Machfus | Die segensreiche Nacht | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Machfus Die segensreiche Nacht

Erzählungen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-293-30580-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-293-30580-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kurzgeschichten und Novellen sind im modernen Ägypten äußerst beliebt. Auch im Werk von Nagib Machfus sind Erzählungen reich vertreten. Jedoch: Nicht langsam und majestätisch wie der Nil fließen seine Geschichten; sie reißen - wie die Strudel der Stromschnellen - unvermittelt hinein in Abgründe. Machfus entfaltet ein Kaleidoskop von Stimmungen und Schicksalen. Liebevoll, sarkastisch, ironisch rückt er Schwächen und Marotten, Sehnsüchten und Ängsten vor allem des kleinen Volkes zu Leibe und zeigt, daß unter Gottes weitem Mantel auch Platz für viele dunkle Leidenschaften ist.

Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.
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Anbar Lulu


Mitten im Südflügel des Parks befand sich ein Pavillon aus Baumwurzeln, er hatte die Form einer Pyramide und war rings von Jasmin umgeben. In diesem Pavillon wartete ein Mann, ein Mann in den besten Jahren und von schlanker Figur. Obschon sein Haar weiß schimmerte, verrieten seine Gesichtszüge noch immer jugendliche Frische. Er sah auf seine Armbanduhr und blickte dann in den weiträumigen Park. Durch die Jasminzweige traf ein goldener Strahl der langsam über dem Nil sich neigenden Sonne auf sein Gesicht. Da tauchte das junge Mädchen auf. Über das Mosaik des Hauptweges kam es an den Pavillon heran. Als es durch den niedrigen Eingang eintrat, bückte es sich etwas. Es ging auf den Mann zu, braunhäutig und mit grünen Augen. Sie gaben einander die Hand. Dann sagte sie sanft und um Verzeihung bittend: »Ich schäme mich.«

Der Mann beruhigte sie freundlich: »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.«

»Ich habe nicht das Recht, Ihnen die Zeit zu stehlen.«

»Es ist keine verlorene Zeit, die man für ein ernsthaftes Gespräch opfert.«

»Danke, Sie sind sehr gütig.«

Er wies auf die Bank und lud sie ein, sich zu setzen. Als er sich neben ihr niedergelassen hatte, begann sie: »Ich hätte nicht den Mut gehabt, Sie hierher zu bitten, aber ich wusste mir keinen anderen Rat.«

»Es geht jedem einmal so. Allerdings, wer Sie im Büro sieht, glaubt kaum, dass Sie Sorgen haben.«

»Man soll sich nicht vom Schein täuschen lassen.«

Er nickte zustimmend, und sie fuhr fort: »Ich habe mich lange gefragt, an wen ich mich wohl wenden könnte, bis Sie mir einfielen.«

»Aber bitte, wer würde Ihnen nicht gern helfen.«

Sie zögerte einige Augenblicke lang: »Nun ja, Sie kennen mich nur als Kollegin in der Verwaltung. Aber Sie sollen wissen, wie es um mich steht. Ich komme mir so vor, als sei ich unter ständiger Qual in ein ewiges Gefängnis gezwungen.«

»Das ist doch sicher übertrieben. Aber schütten Sie mir ruhig Ihr Herz aus, wir werden ja sehen.«

»Nein, es ist wirklich so. Hören Sie wenigstens ein Stück von meiner Tragödie an. Ich bin Vollwaise und habe drei jüngere Geschwister, wir leben im Hause unseres Stiefvaters.«

»Eine schwierige Sache.«

»Er ist ein eigensinniger, zänkischer Mann.«

»Ist er ein alter Mann wie ich?«

»Nein, älter, und er liebt uns nicht.«

»Und haben Sie auch Stiefgeschwister?«

»Nein, er hat keine eigenen Kinder.«

»Dann sollte er eigentlich zu euch lieb sein.«

»Das ist es ja. Aber er gab mir bereits nach dem Tode meiner Mutter zu verstehen, dass ich allein für meine Geschwister zu sorgen hätte.«

Eine kurze Zeit lang schwieg sie, dann fuhr sie nachdenklich fort: »Vielleicht war diese Entscheidung nicht einmal unvernünftig.«

»Nein, aber zumindest unbarmherzig.«

»Ach, ich möchte gar nicht auf seine Barmherzigkeit angewiesen sein!«

»Das verstehe ich.«

»Er gewährt uns Unterkunft und einige Unterstützung, allerdings hält er das für gestundete Schulden.«

Der Mann nickte stumm mit dem Kopf.

Sie seufzte auf: »Vielleicht können Sie sich jetzt ein Bild machen, wie ich lebe. Tatsache ist, dass mir nicht einmal so viel Geld bleibt, um mich zu kleiden wie die anderen jungen Mädchen, die einem Beruf nachgehen.«

»Und wie ein junges Mädchen in der Blüte seiner Jahre.«

»So vergehen meine Tage traurig und öde und unter einer strengen Aufsicht, die kein Erbarmen kennt, ohne jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft.«

Der Mann versuchte zu beschwichtigen: »Sie sollten nicht so schwarz für Ihr Leben sehen!«

»Auch wenn es so verläuft, wie ich es Ihnen geschildert habe?«

»Ja, auch dann!«

Darauf fragte er, und es schien fast, als spräche er zu sich selbst: »Wer kann mit Sicherheit sagen, was das Morgen birgt?« Sie hob die Schultern, und ohne auf seinen Gedanken einzugehen, klagte sie weiter: »Und plötzlich fühle ich, wie die Zeit verfliegt. Mitten in einem Leben des Verzichts und der Bitterkeit beginnt die Zeit mich zu peinigen.«

»Aber Sie haben doch das Leben noch vor sich!«

»Ich bin immerhin vierundzwanzig Jahre alt.«

»Das ist die Blüte der Jugend.«

»Ach, in meiner Lage ist das schon eine Stufe der Vergreisung.«

»Sie dürfen nicht übertreiben! Auch sind Sie nicht die einzige in unserem Lande, der es so geht. Es gibt viele ähnliche Fälle, auch wenn die Umstände und die Ursachen andere sind.«

Sie warf ihm einen rätselhaften Blick zu: »Aber ich habe Ihnen von der eigentlichen Schwierigkeit noch nichts erzählt. Etwas, was mich Tag und Nacht verfolgt. Denn an das, was ich eben erzählt habe, kann man sich gewöhnen, so wie an eine Krankheit, die man schließlich übersteht.« Der Mann hob fragend die Augenbrauen, und sie sagte: »Ich spüre meine Jugend nicht mehr nur als eine Zeit, die ungenutzt verfliegt, sondern als treibende, mehr noch: als eine überwältigende Kraft, als ein heiliges Geschenk und ein göttliches Recht.«

Der Mann blickte wie benommen in ihre leuchtenden grünen Augen, und sie fuhr hingerissen fort: »Ich fühle mich getrieben von einem Ding zum anderen, zu allen Dingen, zum Dasein insgesamt.« Dann, mit gesenktem Blick und einem Ton, der bedrückt war von Kummer und Schmerz: »Ich möchte tanzen und singen und fröhlich sein!«

Der Mann verkroch sich in sein Schweigen und presste nachdenklich die Lippen zusammen.

Sie wartete eine Weile, dann bemerkte sie: »Vielleicht hat Sie meine Offenheit überrascht!«

Er brach sein Schweigen nicht, so fuhr sie fort: »Sie haben das nicht erwartet. Dass wir anders scheinen, als wir sind, ist uns ja zur alltäglichen Gewohnheit geworden. Aber was hätte unser Gespräch für einen Sinn, wenn ich Ihnen nicht anvertraute, wie es wirklich um mich steht?«

Der Mann murmelte vorsichtig: »Ich danke Ihnen für so viel Offenheit.«

»Ich musste über das sprechen, was mich bewegt, ich hätte es anders nicht länger ertragen, aber ich musste erst jemanden finden, dem ich mich anvertrauen konnte. Sie sind mir immer wieder eingefallen. Sie sind ein ernsthafter und beliebter Mann, genießen einen guten Ruf und haben eine rühmliche Vergangenheit. Sie waren selbst dazu verurteilt, ein Opfer zu sein, und können am besten ermessen, was es heißt, Opfer auf sich nehmen zu müssen.«

»Oh, ich danke Ihnen für Ihre hohe Meinung.«

»Ich habe zwar zwei gute Freundinnen in der Verwaltung, aber ihre Ratschläge halfen mir nicht weiter.«

»Haben Sie zu ihnen so offen gesprochen wie zu mir?«

»Nein, aber ich habe sie in ernsten und wichtigen Dingen um ihre Meinung gebeten.«

»Und was haben sie Ihnen geraten?«

»Die eine konnte sich offenbar gar nicht in meine Lage versetzen.«

»Wie soll ich das verstehen? Sprechen Sie deutlicher!«

»Ich möchte jetzt darüber nicht reden.«

»Und die andere?«

»Sie ist ganz sonderbar. Sie tröstete mich damit, dass es mir nicht allein so gehe, auch wenn mir das so scheine, und dass es einen Ausweg nur gebe, wenn allen, die ein gleiches Schicksal erleiden, geholfen würde. Wir müssten unser Denken von Grund auf ändern, um eine allgemeine und umfassende Veränderung herbeizuführen.«

Er lächelte: »Ihre Meinung ist nicht neu für mich. Aber was haben Sie ihr geantwortet?«

»Wir haben uns danach nur noch kurze Zeit gesehen, denn sie wurde plötzlich verhaftet.«

»Ich weiß jetzt, wen Sie meinen. Ist es nicht unsere frühere Kollegin aus der Buchhaltung?«

»Ja, und so blieb mir niemand, an den ich mich hätte wenden können, außer Ihnen.«

Er sagte mit väterlichem Ton: »Sie sehen das alles viel zu schwarz. Sie haben vergessen, dass Sie vielleicht schon morgen oder übermorgen einen Mann kennen lernen und heiraten können.«

»Solche Männer gibt es im Überfluss.«

»Und Sie haben noch nicht gewählt?«

»Nein, es sind alles junge Beamte, die genauso gestellt sind wie ich. Entscheide ich mich für einen von ihnen, müsste ich meine Geschwister verlassen. Ganz abgesehen davon, was eine Heirat kostet und was für Probleme sie mit sich bringt.«

Der Mann ließ nicht locker: »Aber es ist doch möglich, dass eines Tages ein reicher Bräutigam auftaucht, der alle Kosten übernimmt und auch dafür sorgt, dass Sie mit Ihrem Gehalt nicht mehr für Ihre Geschwister aufzukommen brauchen.«

»Das ist ein Traum, aber kein Bräutigam.«

»Manchmal werden Träume Wirklichkeit.«

»Aber ich will nun einmal mein Leben nicht auf Träumen aufbauen. Um mich ist tödliche Leere und Hoffnungslosigkeit, aber ich brenne vor Sehnsucht nach Leben und Glück. Mit einem Wort, ich wünsche mir aus tiefstem Herzen zu tanzen, zu singen und fröhlich zu sein.«

Der Mann war wieder ratlos und schwieg, so gestand sie ihm: »Das ist meine eigentliche Schwierigkeit.«

Da er weiterhin stumm...


Walther, Wiebke
Wiebke Walther (1935-2023) studierte Orientalistik. Sie habilitierte sich 1980 zum Thema »Die Frau im Islam« und verfasste zahlreiche Publikationen zur modernen und zur klassischen arabischen Literatur. 1988 erhielt sie den Friedrich-Rückert-Preis der Stadt Schweinfurt für ihr Gesamtwerk.

Machfus, Nagib
Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.



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