Machfus | Die Nacht der Tausend Nächte | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 280 Seiten

Machfus Die Nacht der Tausend Nächte

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-293-30578-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

ISBN: 978-3-293-30578-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Am Morgen der Tausendundersten Nacht übernimmt Nagib Machfus von Schehrezad den Erzählfaden und spinnt ihn weiter: von einem grüblerischen Sultan, der sich nachts unter die Untertanen mischt, um die Wahrheit zu suchen. Vom Widerwillen Schehrezads vor ihrem blutbefleckten Gatten. Von Geistern und Dämonen, die mit den Menschen spielen und sie auf die Probe stellen. Vom Schneider, der Wunder vollbringt und gar nicht weiß, warum. Von Sindbad, der im Kaffeehaus seine Abenteuer erzählt, von Liebenden, Aufrührern, Weisen und Narren. Machfus wäre nicht Machfus, wenn er dabei nicht mit liebevollem Spott dem Menschengeschlecht einen Spiegel seiner Schwächen und Eitelkeiten vorhalten würde und seinen Zorn aufblitzen ließe über eine Welt, in der »der Donner lauter grollt als die Tauben gurren«.

Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.
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Gamsa al-Balti


1

Der Geist von Sanan al-Gamali schwebte über dem Café der Emire und trübte die Stimmung. Alle hatten seinen Prozess miterlebt, das volle Geständnis gehört und mit ansehen müssen, wie ihn Scharfrichter Schabib Rama köpfte. Sanan war nicht nur bei den Kaufleuten und Notabeln angesehen gewesen, sondern hatte auch zu den wenigen Reichen gehört, die die Armen liebten.Vor den Augen all dieser Menschen war er enthauptet und seine Familie vertrieben worden.

Seine Geschichte war in aller Munde, erschütterte aller Herzen, ob nun im Viertel oder in der ganzen Stadt. Sultan Schehrijar ließ sie sich immer wieder erzählen.

Der Herbst hatte eingesetzt, und das machte den Aufenthalt im Café angenehm kühl. Gerade hatte der Bauunternehmer Hamdan Tanischa zu einer längeren Rede angesetzt. »Gott ist der Schöpfer allen Seins, und ihm gehört alles. Er kann frei und ganz nach Belieben über seinen Besitz verfügen. Er spricht: Sei!, und es ist. Wer von uns hätte je gedacht, dass Sanan al-Gamali ein solches Schicksal beschieden ist? Dass er ein zehnjähriges Mädchen vergewaltigt und erwürgt? Dass er den Gouverneur bei der ersten Begegnung ermordet?«

»Lässt man den Dämon aus dem Spiel«, überlegte Ibrahim al-Attar laut, »ist die Geschichte ein einziges Rätsel.«

»Vielleicht war der Biss des Hundes schuld«, gab der Arzt Abd al-Kadir al-Muhini zu bedenken. »Möglicherweise hat er eine bösartige Krankheit ausgelöst, und da sie nicht richtig behandelt wurde, hat Sanan Halluzinationen gehabt.«

»Ach was«, protestierte Ibrahim al-Attar. »Bei der Behandlung von Hundebissen gibt es keinen, der mehr Erfahrung als ich hat. Mein letzter Kunde war gerade Maruf, und geht's dir nicht gut, Maruf?«

»Gott sei's gedankt, dass ich gesund und munter bin«, rief der Schuhmacher Maruf, der beim gewöhnlichen Volk saß.

»Warum glauben wir eigentlich nicht die Geschichte mit dem Dämon?« fragte der Barbier Agar.

»Jedenfalls gibt's davon mehr, als es Menschen gibt«, meinte der Wasserträger Ibrahim.

»Was soll's, der Tod braucht keine Erklärung«, warf der Antiquitätenhändler Sahlul ein.

Maruf prahlte laut: »Was mir alles mit Dämonen passiert ist! Geschichten gibt es da, noch und noch.«

In der Runde saß auch der bucklige Spaßmacher des Sultans, Schamlul. »Na hör mal«, spottete er, »es ist doch allen bekannt, dass sich aus Angst vor deiner Frau kein Dämon in die Nähe deines Hauses wagt.«

Maruf ließ es bei einem Lächeln bewenden, denn in der niedergedrückten Stimmung war kein Platz für Witzeleien.

Der Seufzer von Galil al-Bazzaz bestätigte es. »Sanan ist verloren und seine Familie vernichtet.«

»Und der Versuch, ihr zu helfen«, so der affengesichtige Karam al-Asil, »wird als Angriff aufs Gouverneursamt verstanden. O ja, da ist keine Macht noch Stärke außer bei Gott.«

»Am meisten macht mir Angst, dass die Leute seine Familie meiden, um sich vor den Dämonen zu schützen.«

»Na, so weit kommt's noch!« rief Hassan al-Attar. »Zwischen mir und Fadil Sanan wird sich nichts ändern.«

»Der Herr spricht: Sei!, und es ist«, brummelte Hamdan Tanischa.

2

Der Polizeichef Gamsa al-Balti machte sich auf den Weg zum Fluss, um seiner Leidenschaft, dem Angeln, zu frönen. Vierzig Tage lang hatte er wegen der Trauer um seinen Vorgesetzten Ali as-Sululi darauf verzichtet. Aber er hatte auch Schmerz um Sanan al-Gamali empfunden, denn der war so viele Jahre sein Nachbar und Freund gewesen, dass ihre beiden Familien wie eine einzige große Familie lebten. O Gott, und dann das! Ausgerechnet er hatte Sanan verhaften, ihn ins Gefängnis werfen müssen, ihn zum Gericht bringen und schließlich und endlich sogar dem Scharfrichter Schabib Rama überantworten müssen. Mehr noch, er war es gewesen, der Sanans Kopf oben ans Haus gehängt, sein Vermögen konfisziert und seine Familie ins Elend getrieben hatte. Niemand konnte sich wahrscheinlich vorstellen, dass er, der für seine Härte und Unerbittlichkeit bekannt war, unendlich litt und trauerte. Ja, er besaß ein mitfühlendes Herz, ein liebendes sogar, denn er empfand tiefe Zuneigung für Husnija, die einzige Tochter Sanans. Er hatte um ihre Hand anhalten wollen, doch da geschahen diese schrecklichen Dinge. Heute war ein schöner Tag, und am Himmel zogen weiße Herbstwolken. Aber ach, seine Liebe war dahin, zermalmt unter dem Rad der Geschehnisse.

Er ließ den Maulesel in der Obhut eines Dieners, stieg in den Kahn und ruderte bis in die Mitte des Flusses, wo er sein Netz auswarf. Ah, sich ein wenig Ruhe gönnen, sich entspannen von der schweren, rohen Arbeit. Er lächelte. Mit dem neuen Gouverneur Chalil al-Hamadhani war er schnell übereingekommen. Woher nahm Schehrijar bloß all diese Gouverneure? Gleich bei der ersten Gelegenheit hatte der Kerl sein wahres Gesicht gezeigt – bei der Verteilung von Sanans Vermögen. Er hatte sich ein schönes Stück vom Kuchen genommen, und Batischa Margan und er, Gamsa, waren mit ein paar Brocken abgespeist worden. Den schäbigen Rest hatte er dem Fiskus übergeben. Bei aller Trauer um seinen Freund Sanan war er nicht umhingekommen, das Geld anzunehmen. Hätte der neue Gouverneur es nicht als Provokation empfunden, wenn er abgelehnt hätte? In seinem Herzen gab es für beides Platz – für warmes Empfinden und für Härte und Habsucht. Einer seiner Wahlsprüche lautete: Wer sich bescheidet, stirbt hungers. Oft genug stellte er sich die spöttische Frage, was aus dem Viertel werden würde, wenn tatsächlich ein gerechter Gouverneur die Geschicke der Menschen in die Hand nähme. Hatte nicht sogar der Sultan höchstpersönlich Hunderte von Jungfrauen und Dutzende von frommen, redlichen Männern umgebracht? Verglichen mit anderen Großen, die Macht besaßen, wog seine Schuld noch gering. Er atmete tief durch. Wirklich, es war ein schöner Tag. Wolken zierten den Himmel, die Luft war mild, duftete nach Gras und Wasser, und das Netz füllte sich mit Fischen. Aber ach, was war nur aus Husnija geworden? Nach den Tagen von Ehre, Juwelen und rassigen Pferden im Stall wohnte Sanans Familie nun in einem bescheidenen Zimmer. Umm as-Saad stellte Süßigkeiten her, all die leckeren Dinge, mit denen sie früher die Sinne der Gäste bezaubert hatte. Fadil lief damit umher und verkaufte sie. Husnija aber wartete auf den Bräutigam, der nicht kommen würde. O Sanan, hat wirklich ein Dämon seinen Schabernack mit dir getrieben, oder hat der Hundebiss dir den Verstand verdreht? Nie werde ich deinen verstörten Blick vergessen und deinen Hilfeschrei. ›Meine Familie, Gamsa!‹ Wehe, es hätte einer gewagt, deiner Familie die helfende Hand zu reichen! Dein Sohn Fadil ist ein guter Junge, mit viel Stolz. Aber nun, Sanan, ist alles verloren; was war – war. Wenn dein Dämon wirklich einen Glauben besaß, hätte er etwas für dich tun können. Ein seltsames Reich ist das hier, mit seinen Menschen und Geistern. Es schreibt Gottes Name auf die Fahnen und versinkt im Dreck.

Plötzlich merkte Gamsa auf. Die Hand konnte das schwere Netz kaum noch halten, und das verhieß Gutes. Freudig zog er es heran, hievte es in den Kahn. Aber ach, kein einziger Fisch war darin.

3

Gamsa al-Balti schaute verblüfft drein. Außer einer runden Kugel, dunkel wie Eisen, befand sich nichts im Netz. Wütend nahm er sie in die Hand, drehte sie hin und her und warf sie weg. Es gab einen dumpfen Knall, irgendetwas rumorte, und dann gab es eine Explosion.

Aus dem Ding strömte etwas heraus, das Staub ähnelte, und dieses Etwas schwebte empor, bis es schließlich an die Wolken reichte. Das staubähnliche Gemisch begann sich aufzulösen, und zum Vorschein kam ein Wesen, das, so durchsichtig es auch aussah, drohend über Gamsa schwebte und ihn bedrängte. Der Schreck war groß, und obwohl Gamsa viele gefährliche Situationen kannte, bebte und zitterte er.

Noch ehe er es sich richtig klarmachen konnte, wusste er, dass das ein Dämon war, der seinem Gefängnis entkommen war. Er brachte nichts anderes zustande, als zu schreien: »Gnade, bei unserem Herrn Salomo!«

Eine Stimme, wie er sie nie zuvor gehört hatte, sprach: »Ach, was ist schöner als die Freiheit nach der Hölle des Verlieses.«

Mit ausgetrockneter Kehle winselte Gamsa: »Immerhin war ich es, der dich befreit hat.«

»Erklär mir erst mal, was Gott mit Salomo angestellt hat.«

»Unser Herr Salomo ist vor mehr als tausend Jahren gestorben.«

»Gesegnet sei Gottes Wille, der uns dem Menschen ausgeliefert hat, obwohl er uns nicht das Wasser reichen kann. Ein Mensch hat mich für eine kleine Laune bestraft, dabei hat Gott in seiner Güte viel schlimmere Vergehen verziehen.«

In Gamsa stieg ein wenig Hoffnung auf. »Herzlichen Glückwunsch zur Freiheit, nun kannst du dich auf und davonmachen und sie genießen.«

»Ah, du willst dich in Sicherheit wissen«, spottete der Dämon.

»Immerhin habe ich dich befreit!«

»Das warst nicht du, das war das Schicksal.«

»Aber ich war das Werkzeug.«

»Als ich so lange eingesperrt war«, fuhr der Geist ihn scharf an, »hat sich bei mir eine Menge Wut und der Wunsch nach Rache gestaut.«

»Gehört nicht Verzeihen zur Wohltätigkeit des Mächtigen?«

»Ihr Menschen seid geschickt, wenn es...


Kilias, Doris
Doris Kilias, geboren 1942 inmitten der Masurischen Seenplatte, also im heutigen Polen, arbeitete als Redakteurin beim arabischen Programm des Rundfunks Berlin (DDR). Nach der Promotion war sie als freie Übersetzerin tätig. Sie starb 2008 in Berlin.

Machfus, Nagib
Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.



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