E-Book, Deutsch, 260 Seiten
Machfus Das junge Kairo
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-293-30570-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 260 Seiten
ISBN: 978-3-293-30570-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.
Weitere Infos & Material
4
Ali Taha blieb in seinem Zimmer, bis die Sonne sich ihrem Untergang zuneigte. Er saß am Fenster, den Blick auf den Balkon eines kleinen, alten Hauses gerichtet, an dessen Eingang sich ein Zigarettenladen befand. Das Haus lag direkt gegenüber dem Studentenwohnheim an der Ecke der Asbastraße, der Verlängerung der Raschad-Pascha-Straße Richtung Dokki.
Bis auf den Tarbusch war er vollständig bekleidet, schick wie üblich. Wer seine kräftigen Schultern sah, hätte ihn für sportlich halten können. Ali Taha war ein gutaussehender junger Mann mit grünen Augen und beinahe goldblondem Haar, was auf eine gute Abstammung deutete. Er schaute erwartungsvoll und etwas unsicher hinüber, doch als schließlich ein junges Mädchen auf den gegenüberliegenden Balkon trat, wurde sein Blick lebendig und wach. Er stand auf und winkte mit beiden Händen, worauf sie zu ihm herüberlächelte und Richtung Straße wies. Daraufhin setzte er seinen Tarbusch auf und verließ zuerst das Zimmer, dann das Haus. Er trat auf die Raschad-Pascha-Straße hinaus und ging gemächlich die Hauptstraße entlang. Diese war beidseits gesäumt von hohen Bäumen, hinter denen sich Villen und Paläste erhoben. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick zurück, bis er im sanften Licht des Sonnenuntergangs die junge Dame vom Balkon erblickte, die ihm mit wiegendem Schritt folgte. Mit freudig pochendem Herzen machte er kehrt und ging ihr errötend entgegen, bis sich ihre Hände begegneten – die Rechte der Linken, und die Linke der Rechten – und der junge Mann einen Willkommensgruß murmelte, den die junge Frau mit strahlendem Lächeln und leuchtenden Augen erwiderte.
Freundlich zog sie ihre Hände zurück und hängte sich bei ihm ein, und gemeinsam schlenderten sie gemütlich Richtung Gisehstraße. Achtzehn Jahre war das Mädchen alt. Es hatte eine helle, elfenbeinfarbene Haut und schwarze Augen, die unter den Wimpern einen besonderen Zauber verströmten. Der Kontrast ihres pechschwarzen Haares zur hellen Haut war auffallend. Ihr grauer Mantel umschloss einen geschmeidigen, reifen Körper, der Zauber und Glanz ausstrahlte. Sie schlenderten dahin, ein Anblick voller Jugend und Leben. Ali Taha tastete vorsichtig mit dem Blick die Straße nach allen Seiten ab, als fürchtete er eine unangenehme Überraschung. Die junge Frau betrachtete ihn verstohlen in sehnsuchtsvoller und freudiger Erwartung. Als der junge Mann sich schließlich überzeugt hatte, dass niemand sie beobachtete, legte er seine Finger unter ihr Kinn, zog ihr Gesicht zu sich und drückte seine Lippen zu einem warmen Kuss auf die ihren. Als er sein Gesicht wieder hob, seufzte er tief auf, und schweigend setzten sie ihren Weg fort. Sie sah, wie er sie musterte, und da fiel ihr, trotz der Faszination des Augenblicks, der elende Zustand ihres Mantels ein, was ihre Freude sofort trübte.
»Dir gefällt es wohl nicht, dass ich immer denselben schäbigen Mantel trage?«, fragte sie, ohne es eigentlich zu wollen.
Über das Gesicht des Mannes legte sich ein Schatten des Missfallens. »Wie kannst du nur an so etwas Triviales denken?«, sagte er tadelnd. »In diesem Mantel steckt ein Schatz, dem ich all mein Glück verdanke.«
Für sie war der Mantel keine Trivialität. Schon oft hatte sie bedauernd zu sich selbst gesagt, zu einem glücklichen Leben gehöre es, jung zu sein und etwas Hübsches zum Anziehen zu haben. Sie bemerkte seinen schicken wollenen Anzug und hatte Lust, es ihm heimzuzahlen. »Schöne Argumente sind mir das!«, protestierte sie. »Du bezeichnest Kleider als Trivialitäten und kommst selber so schick und schmuck daher.«
Nun wurde er schamrot. Er sah aus wie ein verunsichertes Kind und versuchte es mit einer Entschuldigung. »Der Anzug ist neu. Man kann sich ja keinen alten Anzug kaufen. Trotzdem sind Kleider Trivialitäten, Äußerlichkeiten, oder etwa nicht, Liebling?«
Doch sie ging Diskussionen dieser Art mit ihm aus dem Weg, Diskussionen, die er nur allzu gern nutzte, um sich ihr gegenüber als Lehrer aufzuspielen, was sie ganz und gar nicht mochte. Auch war er selbst keineswegs frei von Widersprüchen. Immer wieder äußerte er sich verächtlich über Garderobe, Speisen oder Klassenunterschiede, und dann besaß er die schicksten Anzüge, aß gut und reichlich und gab ziemlich viel Geld aus. Außerdem hatte sie, Ichsan Schahata, ihm etwas zu sagen, und sie wusste, er brannte darauf, es zu hören.
»Ich bin beinahe fertig mit dem Buch, das du mir geliehen hast«, erzählte sie in ihrer weichen, schalkhaften Stimme.
Auf seinem Gesicht zeigte sich Interesse. Er wollte ihren Intellekt ebenso lieben wie ihre Persönlichkeit.
»Und was hältst du davon?«, wollte er wissen.
»Ich habe nicht viel davon verstanden«, gab sie zu. »Und mit dem wenigen konnte ich nichts anfangen.«
»Warum denn das?«, fragte er enttäuscht.
Sie lächelte ihn an, um ihre Worte zu mildern. »Das Buch, das du eine Geschichte nennst, besteht hauptsächlich aus Gedanken und Ansichten«, erklärte sie. »Ich suche in einem Buch nach Leben und Gefühl.«
»Aber das Leben besteht aus Denken und Fühlen.«
Nun nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und wehrte sich. »Versuch nicht, mich mit deiner Logik einzuschnüren. Möglicherweise kann ich sie nicht widerlegen, doch das ändert nichts an meinem Geschmack. Für mich ist die Musik das Kriterium der wahren Kunst, und was in einem Buch mit dieser nichts zu tun hat, sollte gar nicht Kunst heißen.«
Ihre Ansicht entsetzte ihn. Er versuchte ein müdes Lächeln und sagte bedauernd: »Damit verzichtest du auf die schmackhaftesten Früchte der wahren Kunst.«
Sie lachte. »Magdulin3, Die Leiden des jungen Werther und Raphaels Schmerzfiguren – das sind Kunstwerke, wie ich sie liebe.«
Sie sagte das, als wollte sie den berühmten Koranvers »Ihr habt eure Religion, ich die meine« zitieren. Und so schwieg der junge Mann und fragte sich nur, ob er wirklich die Hoffnung aufgeben müsse, ihre Ansichten zu ändern. Er wünschte aufrichtig, dass ihre Liebe in Herz und Verstand Eingang fand, dass ihre Beziehung umfassend und harmonisch und sie für ihn Geliebte, Gefährtin und eine geachtete Kollegin würde. Sein Herz und seine Seele waren von Liebe zu ihr beherrscht, doch er hoffte auch, aus ihr eine Ehefrau zu machen, wie man sie in orientalischen Haushalten nicht kannte.
An der Gisehstraße bogen sie links ab. Der junge Mann seufzte erleichtert auf. Die Straße war menschenleer und das Wetter eher trüb. Er hob ihre Hand zu seinem Mund und küsste sie leidenschaftlich. Dann neigte er sich zu ihr hinab und holte sich von ihren vollen, frischen Lippen einen süßen Kuss. Als er sah, dass sie ihre Augen geschlossen hielt, erschauerte sein kräftiger Körper, und Funken der Freude durchschossen ihn. Stockend brachte er hervor: »Wie lieb du bist, und wie schön.«
Zauberhafte Augenblicke wohltuender Stille gingen vorüber, dann seufzte er wie bedauernd. »Bis zu meinem Abschlussexamen sind es nur noch ein paar Monate. Und bei dir?«
»Mein Abitur ist im Juni. Wo, denkst du, sollte ich studieren?«
»An meiner Fakultät«, antwortete er sofort.
Obwohl sie ihre Ausbildung abschließen musste, hätte sie es gern gehört, wenn er ihr vorgeschlagen hätte, aufzuhören, um ihr gemeinsames Nest einrichten zu können. Darum fragte sie etwas reserviert, warum er denn seine Fakultät vorschlage.
»Damit wir im Geist, in der Kunst und im Beruf vereint sind.«
»Im Beruf?«
»Natürlich, Liebling«, rief er, noch immer begeistert. »Die Aufgabe einer Frau besteht doch aus mehr als darin, eine Hausmagd zu sein. Ich kann der Gesellschaft unmöglich ein so schönes und nützliches Mitglied vorenthalten, wie du es bist. Das wäre ein Verrat an meinen Prinzipien.«
Im Grunde genommen teilte sie seine Ansicht, denn schon aus finanziellen Gründen würde sie eines Tages einer beruflichen Tätigkeit nachgehen müssen. Doch irgendwie, sie wusste selbst nicht, wie, verstimmte sie diese Begeisterung für seinen eigenen Vorschlag. Ihr wäre es lieber gewesen, ihn – gegen sein Zweifeln und Zögern – selbst davon überzeugen zu müssen.
Sie schlenderten die menschenleere Straße entlang und unterbrachen das lebhafte Gespräch über ihre Träume hin und wieder mit einem Kuss.
Ichsan Schahata hatte ein besonderes Gespür für zwei Dinge: für ihre Schönheit und ihre Armut. Ihre Schönheit war in der Tat außergewöhnlich. Das gesamte Studentenwohnheim war ihr verfallen, die Bewohner aller Zimmer sandten das Feuer ihrer Seelen herab auf den Balkon des kleinen, schäbigen Hauses und warfen sich der stolzen Schönheit zu Füßen. Doch in ihrem Heim befand sich kein Spiegel, der jene strahlende Schönheit wahrhaftig zeigte, denn auch die Armut war eine nur allzu sichtbare Wahrheit, die ihre sieben Brüder, alle jünger als sie, ihr unablässig in Erinnerung riefen. Ebenso die Tatsache, dass sie alle von einem Zigarettenkiosk von gerade einmal einem Quadratmeter Grundfläche lebten, dessen Kundschaft fast ausschließlich aus Studenten bestand. Oft schon hatte sie gefürchtet, dass die Folgen der Armut, schlechte Ernährung beispielsweise, ihre Schönheit beeinträchtigen könnten. Und ohne die Rezepturen ihrer Mutter, die vor ihrer Heirat mit Meister Schahata Turki Sängerin in der Muhammad-Ali-Straße gewesen war, wäre sie abgemagert, und ihre...




