebsten hätte er ihr gesagt: ›Hast du nicht erklärt, dass Gott seine Diener nicht vergisst? Ich bin sein Diener, warten wir doch ab, ob er sich an uns erinnert. Warum hat er uns den Vater genommen? Warum führt er uns seinen weisen Ratschluss auf Kosten von Opfern wie uns vor?‹ Er sagte nichts dergleichen, sondern lächelte sie, um einen Hauch von Verantwortlichkeit bemüht, voller Zuneigung an. Schließlich sagte er: »Ich begreife voll und ganz, worum es geht.«
»Begreifen allein nützt nichts«, erwiderte die Mutter gereizt.
»Na sicher, man muss etwas tun.«
»Das hören wir ständig von dir.«
»Aber jetzt ist die Situation verändert.«
»Können wir also hoffen, dass auch du dich verändert hast?«
»Einer wie ich«, erklärte Hassan mit fester Stimme, »geht nie verloren, ich finde schon meinen Weg. Möglichkeiten gibt es genug, und meine Waffen sind zahlreich. Worum ich dich bitte, Mutter, ist lediglich das Dach über dem Kopf, und vielleicht ein Stückchen Brot.«
Genau das war seine Methode – erst willigte er in alles ein, und heraus kamen neue Forderungen. Unterkunft und Essen, was gab es sonst noch? Ärgerlich sah sie ihn an. »Solches Geschwätz können wir im Augenblick nicht gebrauchen.«
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